Читать книгу TIERE FRESSEN MENSCHEN. - Roy Koepsell - Страница 11
ОглавлениеKAPITEL FÜNF.
Um 20.16 Uhr stellte Knut sein schnittiges Gefährt aus deutscher Automobilproduktion ab. Er parkte direkt vor dem Eingang des Hauses, in dem er eine schicke Dreizimmerwohnung gemietet hatte. Über zwei Etagen verteilt, gab es allerlei Annehmlichkeiten zu bestaunen. Ein großes Fernsehgerät, ausgestattet mit neuester Technik, stand genauso parat, wie seine sündhaft teure Musikanlage, die mit Lautsprechersäulen von über einem Meter Höhe aufwarten konnte. Der Klang dieser audiophilen Kombination zauberte ihm täglich ein Lächeln ins Gesicht. Dennoch war Knut häufg damit beschäftigt, sich über noch bessere Komponenten zu informieren, die das akustische Erlebnis in immer neue Sphären hieven sollten.
Seit geraumer Zeit interessierte er sich auch für Kunstgegenstände aller Art, insbesondere für Gemälde des deutschen Expressionismus. Eine Kulturepoche, die infolge legendärer Bewegungen wie Die Brücke und Der Blaue Reiter, heute weltweit für Ansehen und Bewunderung sorgt. Knut war zwar fnanziell nicht in der Lage, millionenschwere Bilder sein Eigen zu nennen, doch für den ein oder anderen hochwertig gerahmten Druck reichte es in jedem Falle. Zudem erfüllte ihn ein kleines Schätzchen mit üppigem Stolz. Eine auf einhundert Exemplare limitierte Lithografe eines berühmten deutschen Expressionisten hing schick drapiert vor einer blütenweißen Wohnzimmerwand. Sie war Hingucker und Augenfänger zugleich, besonders dadurch unterstrichen, dass die Grafk stilsicher in einer Berliner Leiste gerahmt war.
Knut bestieg eilig das Treppenhaus und erreichte nach zweiundzwanzig Stufen seine Eingangstür. Diese war nur simpel herangezogen, ohne dass das Schloss wirklich fest verriegelt war. Er legte seinen schiefergrauen Wollmantel ab und platzierte die, aus feinem Ziegenleder gearbeiteten, hellbraunen Budapester, punktgenau im Schuhregal.
Auch seine Krawatte musste weichen, denn schließlich benötigte er jedes Gramm Luft, das ihm Beruhigung und Freiraum verschafften konnte. Knut setzte sich auf sein lichtgraues Sofa und nahm sein Smartphone zur Hand. Bis er sich durchgerungen hatte, das Display seines Handys zu aktivieren, wurde ihm die absolute Ruhe verwehrt. Wiederkehrend waren Automobile zu hören, die die Hauptstraße vor seiner Wohnung passierten und die sich, zumindest der Lautstärke nach zu urteilen, nicht konsequent an die Geschwindigkeitsbegrenzung von dreißig Kilometern pro Stunde hielten. Der Bildschirm seines Smartphones leuchtete hell. Erneut ging eine Kurznachricht ein. Es war 20.27 Uhr und die Luft stand im Raum.
„Junge, melde dich bitte, wenn du zu Hause bist! Opi.“
Knut war sich zu hundert Prozent sicher, dass es wichtig sein musste, wenn ihm sein Opa binnen einer Stunde zwei Textnachrichten auf sein Handy schickte. Werner stand mit der neuen Technik zwar auf Kriegsfuß, hatte sich von seinem Enkel aber überzeugen lassen, dass es sinnvoll sei, auch im Garten telefonisch erreichbar zu sein. Ohne mit seinem Großvater gesprochen zu haben, wusste Knut bereits, dass seine Welt ab morgen nicht mehr jene Realität abbilden würde, die sie bis zum heutigen Abend vorgab zu sein.
„Hallo Junge, gut dass du anrufst.“
Knut hatte lange mit sich gerungen, bis er endlich die Nummer seines Großvaters wählte.
„Opi, wie gehts euch? Was ist denn los? "
Werner stockte kurz der Atem und für einen Außenstehenden musste es so gewirkt haben, als säße ein fester Kloß in seinem Hals, der sich nicht schlucken ließ, weil dieser aus unverdauten Informationen bestand.
„Junge, deiner Omi geht es nicht so gut. Sie hat wieder Probleme mit der Lunge. Seit sie mir damals im Garten umgekippt ist, wird es immer schlimmer. Deshalb hab' ich Omi vorhin ins Krankenhaus gefahren. Wenn sie hustet, klingt es wie bei Dieters Mischling, der doch immer den halben Tag unnütz bellt! "
Nachdem Werner ein schmales Lachen durch den Telefonhörer futschen ließ, musste auch Knut ein wenig schmunzeln. Die Situation entpuppte sich zwar als sehr ernst, doch wussten Großvater und Enkel in dieser Abendstunde, dass Loyalität für die beiden Männer mehr als nur ein Wort war.
„Opi, ich fahre morgen früh gleich los. Punkt sechs? Alles klar?“
Werner, der in seinem bisherigen Leben nie gern die großen Reden schwang, fühlte sich um eine Last leichter und nickte anerkennend.
„Alles klar, mein Jung'. Ras' nicht so, es ist Schnee für morgen angesagt! Und schlaf gut.“
Werner legte auf, noch bevor sein Enkel ihm eine gute Nacht wünschen konnte. Knut positionierte sein Smartphone an der Seite des Glastisches. Es hatte sich durch das kurze Gespräch spürbar erwärmt.
Aus der Kommode, die mit schickem Wildeichenfurnier veredelt wurde und bündig zum Sofa stand, holte Knut ein feines Baumwolltuch, das sein Handy von unnötigen Fingerabdrücken und Verunreinigungen befreien sollte. Auch der gläserne Couchtisch erhielt eine feine, aber sehr gründliche Säuberung. Knut legte sich auf das lichtgraue Sofa und schlief unvermittelt ein.
Die runde, hochwertig anmutende Leuchte, die direkt über dem Glastisch hing, brannte die komplette Nacht hindurch. Ein schmales Kabel, das die Stromversorgung von der Zimmerdecke bis zur Lampe gewährleistete, richtete Knut auf den Zentimeter genau aus, um eine gewisse Wechselwirkung zwischen Licht und Materie zu erreichen. Jeder Einrichtungsgegenstand zeigte eine andere Reaktion auf den spontanen Einfall von Licht. Die eichenfurnierte Kommode schluckte beispielsweise die meisten Strahlen der Beleuchtung und refektierte nur ein Minimum der auftreffenden Lichtquelle zurück. Der Glastisch haderte hingegen mit allem, was gemeinhin als massentauglich apostrophiert wird. Nicht nur, weil er auffallend fligran gearbeitet und mit einem feinen Dekor ausstaffert worden war, welches auf seine jugendstilistischen Ursprünge schließen ließ. Nein, vielmehr deshalb, weil der Tisch die Lichtstrahlen auf eine mystische Weise brach, die ohne Übertreibung als nicht von dieser Welt kommend bezeichnet werden darf. Ob das Glas eine besondere Zusammensetzung aufwies, der einer ungewöhnlichen Mischung der Grundsubstanzen (beispielsweise Quarzsand und Kalk) vorausging, lässt sich an dieser Stelle nicht abschließend beurteilen.
Erwähnt sei aber, dass Knut den speziellen Charakter seines Glastisches einzuordnen wusste und nicht müde wurde, jedem Gast zu erläutern, wie erstaunlich facettenreich das Möbelstück sei.
Als er erwachte, benötigte Knut einen Moment der Orientierung, denn er wunderte sich zu Recht, dass er nicht in seinem Bett aufwachte, wie es der Gewohnheit zufolge geschehen wäre. Draußen müsse es noch stockdunkel sein, ansonsten wäre die Lichtintensität seiner Wohnzimmerleuchte eine andere, so Knuts erste Wahrnehmung. Zunehmend realisierte er, dass er Werner vor sieben Stunden einhellig versicherte, dass er sich am heutigen Morgen ins Auto setzen und seiner Oma einen Krankenbesuch abstatten werde. Dass Knut hingegen um Punkt zwölf einen wichtigen Kundentermin auf der Agenda hatte, vergaß er in der gestrigen Gefühlslage für einige Minuten. Als Knut den Bildschirm seines Smartphones aktivierte, wurde ihm die exakte Uhrzeit angezeigt – es war 03.29 Uhr.
Er stand auf und glättete sofort das Sofa, schließlich hatte der Stoff im Zuge seiner ungewollten Übernachtung fese Falten geworfen. Auch einige Hautschuppen sammelte Knut penibel ein, indem er seinen rechten Zeigefnger befeuchtete, mithilfe dessen er die unerwünschten Partikeln entfernte und so sicherstellte, dass wieder halbwegs Ordnung eingekehrte. Knut ging zum Fenster und schaute nach draußen. Wie prognostiziert, lag ein nächtlicher Dämmerschlaf über der Stadt. Nur ein pummeliger Mann um die fünfzig nutzte den Bürgersteig in Richtung Innenstadt und kämpfte sich dabei durch eine frische Schicht aus Neuschnee. Tatsächlich war es der erste weiße Niederschlag des bevorstehenden Winters. Bald würden die Räumfahrzeuge auftauchen, dachte sich Knut insgeheim und überlegte nebenher, ob letzte Woche, im Zuge der Durchsicht seines schnittigen Sportwagens, bereits Winterräder aufgezogen worden sind. Nach kurzer Bedenkzeit fel ihm ein, dass der Werkstattleiter ihn in gesonderter Ansprache darauf hinwies, dass es höchste Zeit sei, die Reifen zu wechseln. Schließlich sei es fast Mitte Dezember und Schnee wäre bald zu erwarten. Knut nickte ohne große Widerrede und die Dienstleistung wurde anschließend fachgerecht ausgeführt.
Nachdem sich Knut einen Joghurt aus dem Kühlschrank geholt hatte, dachte er erneut darüber nach, ob er den Kundentermin heute Mittag wirklich verschieben könnte. Schließlich handelte es sich um einen Stammkunden, der nur wenig Zeit besaß und zudem eine große Filiale unterhielt, die die erlesensten Uhren der Welt in der Auslage hatte. Es ging um richtig viel Geld, vielleicht sogar in der Größenordnung eines Einfamilienhauses samt großzügigem Garten. Knut entschied sich, seinem Großvater um 06.01 Uhr eine Kurznachricht zu schicken.
„Opi, ich komme erst heute Nachmittag zu euch. Muss mittags die Reifen wechseln. Hab‘ noch die für den Sommer drauf. Gruß, Knut.“
Eine glatte Lüge, denn Knuts Sportwagen war seit einer Woche korrekt bereift und damit für den Einsatz bei winterlichen Straßenverhältnissen gerüstet. Beim Versenden der Nachricht wurde ihm übel. Nun belog er schon seinen geliebten Großvater. Doch es wäre keine ehrliche Erzählung, wenn nicht festgestellt würde, dass es Knut alles in allem wichtiger war, dass der Kundentermin planmäßig stattfndet.
Um 11.14 Uhr verließ Knut seine moderne Dreizimmerwohnung, zog die Tür hinter sich heran und überprüfte noch einmal den korrekten Sitz seiner taubenblauen Krawatte. Ohne einen Spiegel zu benötigen, ertastete er den akkuraten Knotenpunkt auf Höhe seines Kehlkopfes. An genau dieser Stelle hatte er Thilo damals im Garten erwischt. Hätte er bloß länger gedrückt, bekam er als Gedankenimpuls aus seinem zurückgezogensten Innern. Vielleicht hätte dieser Mistkerl dann seine Stimme für immer verloren.
Der zentrale Bildschirm in dem nebelgrauen Sportwagen diente seinem Fahrer als digitale Landkarte, umfassende Musikstation und als Geschwindigkeitsmesser. Eine Uhr war ebenso an Bord. Knut gab die Adresse seines Kunden ein, der eine stattliche Schmuckhandlung in der Innenstadt unterhielt. Mittlerweile waren die Räumfahrzeuge unterwegs und hatten die größten Schneemassen abtransportiert. In der Nacht und bis zum Vormittag kamen etwa fünfzehn Zentimeter des weißen Niederschlages zusammen. Knut startete per Knopfdruck den Motor und löste die Handbremse mithilfe eines Schalters. Er legte den ersten Gang ein, trat aufs Gas und bemerkte, wie die Vorderachse zu rutschen begann. Es schien ein wenig glatt zu sein, obwohl das gestreute Salz genug Zeit gehabt haben musste, um die gewünschte Wirkung zu erzielen und für griffge Verhältnisse zu sorgen. Knut war es sichtlich egal, denn er hatte Zeitdruck und wollte überpünktlich bei seinem Kunden ankommen, um sich sammeln zu können.
Verkauf sei vor allem Konzentration, so seine klare Meinung. Nichts sei wichtiger, als die Beobachtung des Gesprächspartners und die konkrete Schlussfolgerung aus den sichtbaren Zeichen, die der Kunde in Sekundenbruchteilen aussandte. Knuts Stärke lag vor allem darin, die Menschen in ihren feinen Nuancen auszulesen. Sein Gehirn war wie ein Zentralrechner angelegt, der riesige Mengen an Informationen sichtete, sortierte und anschließend passgenau zusammenfügte. Kaum etwas blieb ihm verborgen. Mithilfe gezielter, aber niemals überfüssiger Fragen, stellte er in Windeseile ein Gesamtbild seines Gesprächspartners zusammen, das von enormer Präzision war. Oft wussten die Menschen über sich selbst weniger, als Knut in einem kurzen, gemeinsamen Gespräch auslotete und treffsicher eruierte.
Als er an der Adresse des Schmuckhändlers ankam und zu seiner Verwunderung sofort einen Parkplatz fand, klingelte sein Smartphone. Knut ging zügig an den Hörer, um den Anrufer in aller Kürze abzuwürgen, schließlich wollte er sich in Ruhe auf sein Kundengespräch vorbereiten.
„Sie sprechen mit Knut Kehlbach, guten Tag!“
„Götz Rastmann am Apparat, guten Tag Herr Kehlbach.“
Knut war irritiert. Er hatte den Inhaber der Schmuckhandlung am Handy, vor dessen Geschäft er gerade verweilte.
„Einen wunderschönen guten Tag, Herr Rastmann. Ich bin gerade bei Ihnen angekommen. Wir hatten doch heute 12 Uhr ausgemacht, richtig?“
Knut wusste sofort, welche Antwort folgen würde, denn er kannte die Gepfogenheiten im Vertrieb bestens.
„Lieber Herr Kehlbach, genau deshalb rufe ich Sie an. Es ist mir sehr unangenehm, doch ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden. Ich habe mein Geschäft heute nicht geöffnet, weil es meinem siebenjährigen Sohn nicht gut geht. Er erbrach die halbe Nacht lang und benötigt heute meine Betreuung. Zwischen allem Trubel vergaß ich dann, Sie rechtzeitig zu informieren. Lassen Sie uns den Termin bitte verschieben. Ihre Unkosten, die Sie durch Sprit und Anfahrt hatten, erstatte ich Ihnen natürlich in vollem Umfang. Und ich melde mich bei Ihnen, sobald es meinem Sohn besser geht.“
Knut war innerlich wütend. Ein stückweit deshalb, weil er bereits mit der Provision geliebäugelt hatte, die das Kundengespräch in seiner Vorstellung abwerfen sollte. Doch einen Moment lang, galt es höfich zu bleiben.
„Herr Rastmann, das ist doch gar kein Problem. Ihr Sohn hat nun Vorrang. Unser Gespräch über schicke Uhren kann warten. Das Wichtigste ist an dieser Stelle, dass Ihr Junge schnell gesund wird. Alles Gute für den kleinen Mann, richten Sie ihm meine besten Grüße aus. Bis bald, Herr Rastmann.“
Knut brodelte vor sich hin. Mit zwei Fingern seiner linken Hand, tippelte er unruhig auf dem Lederlenkrad seines Sportwagens herum.
„Danke, Herr Kehlbach, die Grüße richte ich gern aus. Herzlichen Dank, dass Sie so viel Verständnis haben. Bis bald, ich melde mich wieder.“
Knut legte zügig auf und startete ohne weiteres Abwarten den Motor. Als er die Parklücke verließ, war es 11.47 Uhr. Die Sonne blinzelte mit hoher Zurückhaltung in die Fahrgastzelle seines Wagens, denn sie befand sich im offenen Gefecht mit der dichten Wolkendecke. Es wirkte eher so, als gäbe es an jenem Dezembertag noch Schnee. Ausgerichtet nach Norden, zog Knuts nebelgrauer Sportwagen davon. Es war deutlich zu spüren, welche enormen Leistungsreserven das Fahrzeug bot. Noch sechsundachtzig Kilometer, dachte ich sich Knut, als er die offene Distanz zu seinem Ziel durch das Navigationssystem übermittelt bekam.
Nur eine Stunde Fahrzeit, dann käme er im Krankenhaus an, so Knuts optimistische Sicht der Dinge. Seine Omi wartete schließlich auf ihren Enkel.
Über die menschliche Kontrolle:
Sie löst sich stets in Luft auf,
wenn das scheinbar Sichere
eine unerklärbare Wandlung erfährt und alles kippt,
was vorher einen festen Stand hatte.