Читать книгу TIERE FRESSEN MENSCHEN. - Roy Koepsell - Страница 8
ОглавлениеKAPITEL ZWEI.
Diese Uhr ist sein Heiligtum und mit absoluter Hingabe beschützt er seinen Zeitmesser – komme, was wolle.
Ende Juli 1986 muss es gewesen sein als Knut die Ruhla-Armbanduhr von seinem Großvater erhielt. Es war ein bunter Sommertag, der seine Wärme mit gekonnten Mitteln über das Land stülpte. Eine große Hitzewelle war es nicht, allerdings brachte der mäßige Südostwind weder sanfte Erfrischung noch stehende Hitze mit sich. Für Knut fühlte es sich so an, als würde Opa ihm ununterbrochen ins Gesicht pusten, um den kleinen Kratzer in seinem Antlitz schnellstmöglich zu heilen. Er war vor einigen Tagen mit seinem roten 24-Zoll-Rad gestürzt, als er einen unscheinbaren Hügel hinunterfahren wollte, der in einer fachen Grasfäche mündete. Als er bereits fast unten angekommen war, übersah Knut einen Maulwurfshaufen und fel aus satter Geschwindigkeit kommend zu Boden. Der Erdaushub bremste sein Vorderrad im Nu ein und er fog im extrahohen Bogen über den Lenker. Auf der Wiese gelandet, tastete er sich kurz ab und wusste intuitiv, dass an ihm alles in Ordnung war. Nur seine rechte Wange schien einen Kratzer abbekommen zu haben. Knut richtete sein Gefährt wieder auf und schaute mit Argusaugen, ob sein geliebter Drahtesel intakt ist. Doch bis auf etwas frischen Mutterboden, der sich überall im vorderen Bereich seines Rades fand, machte „Rot Runner“ einen unversehrten und fahrtüchtigen Eindruck.
Seine Großeltern hatten ihm das Gefährt vor etwa drei Monaten vom Flohmarkt mitgebracht – in guter Absicht, dass Knut nun endlich Fahrrad fahren üben könnte.
Er tat sich zu Anfang (gewollt) etwas schwer und am willkommensten war es ihm, wenn sein Opa ihn samt der Stützräder durch die Gegend schob. Sein Großvater war ein lieber Mensch. Ein geduldiger Unterstützer, ein loyaler Fürsprecher und ein verlässlicher Gefährte. Und er hatte Freude daran, wenn sich sein Enkel vom ihm durch die Gegend kutschieren ließ. Doch an diesem Julitag war Knut sicher im Umgang mit seinem Rad – zumindest so geübt, wie es ein Siebenjähriger mit drei Monaten Fahrpraxis sein konnte. Er lernte schnell und besaß enorme kognitive Fähigkeiten, die es ihm erleichterten, seine Umgebung passgenau einzuordnen. Dass er mit seinem „Rot Runner“ an diesem Sommertag stürzte und im Zuge dessen einfach einen etwa zwanzig Zentimeter hohen Maulwurfshügel übersah, musste andersartige Gründe haben.
Als er die vier Kilometer zum Haus seiner Großeltern zurück geradelt war, saß sein Opa auf der Terrasse und sortierte Schrauben von einem Behälter in den anderen. Als Werner bemerkte, dass Knut am unteren Ende des Gartengrundstückes auftauchte, hob er seinen Blick und spürte in Windeseile, dass irgendetwas anders war. Und siehe da, nach kurzer Musterung stellte er fest, dass Knut eine frische Wunde an seiner linken Wange hatte. Werner stütze sich auf die beiden Lehnen seines Gartenstuhls, stand auf und begab sich schnurstracks zu seinem Enkel.
„Knut, was hast du denn gemacht? Junge, komm’ mal her!“
Er begutachtete Knuts lädierte Wange, sammelte etwas Spucke auf seinem rechten Daumen und wischte das angetrocknete Blut von der Backe des Enkels. Einen feinen roten Strich ließ Werner bewusst stehen und lächelte.
„So mein Freund, nun bist du ein echter Indianer! Junge, wann bauen wir denn dein Tipi? Ich hab’ gerade meine Schrauben sortiert, damit wir die Richtigen zur Hand haben. Dass alles stabil wird und wir dein Tipi gut über den Winter bekommen.“
Werner hatte eine Art an sich, die in wenigen Worten schwerlich zu beschreiben ist. Was aber als Eindruck blieb, ist, dass er eine Warmherzigkeit in sich trug, die nicht nur dem Südostwind jener Tage Konkurrenz machte. Vielmehr wusste er mit sanfter Männlichkeit auf Knut einzugehen und war rasch in der Lage, die Stimmungslage seines Enkels zu deuten. So auch heute, nach dem Sturz über den Maulwurfshügel. Knut gab keine Antwort auf die Frage, wann der Tipi-Bau starten sollte. Er lächelte zaghaft und war innerlich mit Freude erfüllt, verlor aber keinen einzigen Satz. Er hatte in seinen frühen Kindheitsjahren gelernt, dass auf Menschenworte oft nur kleine oder keine Taten folgten. Auch wenn sein Großvater es anders handhabte und immer zu seinem Versprechen stand, lag Knuts kindliche Konditionierung gegensätzlich verortet. Dass Werner stets sein gesprochenes Wort hielt und zu barer Münze werden ließ, war für Knut überlebenswichtig.
Knut schlenderte durch den Garten und suchte nach einem geeigneten Platz für sein Tipi. Mehrfach hatte er an die sonnengeschützte Stelle unter dem Walnussbaum gedacht, doch dort war es oft feucht und überall wimmelte es von Feuerkäfern. Allerdings hätte er hier seine Ruhe und könnte mit seinem Opa zusammen einen Unterschlupf bauen, der sogar genügend Platz für seine Plüschtierbande bereitstellte. Knut war sich nicht sicher, denn es bot sich eine zweite Möglichkeit, das Tipi gut positioniert zu errichten. Auch in der Nähe seines Sandkastens gab es eine schöne Stelle, die sich als Bauplatz für das Indianerzelt anbot. Dort spielte er gern mit seinen Metallautos und plante mit großem Enthusiasmus den Stadtverkehr für sein Netz aus Hauptstraßen und Verzweigungen. Doch der Sandkasten mündete an Nachbars Garten und der Sohn des Kleingärtners bereitete Knut bei jedem Augenkontakt Angst. Nicht, dass Thilo böse Grimassen zog oder sich Knut gegenüber bis dato fes verhielt, war es ein Gefühl von Unbehagen, das sich in Knut ausbreitete, sobald er Thilo zu Gesicht bekam. Es muss an den Augen des Jungen gelegen haben, die einen mystischen Schimmer in sich trugen, der an einen See mit entgegengesetzter Tiefe erinnerte. Dazu dieser stechende Blick, der mit dem einer Dohle gleichzusetzen war. Thilo hatte eine nahezu weiße, nur mit einem Blauschimmer durchfärbte, Iris, die seinen Augen als Blende diente. Da Thilo in Knuts Parallelklasse ging und gleichaltrig war, hätte es Knut leicht fallen können, seinen Nachbarn als Spielkameraden wertzuschätzen. Fakt ist: Es war nicht einfach, einen geeigneten Standort für das Tipi auszuwählen, der Knut keine unbewussten Bauchschmerzen bereitete. „Was würde Opi dazu sagen?“, dachte er in sich hinein, als Knut eine knallgelbe Löwenzahnblüte stutzte und dabei grübelte, ob afrikanische Löwen auch so ein feines, gut duftendes Gebiss hätten.
Als Knut zu seinem Opi schritt, wusste er nichts von der Überraschung, die ihn an jenem Julitag erreichen sollte. Werner hatte sich überlegt, Knut seine Ruhla-Armbanduhr zu schenken. Diese hatte er sich mühevoll von seinem Monatsverdienst abgespart und nach jahrelanger Maloche gegönnt. Knut konnte die Uhrzeit nicht lesen.
Aber was nicht war, könne schnell werden, so Werners optimistische Einschätzung.
„Knut, komm’ mal bitte her. Ich hab’ was für dich.“
Sein Enkel schlenderte direkt in Werners Richtung und stand anschließend friedfertig vor ihm.
„Junge, diese Uhr ist aus dem Thüringer Wald. Sie ist sehr schön und zeigt zuverlässig die Zeit. Du musst sie nur jeden Tag aufziehen.“
Knut wunderte sich darüber, dass ihm sein Großvater die wertvolle Uhr zeigte.
„Ich möchte, dass sie dir gehört. Pass’ gut auf das Schmuckstück auf! Wir lernen ab morgen zusammen die Uhrzeit und wenn du die intus hast, kannst du auch was mit der Armbanduhr anfangen.“
Knut wirkte aufgewühlt. So ein tolles Geschenk hatte er noch nie bekommen. Und dann von seinem geliebten Opi.
„Bis du die Zeit gelernt hast, pack' ich die Uhr in deine kleine Holzschatulle, ja? Dort kommt sie nicht weg.“
Knut war überwältigt. Er streichelte die linke Handfäche seines Großvaters und bedankte sich innig bei ihm. Ein so lieblicher Tag muss nicht aufgeschrieben werden, um ihm Bildhaftigkeit zu verleihen. Es gab ihn wirklich.
Wo immer du dein Haus errichtest,
baue es mit ehrlichen Mitteln.
Denn die Kartenspieler sind die ersten,
die den Einsturz vermelden.