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Sierra Nevada

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Shakira und Jelena hatten ihre Reise wieder aufgenommen. Etwa fünfzehn Monde lang hatten sie sich bei ihren Freunden in den Ruinen von Barcelona aufgehalten. Lehrreiche und auch fröhliche Monde für alle Beteiligten. Der Abschied war ihnen allen schwer gefallen. Die beiden jungen Frauen hatten erstaunt feststellen können, dass auch Lebewesen zu Tränen fähig waren, die nur teilweise menschlicher Natur waren. Die Hermaphroditen von Barcelona – auch Kartouma, Moura, Zaranoa und Singan – hatten fast genau so viel mit Reptilien gemeinsam, wie mit Menschen, doch was sie letztendlich menschlich machte, waren der Sinn für Humor und das Empfinden von Trauer. Lachen und Weinen waren Fähigkeiten, die wohl nur den Menschen vorbehalten waren und deshalb durfte man die Hermaphroditen getrost zu den Menschen zählen.

Eine weitere menschliche Eigenschaft waren Treue und Loyalität. Das Versprechen der Hermaphroditen, den beiden Freundinnen, egal wo auf der Welt zu Hilfe zu kommen, wenn die Not es erforderte, war nicht einfach so dahin gesagt worden, dessen waren die Freundinnen sich sicher.

Sie hatten also Freunde gefunden, die zwar in vielen Dingen anders aussahen und anders waren als Menschen, doch den meisten Menschen hätte man gewünscht, sie wären so menschlich wie diese reptilienhaften Zwitterwesen.

Die Zeit in Barcelona war gut gewesen, aber nun war es auch wieder gut und richtig gewesen, sich auf die Reise zu begeben. Die vier großen und kräftigen Steppenpferde liefen einen gleichmäßigen Trab, der die Meilen förmlich fraß. Die beiden Reiterinnen saßen entspannt und locker in den Sätteln, beobachteten die Umgebung, unterhielten sich – oft lachend – mit einander oder schwiegen einfach und hingen ihren Gedanken nach.

Obwohl die beiden rein äußerlich einen ziemlichen Kontrast bildeten, glichen sie sich seltsamerweise als wären sie zwei Eier, die aus derselben Henne stammten.

Die eine, Shakira, war von mittlerer Größe, dabei schlank und drahtig und zudem schön wie ein Traum mit ihren langen, dunkelbraunen Locken, den tiefblauen Augen und dem sinnlichen, zum Lachen und Küssen wie geschaffenen Mund. Sie war noch nicht siebzehn Jahre alt und das Leben hatte es fast immer gut mit ihr gemeint, sah man vom Verlust ihrer leiblichen Eltern schon in frühester Kindheit ab.

Die andere, Jelena, war beinahe schon eine Riesin, dennoch waren ihre Proportionen perfekt und sie war deswegen nicht weniger schön als ihre dunkelhaarige Begleiterin. Ihr Haar war so blond, dass es beinahe weiß wirkte, lediglich ein ganz feiner Goldton überzog die langen Locken und sorgte dafür, dass jeder Betrachter sie wieder und immer wieder gerne ansah. Ihre Teint war von der Sonne zu einem golden Braun getönt, ihre hellblauen Augen blickten offen in die Welt, doch um den Mund gab es feine Spuren, die darauf hindeuteten, dass sie trotz ihrer Jugend schon schlimme Schmerzen erleben musste.

Sobald diese beiden ungleichen jungen Frauen aber vom Pferd stiegen und sich zu Fuß bewegten, wurde die Ähnlichkeit augenfällig. Dieselben sparsamen Bewegungen, die selbe, perfekt ausbalancierte, fast gleitende Art, zu gehen, die unauffällige Wachsamkeit, die unglaublich gut auf einander eingespielten Handlungen und Reaktionen auf alles was geschah, es war nicht zu übersehen, dass diese beiden Reiterinnen weitaus mehr verband, als trennte.

Sie waren seit langer Zeit gemeinsam unterwegs, mehr als zwei Jahre dauerte ihre Reise schon und die lange Zeit und die vielen Gemeinsamkeiten hatten sie zusammen geschweißt, sie teilten selbst ihre intimsten Gedanken miteinander.

Erstaunlicher Weise hatten sie beide während ihrer Zeit bei den Hermaphroditen keine Träume mehr gehabt und keine Zeichen zum Weiterreisen erhalten. Doch als die Zeichen wieder erschienen, war es bei beiden zugleich geschehen und sie waren schon beim ersten Zeichen sofort aufgebrochen und wieder nach Südwesten geritten.

Am Anfang war es eine angenehme Reise gewesen. Sie hatten zwar Shaktars Spur verloren, aber auch von dem Waran, dieser Höllenbestie sahen sie keine Spuren mehr. Stattdessen wurden sie mit anderen Problemen konfrontiert. Je näher sie Al Andalus kamen, desto häufiger trafen sie auf absolut unangenehme Zeitgenossen.

Ein Höhepunkt dieser unangenehmen Begegnungen lag erst vier Tagen zurück. Sie waren an den Mauern von Murcia vorüber geritten und hatten aus der Ferne beobachtet, wie diese gerade von einem großen Heer berannt und belagert wurden. Einem Heer, in dem Männer und Frauen kämpften, mit denen Shakira und Jelena längst nichts mehr zu tun haben wollten. Menschen aus Anglialbion, wo immer das war. Wilde Krieger, die von einem König losgeschickt worden waren, um Iberia zu erobern. Am Anfang hatten sie mit diesem Gesindel ein paar Mal Kontakt gehabt und sich immer nur Ärger eingehandelt.

Zuerst waren es stinkende Kerle in braunen und schwarzen Kuttenmänteln mit Kapuzen gewesen, die ihnen über den Weg liefen. Sie waren streng genommen die Schlimmsten von allen, denn sie waren nicht nur mental begabt, sondern auch noch religiöse Eiferer, die in ihrem Wahn keine Gnade kannten. Für diese Männer waren Frauen Menschen unterster Kategorie, am ehesten noch gleichzustellen mit dem Viehbestand eines Bauernhofs und Frauen wie Shakira und Jelena – jung, schön, stolz und unabhängig – waren diesen Spinnern ein echter Dorn im Auge. Wäre Shakira nicht in der Lage gewesen, sämtliche von diesen üblen Typen ausgehenden mentalen Angriffe abzublocken, wären sie schon längst in irgendeinem Haushalt als Sklaven gelandet. Ein paar von diesen Stinkern hatten sie umbringen müssen um nicht doch noch gefangen genommen zu werden, danach mieden sie jede Begegnung mit den Kuttenträgern.

Nicht viel besser war, was ihnen als nächstes über den Weg lief. Sie begegneten mehrfach kleineren Gruppen von Männern und Frauen, die ihre Gesichter hinter großen Masken versteckten, die verschiedenen Tierarten perfekt nachgebildet waren. Je weiter sie aber nach Südwesten wanderten, desto größer wurden die Gruppen und desto vielfältiger die Art von Masken, die sie bei diesen Gruppen antraf. Diese Tiermasken bildeten eine Art von Elite unter den Invasoren und waren samt und sondern bodenlos hochnäsig. Von ihnen stammte der Spruch:

Nur ein toter Iberer ist ein guter Iberer….

Mit der ersten Gruppe versuchten Shakira und Jelena noch friedlich zu Rande zu kommen, die zweite Gruppe von fünf Maskierten erschlugen sie nach kaum zwanzig Sätzen, die sie gewechselt hatten, danach mieden sie auch die Tiermasken wie die Pest.

Dann gab es da noch finster blickende Männer, deren Gesichter und Oberkörper über und über mit dicken, blau eingefärbten Spiralnarben überzogen waren. Diese Männer nannten sich Pikten und die Mordlust stand ihnen in die schwarzen Augen geschrieben.

Vierschrötige Kerle, die sich trotz der Hitze ausschließlich mit grauen Wolfsfellen bekleidet außerhalb ihrer Behausungen sehen ließen. Sie sprachen in einer unverständlichen Sprache und nannten sich selbst Polska – Wölfe und kaum weniger Mordlüstern als die Pikten.

Die bärenhaft wirkenden, struppigen Typen mit den gewaltigen, pechschwarzen Vollbärten kannte Jelena schon von früher, sie war zusammen mit ihrem Bruder durch deren Land Bulgar gereist und hatte keine guten Erfahrungen mit ihnen gesammelt.

Grün gekleidete Reiter auf kleinen, wendigen und anscheinend sehr starken Pferde lieferten ihnen ein mehrtägiges Rennen durch die Berge nahe der Ansiedlung Calpe. Die großen Steppenpferde hätten das Rennen wohl verloren, hätten sie nicht buchstäblich im letzten Augenblick eine ausgedehnte Graslandschaft erreicht, die sich über viele Meilen bis hinunter nach Murcia zog. Erst dort hatten sie die grünen Reiter abhängen können.

All das waren Menschen – wenn es denn Menschen waren – denen Menschlichkeit nicht nur ziemlich fremd sondern scheinbar auch noch absolut zuwider war.

Nun, da sie Murcia belagert gesehen hatten, begannen sie noch mehr zu verstehen. Von ein paar Bauern erfuhren sie, dass die Belagerer eben diese Anglialbions waren. Man ließ sie wissen, dass diese wie immer nichts anderes im Sinn hatten, als zu rauben, zu Sengen und zu Morden und dass sie sich bereits an der ganzen Küste bis hinunter nach Almeria herum trieben. Deshalb beschlossen sie, die alte Handelsstraße zu verlassen und einen Weg durch das Landesinnere zu nehmen, von dem sie gehört hatten. Dieser Weg, so sagte man, sollte eher kürzer als der Handelsweg an der Küste sein, aber auch schwieriger zu reisen. Doch viel besser war es, ein paar Tage zu verlieren, als die Freiheit oder gar das Leben.

Es war eine eigenartige Erfahrung, die sie mit diesen so genannten Anglialbions gemacht hatten. Sobald sie den beiden jungen Frauen begegneten, begannen die Fremden zu überlegen, wie sie die beiden jungen Frauen in ihre Klauen bringen konnten. Um das zu erreichen waren sie zu allem bereit und fähig. Auch dazu, sich gegenseitig umzubringen….

So bogen Shakira und Jelena also bei Murcia nach Norden ab und trafen nach zweitägigem Ritt auf einen Händler, der ihnen aus dem Norden entgegen kam. Ein schon älterer Mann mit halbwegs guten Manieren, bei dem sie nicht nur ihre Lebensmittelvorräte ergänzten, sondern auch einen Abend an seinen Wagen verbrachte und seinen Erzählungen lauschten, die er über seine Reisen in Al Andalus zum Besten gab. Der Mann wusste ungeheuer viel und gab es auch gerne an die beiden schönen Reisenden weiter.

So erfuhren sie von einer zweiten Route nach Südwesten, die an einer kleinen Kuriosität – der Ansiedlung Purullena – vorbei zu der Stadt Granada mit ihrer roten Burg führte. Von dort aus so zu verstehen. Sollten sie um den heiligen Berg, den Mulhacen herum wieder nach Osten reisen, hinunter nach Almunecar ans Meer und danach wieder an der Küste entlang bis nach Malaga. Damit würden sie die schlimmste Verseuchung mit Anglialbions und ihren Schergen umgehen. Ein Anführer dieser stinkenden Bande, ein Mann namens Thomas Shifford befehligte die Heere um Almeria herum und was diese Bande dort anrichtete, übertraf Pest, Typhus und Cholera bei weitem.

Der Händler beschrieb die Route als einfach zu reisen, lediglich der Abstieg von der Hochebene bei Gran Escuela hinunter nach Almunecar war sehr gefährlich. Alle anderen Abschnitte waren geradezu ein Kinderspiel, solange man nicht auf Anglialbions stieß.

„Aber ich schätze, diese Geier werden wir vielleicht schon bald wieder los sein. Im Süden ist ein Held aufgestanden, der ihnen wo immer er sie trifft, den Arsch versohlt und sie nach Hause schickt. Man sagt, bei Ronda habe er mehr als fünfzigtausend dieser Seuche erschlagen und bei Antequera gar mehr als achtzigtausend. Und das immer mit einem eigenen Heer das hoffnungslos unterlegen zu sein schien. Wie man hört soll er wohl jetzt gegen Malaga ziehen. Ich bin gespannt, was er dort mit diesem Gesindel aus dem kalten Atlantico anstellen wird.“

Wie immer gab es Informationen, die einer Nachfrage bedurften.

„Was ist das Kuriose an Purullena?“

„Nun, die Leute leben dort nicht in Häusern und Hütten sondern ausschließlich in Höhlen. Sie sind seit unerdenklichen Zeiten Töpfer und fertigen wundersame Dinge aus gebranntem Ton. Sie leben dort, wo sie den Ton abbauen.“

Und weshalb sprecht ihr von der roten Burg zu Granada?“

„Lasst euch überraschen. Ihr werdet es wissen, wenn ihr vorbei reitet.“

„Nun, dann sagt uns wenigstens, was ist das gefährliche am Abstieg nach Almunecar?“

Der Händler sah die beiden jungen Frauen prüfend an, dann meinte er:

„Ihr seht nicht aus, als könnte man euch für dumm verkaufen und an Geister glaubt ihr wohl auch nicht, oder? Nun, das habe ich erwartet. Aber dort werdet ihr lernen an Geister zu glauben. Ihr reist durch die Sierra Nevada, die wildeste und verrückteste Bergregion, die selbst ich auf all meinen Reisen gesehen habe. Und ich habe viel gesehen.

Der Abstieg besteht aus unglaublich steilen und ohne jede Sicherung nur aus dem Fels gehauenen Pfaden. Er führt durch eine Bergwelt, die euch die heilige Ehrfurcht eintrichtern wird und in dieser Bergwelt bekämpfen sich die Geister des Mulhacen und seines ewigen Schnees mit denen des Meeres. Ihr könnt am Morgen los reiten und habt bestes Wetter mit schier unendlicher Sicht. Doch plötzlich kommt ein kalter Wind vom Mulhacen und dann fällt Schnee, obwohl es gerade noch brütend heiß in den Felsen war. Der Schnee schmilzt natürlich sofort und dann gehen eure Pferde plötzlich über eine schmierige, glitschige Schicht und schon viele sind in die unwegsamen Schluchten dort gestürzt und wurden nie mehr gefunden.“

„Gut, wir werden also vorsichtig sein. Was versteht ihr unter Atlantico?“

„Das wisst ihr nicht? Nun, im Westen grenzt Al Andalus an ein riesiges, grünes und kaltes Meer, das wir den Oceanos oder den Atlantico nennen. Dieser Oceanos hat keine Grenzen.“

„Nun noch eine letzte Frage. Dieser sagenhafte Rebell gegen die Anglialbions, an was erkennt man ihn?“

„Nun, gesehen habe ich ihn selbst noch nicht. Aber man sagt er sei noch sehr jung, habe langes, pechschwarzes Haar und Augen von einem grün, welches einem Menschen Angst macht. Er nennt sich Shandra el Guerrero und ist zumeist in Begleitung eines blonden Riesen, dem genug Kraft nachsagt, um einem starken Stier mit bloßen Händen das Genick zu brechen.“

Die Informationen des Händlers waren unbezahlbar wertvoll. So taten die Freundinnen ihm den Gefallen und versüßten ihm die Nacht. Erstaunlicherweise hatten sie sogar selbst ihren Spaß daran, obwohl der Mann nicht mehr der Jüngsten einer war….

Shakira und Jelena benötigten einen knappen Mond, um eines Morgens von einem Bergrücken aus zum ersten Mal die Rote Burg und die Stadt Granada zu erblicken. Und dahinter das, was der Händler den heiligen Berg, den Mulhacen genannt hatte.

Sie waren durch eine Bergwildnis geritten, auf schmalen Pfaden in enge Täler und Schluchten hinab gestiegen und auf der anderen Seite wieder auf Berge geklettert, die fast bis in den Himmel zu reichen schienen. Tagelang waren sie im Dämmerlicht eines dichten Urwalds geritten, der ausschließlich aus gigantischen Pinien bestand. Unmengen von Wild waren ihnen über den Weg gelaufen und genauso gut Unmengen von jagenden Tieren. Vom Wiesel über den Vielfraß bis hin zu mächtigen Silberlöwen und riesigen Schwarzbären war alles vertreten, was vierbeinig auf die Jagd ging. Menschen dagegen trafen sie hier so gut wie nicht an. Kaum mehr als ein halbes Dutzend Jäger begegneten ihnen auf diesem Teil ihrer Reise und die sie trafen, waren im besten Fall als maulfaul zu bezeichnen. Zwei von ihnen würdigten sie nicht einmal eines Blickes, geschweige denn eines Wortes.

Nun also standen sie auf dem Bergrücken, blickten nach Südwesten und wurden mit einem grandiosen Ausblick für ihren frühen Aufbruch und den anstrengenden Aufstieg auf diese Höhe belohnt.

Den Hintergrund bildete ein wolkenlos blauer Spätsommerhimmel. Vor diesem Hintergrund ragte ein kegelförmiger Berg auf, der tatsächlich mit seiner Spitze den Himmel erreichte, denn um diese Spitze schlang sich wie eine Stola aus weißem Fell eine große, hellgraue, fast weiße Wolke. Unterhalb dieser Wolke war das zu erkennen, was der Händler als den ewigen Schnee beschrieben hatte, den Gipfelgletscher dieses Berggiganten. Von dort aus ging es hinab und hinab und erst auf etwa der Hälfte der Strecke abwärts verschwanden die Schneefelder und gingen erst in das stumpfe Grau von Geröll und Fels, dann in das Grün von Almmatten und zum Schluss in das Schwarzgrün weiterer, ausgedehnter Pinienwälder über. Vom Fuß des Mulhacen zog sich ein kleines Gebirge nach Osten und Norden und am Ende dieses Gebirges, dort wo die Felsen abrissen und steil in eine riesige Grasebene hinab stürzten, auf der letzten Zinne dieser Berge ragte ein mächtiges Gemäuer aus leuchtend rotem Stein auf, die rote Burg, die Alhambra von Granada. Zu Füßen der Burg lagen die uralte Stadt Granada und daran angrenzend die weitläufige Ansiedlung von Santa Fe und darüber hinaus, nach Westen und Norden zog sich ein hügeliges Grasland soweit das Auge reichte, bis an den Horizont und vielleicht auch noch darüber hinaus. Eine gewaltige Ebene, die – selbst von hier oben aus war das zu sehen – von riesigen Wildherden nur so wimmelte.

Ein Paradies?

Es hätte eines sein können, wären sie nicht beim Aufstieg zu diesem Bergrücken auf Spuren gestoßen, die sie ziemlich aus der Fassung brachten. Zuerst waren es Abdrücke von Mokassins gewesen, die sie auf einem schmalen Pfad entdeckten und sie beide hatten diese Abdrücke sofort erkannt. Vor wenig mehr als sechs oder sieben Tagen war Shaktar diesen Pfad entlang gekommen und kaum einen Tag später der folgte ihm riesige Waran, die mordende Bestie, die seine Spuren nun schon über weit mehr als tausend Meilen verfolgte.

Shakira und Jelena hatten sich mit einigem Entsetzen angeschaut und dann wie auf Kommando laut zu fluchen begonnen, hatten sie doch schon geglaubt dieses Biest für immer aus den Augen verloren zu haben.

Der Ausblick auf Granada, die rote Burg Alhambra und das weite Land verdrängte den Frust über das erneute Auftauchen des Warans zunächst.

Der Händler hatte ihnen erzählt, dass diese rote Burg – die Alhambra - schon weit über fünftausend Jahre alt war und noch niemals erobert werden konnte. Erbaut worden war sie angeblich von den Vorfahren der grün bekleideten Reiter in Diensten der Anglialbions, der Mauren.

Auf der Burg lebte ein Gräfin Sybila, die nicht nur über die Burg sondern auch über die beiden großen Ansiedlungen Granada und Santa Fe und über das gesamte Land im Umkreis von etwa fünf Tagesreisen herrschte. Man sagte von ihr, sie wäre – obwohl sie mächtige Zauberkräfte besitze – eine freundliche, ja sogar fröhliche und den Menschen zugetane Herrscherin, ziemlich gerecht und selten von schlechter Laune. Auch das Führen von Kriegen lag ihr wenig am Herzen, so dass sie ihr Volk nur mit wenig Steuern belasten musste. Dies wiederum förderte den Wohlstand und die Zufriedenheit im Volk erheblich.

War es da ein Wunder, dass der Eroberer von Almeria, dieser Thomas Shifford im Auftrag seines so genannten heiligen König Edward Granada und die rote Burg als nächstes Ziel anvisierte, sobald er Almeria halbwegs befriedet hatte?

Shakira und Jelena legten auf dem Bergrücken eine längere Pause ein, nicht etwa weil sie müde waren, sondern einfach deshalb, weil sie diesen umwerfenden Ausblick noch eine Weile genießen wollten.

Sie hatten einen wunderbaren Rastplatz gefunden. Im Schatten einer mächtigen Pinie gab es einen kleinen Teich, der von einer Quelle gespeist wurde. Ihre Pferde hatten sie abgesattelt und das Gepäck als Ruhekissen und Sitzbank hergerichtet. Die Pferde taten sich am fetten, grünen Gras gütlich und insgesamt war alles recht entspannt.

Sie unterhielten sich – wie so oft – über ihre Ziele und fragten sich, wie weit sie denn noch davon entfernt sein mochten, die Menschen zu treffen, die ihnen das Schicksal zugedacht hatte. Sie unterhielten sich auch über die Vergangenheit, über ihre lange, gemeinsame Reise und – besonders gerne - über die Zeit bei den Hermaphroditen. Der Händler, der ihnen bei Murcia so erschöpfende Auskünfte erteilt hatte, fand ebenfalls mal wieder eine Erwähnung und die beiden waren so sehr in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie tatsächlich die Beobachtung ihrer Umgebung vernachlässigten. So schien es jedenfalls, denn sie bemerkten offenbar nicht, dass sie aus einem Eibengebüsch heraus von einem paar gierig blickender wasserblauer Augen und drei paar ebenso gierig stierender dunklen Augen fixiert und von weit aufgesperrten Ohren belauscht wurden.

Wie meist sprachen die beiden Romain und diese Sprache war fast jedem, der in Iberia reiste so geläufig wie die eigene, die Muttersprache.

Shakira und Jelena besprachen ihre nächsten Tagesetappen und waren sich darüber einig, dass sie sich eines nicht entgehen lassen wollten:

Sie beabsichtigten einen Umweg zu reiten um heraus zu finden, wie weit sie wohl den Mulhacen hinauf klettern konnten und welche Aussicht sie von dort haben würden. Da sie nicht wussten, was sie unterwegs erwartete, wollten sie noch ein wenig ausruhen, um danach umso zügiger voran zu kommen.

Um die Erholung an diesem stillen und idyllischen Ort auch vollkommen zu machen, beschlossen sie in dem klaren Wasser des Teichs ein Bad zu nehmen, sich die Haare zu waschen und so auch noch ordentlich auszusehen, wenn sie, was bei der Größe von Granada zu erwarten war, auf Menschen treffen sollten.

Bald darauf planschten die beiden jungen und so schönen Frauen vergnügt im klaren Wasser des Teichs, tauchten wie die Nixen und dann, als sie im sonnigen Teil des Teichufers Seifenkraut fanden, wuschen sie sich gegenseitig die langen Haare. Als sie danach aus dem Wasser stiegen, sich in der Sonne aalten und trocknen ließen, boten sie einen derart schönen und aufreizenden Anblick, dass selbst der älteste Hirsch im Revier noch ins Grübeln gekommen wäre.

Doch wie alles Schöne im Leben musste auch diese Rast zu Ende gehen und noch lange bevor die Sonne ihren Höchststand erreichte, saßen sie auf ihren Pferden und trabten nach Südwesten, dem Fuß des Mulhacen entgegen. Sie waren kaum in den nach unten führenden Pfad eingebogen und von der Anhöhe verschwunden, als vier Männer aus dem Eibengebüsch taumelten und sich – anders kann man es nicht sagen – wie die Idioten gebärdeten. Der Grund dafür war einfach, sie hatten die ganze Zeit mit nackten Füßen in einem Ameisenhaufen gestanden und die großen, schwarzroten Waldameisen fanden das ganz und gar nicht lustig, sie schickten ihre Soldaten um die Eindringlinge zu vertreiben.

Ameisenbisse und die Säure, die diese kleinen Tierchen in die Bisswunden spritzen können äußerst unangenehm sein, aber umgebracht haben sie noch kaum jemanden. So hatten die vier seltsamen Gestalten zwar so rote Füße, dass die Farbe sogar durch die Dreckschicht auf diesen Füßen erkennbar war, doch wirkliche Schädigungen hatten sie nicht davon getragen. Trotzdem fluchten sie auf die beiden Weiber, die wahre Teufelinnen sein mussten, denn nur solche benahmen sich so schamlos wie es diese beiden getan hatten und sie beschworen sich gegenseitig, alles zu tun um diese Weiber einzuholen und sie in den rechten Glauben und zu wahren Zucht und Ordnung zu überführen.

Einer der vier trug eine braune Kutte, die drei anderen waren schwarz gekleidet und alle vier waren unsagbar schmutzig und stanken zehn Meilen gegen den Wind. Verkünder, Prediger Chrianos und Spione der Anglialbions waren bis in die Berge vor Granada vorgedrungen und signalisierten damit, dass es nicht mehr weit bis zu Thomas Shiffords Angriff sein konnte.

Für diesen Tag aber war der Spionageauftrag für die vier Stinktiere vergessen. In Windeseile machten sie sich an die Verfolgung der beiden Reiterinnen und, obwohl sie zu Fuß waren, verloren den Anschluss in dem unwegsamen und schwierigen Gelände den ganzen Tag nicht. Sie lagerten in der Nacht in sicherer Entfernung vom Feuer der beiden Reiterinnen und am nächsten Morgen waren die vier schon lange vor Sonnenuntergang auf, umgingen das Lager der beiden Frauen, schlugen einen weiten Bogen und legten sich in einer engen Schlucht auf die Lauer. Diese Schlucht stellte den einzigen, mit Pferden nutzbaren Zugang zum Mulhacen dar, die Reiterinnen mussten also diesen Weg benutzen.

Ganz still lagen sie hinter ihren Felsen versteckt und warteten auf den Hufschlag von vier Pferden, der die Ankunft ihrer vermeintlichen Beute ankündigte. Alle ihre Sinne waren auf den Weg voraus gerichtet, so bemerkten sie nicht, dass sie längst selbst zu Beute geworden waren. Sie registrierten die großen gelben Augen mit den schmalen, senkrecht stehenden Pupillen nicht, die sie mit gefühlloser Kälte seit geraumer Zeit beobachteten. Sie hörten nicht das leise Rascheln der krallenbewehrten Füße im dürren Gras, selbst den ätzenden Gestand, der plötzlich von einem wechselnden Wind von hinten an sie heran getragen wurde, nahmen sie nicht als störend zur Kenntnis. Sie glaubten vermutlich, es handle sich um ihren eigenen Gestank. Erst als sie ein tiefes, schnüffelndes Geräusch hinter sich hörten und als einer der schwarz gekleideten plötzlich eine lange, schwarze und weit hinein gespaltene Zunge zwischen seinen Füßen herum zucken sah, begriffen die vier, dass sich etwas weitaus schlimmeres, als sie selbst es waren, hinter ihnen befand.

Die Hölle kam über sie und verschlang sie, noch ehe sie begriffen hatten von welcher Art ihr Tod war.

Shakira und Jelena schlichen aus der Felsgruppe gut dreißig Schritt oberhalb des Todesortes der vier Spione weg und huschten lautlos und unbemerkt an der Bestie vorbei, die sich an den vier toten und im Tod noch mehr stinkenden Anglialbions den Wanst vollschlug.

Als sie wieder auf ihren Pferden saßen und nach Norden ritten, um wieder auf den Weg zu kommen, der sie hinunter nach Almunecar führen musste, meinte Shakira zu Jelena:

„Der Berg der Götter. Er trägt seinen Namen nicht zu unrecht. Für uns war er heute tatsächlich ein Geschenk der Götter. Hoffen wir, dass es so bleibt. Aber es ist doch erstaunlich, dass unser vierbeiniger Freund ebenfalls den Weg bis hier her gefunden hat.“

Jelena schnaufte erbittert und raunzte ihre Freundin an:

„Nenn diese Bestie bloß nicht unseren Freund. Er hat meinen Bruder ermordet und bei uns war er auch schon dicht davor. Aber wie hast du gewusst, dass er in der Nähe war?“

„Ich kenne sein Gehirn ziemlich gut, seit er uns damals in den Ruinen von Barcelona verfolgt hat. Dadurch wurde ich rechtzeitig gewarnt, als er plötzlich auf unserer Spur auftauchte und da passte es ja nicht schlecht, dass die vier komischen Lüstlinge sich für uns geopfert haben. Hast du eigentlich bemerkt, dass einer der vier versucht hat, uns mental zu attackieren?“

Jelena schüttelte den Kopf, sie hatte nichts bemerkt. Stattdessen machte sie sich Gedanken darüber, wieso Shaktar nun plötzlich wieder so nahe vor ihnen sein konnte, wo sie doch eine so lange Reisepause eingelegt hatten.

Was immer in dieser Zeit geschehen war, jetzt war die alte Situation wieder hergestellt und schon drei Tage später wurden sie auch wieder mit den überfallenen Dörfern, den zerstörten Hütten und vergifteten Menschen konfrontiert. Die Menschen in diesem Land hatten forthin unter zwei Drachen zu leiden, denn die Anglialbions tauchten ebenfalls immer häufiger auf und gemeinsam mit dem Waran sorgten sie für reichlich Zerstörung im Land.

War es da ein Wunder, dass die Legende vom Todesboten, der Höllenbestie und den Todesengeln neue Nahrung bekam und wieder auflebte?

Doch was hatten die Menschen von Al Andalus denn verbrochen, dass sie vom Schicksal gleich mit zwei schlimmen Ereignissen bestraft wurden?

Shandra el Guerrero

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