Читать книгу Der Weltkrieg in den Lüften - Rudolf Martin - Страница 4
Der neue Kanzler.
Оглавление„Wir sind gleich da. Das ist der Wannsee“, sagte ein kleiner, untersetzter Herr mit Schnurrbart zu dem neben ihm stehenden, glattrasierten, hageren Amerikaner, der schweigend, aber aufmerksam das Gelände zu seinen Füßen betrachtete. Die beiden standen vorn auf der Plattform des Aluminiumluftschiffes „Kronprinzessin Cäcilie“, welches unter allen Motorluftschiffen der „Internationalen Luftlinie“ in Berlin das schnellste war.
Die „Kronprinzessin Cäcilie“ war um 9 Uhr vormittags in Paris abgefahren. Fahrplanmäßig näherte sie sich gegen 5 Uhr nachmittags dem großen Luftschiffhafen am Wannsee bei Berlin. Unter den Mitfahrenden war wohl niemand, der nicht ab und zu einen Blick nach dem Amerikaner hinüberwarf. Besonders die Damen konnten es nicht unterlassen, immer wieder aufs Neue über die vordere Plattform zu gehen, von wo aus der Amerikaner sich Deutschland ansah. Er schien es gar nicht zu merken, dass er seit 9 Stunden der Mittelpunkt des Interesses seiner Umgebung war. Nur der Monarch eines großen Reiches kann derartig gegen die Aufmerksamkeiten seiner Mitmenschen abgestumpft sein.
Und in der Tat, er war ein Herrscher, aber ein Herrscher im Reiche der Luft. Der 47jährige Amerikaner war niemand anders als Wilbur Wright. Der Herr neben ihm war sein Associé Hart O. Berg. So schweigsam der Amerikaner, so gesprächig war der Franzose. Der Pariser Finanzmann Hart O. Berg überbot sich heute in gelungenen Witzen. Er hatte seinen guten Tag oder vielleicht ein sehr gutes Geschäft in Aussicht.
Niemand anders als der Geheime Kommerzienrat J. Löwe in Berlin hatte in der vergangenen Nacht durch wiederholte drahtlose Telegramme seinen Freund Hart O. Berg ersucht, mit Wilbur Wright persönlich nach Berlin zu kommen, um hier mit der Regierung Geschäfte von dem größten Umfange abzuschließen. Allerdings hatte der vorsichtige Berliner Großindustrielle betont, dass die Anregung zu dem Geschäft nicht von dem Reichskanzler oder einem verantwortlichen Mitgliede des preußischen Staatsministeriums ausginge. Auf Nachfrage Bergs hatte Löwe in einem chiffrierten Telegramm dargelegt, dass in Berlin große politische Veränderungen und der Sturz des Kanzlers vor der Tür seien. Er sei aber sicher, dass der neue Kanzler und der Generalstabschef die ihm vertraulich gegebenen Versprechungen halten würden, da sie mit aller Macht die kriegerischen Rüstungen betreiben würden.
Das Luftschiff hatte schon Potsdam in der Richtung auf Berlin überflogen und segelte in einer Höhe von 600 Metern ziemlich direkt über der Pfaueninsel, als plötzlich eine allgemeine Bewegung auf dem Luftschiff entstand. Von allen Seiten drängten sich die Fahrgäste nach der großen schwarzen Tafel in der Mitte des Luftschiffs, wo schon das zwanzigste Mal während der neunstündigen Fahrt die neuesten drahtlosen Telegramme angeschlagen wurden.
Einer der Nächststehenden, ein blonder deutscher Student, der in Paris sich zum Studium der Sprache aufgehalten hatte, las das Telegramm laut den Umstehenden vor:
Berlin, den 4. November 1915, 4 Uhr nachm. Der Kaiser hat das Entlassungsgesuch des Reichskanzlers Fürsten von Rochow angenommen und den Reichstags- und Landtagsabgeordneten Emil Schammer zum Reichskanzler, Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums und Minister der Auswärtigen Angelegenheiten ernannt.
„Das bedeutet Krieg“ rief ein jüngerer Herr, dem man den preußischen Gardeoffizier trotz seines Zivils sofort ansah. Kreidebleich sah sich ein jüdischer Börsenmann ans dem Berliner Tiergartenviertel nach dem Sprecher um. „Kennen Sie ihn?“ fragte er den Offizier. Dieser tat, als wenn er die Frage überhört hätte, aber mit leiser Stimme sagte er im Fortgehen zu zwei Freunden: „Jetzt wird Marokko und die Türkei aufgeteilt“
In größter Erregung gestikulierten einige Herren, deren äußeres auf starke Börseninteressen schließen ließ. „Das entsetzliche Fallen der Kurse seit 2 Uhr nachmittags ließ mich das Schlimmste ahnen“, meinte der eine.
„Wo bleiben die Schlusskurse der Berliner Börse?“ rief man von mehreren Seiten dem Telegraphenbeamten der Internationalen Luftlinie zu. Dieser antwortete:
„Solange ich mit diesem Luftschiff gegen 5 Uhr am Wannsee eintreffe, ist es das erste Mal, dass die 3 Uhr-Kurse der Ultimopapiere ausgeblieben sind. Auf meine telefonische Anfrage bei der Telegraphenstation der Börse erhielt ich die Nachricht: „hier ist Panik, wir haben keine Zeit“ Wilbur Wright lehnte noch immer über der Brüstung der Spitze des Luftschiffs. Niemand merkte ihm irgendein Interesse für die Vorgänge an, welche Damen wie Herren auf das Äußerste bewegten. Nur ab und zu nickte er mit dem Kopfe, wenn sein amerikanischer Privatsekretär ihm den Inhalt der Depeschen und Gespräche berichtete. Sein Associé Hart O. Berg aber war im eifrigsten Gespräche mit einigen Mitgliedern der Berliner Haute Finance und einem Direktor der „Internationalen Luftlinie“, der sich zufällig auf dem Luftschiffe befand. „Wie beurteilen Sie die Situation?“ fragte Hart O. Berg den Freiherrn von Gemmingen, welcher die Zeppelinschen Interessen als Mitglied des Direktoriums der Internationalen Luftlinie wahrnahm.
„Ich glaube, Sie sind länger und besser mit dem neuen Reichskanzler bekannt, als ich“, erwiderte Freiherr von Gemmingen. „Bei seiner Vorliebe für die Drachenflieger der Gebr. Wright werden Sie jedenfalls über seine politischen Ansichten besser informiert sein, als ich oder mein Onkel, der Graf Zeppelin. Aber soweit wir in Deutschland den neuen Kanzler aus seinen Reden und Schriften kennen, wird er sich weder von Frankreich noch von Russland, noch von England, noch von einer Koalition aller Mächte gegen Deutschlands irgendetwas bieten lassen, was mit der Ehre Deutschlands unverträglich ist. Die kränkende Anfrage, welche gemeinsam die Botschafter von Russland, Frankreich und England heute Morgen wegen des Kaiserinterviews in der „Times“ dem deutschen Staatssekretär des Auswärtigen vorlegten, dürfte in der gebührenden Weise beantwortet werden.“
„Es wird in Preußen nicht so schnell geschossen“, meinte Hart O. Berg lachend. „Ich glaubte nicht an einen Krieg“.
Freiherr von Gemmingen zuckte die Achseln und schwieg.
Während das Luftschiff langsam und sicher sich in der Richtung auf dem Luftschiffhafen herabließ, nahm die Spannung der Fahrgäste beständig zu. Aus einer Höhe von 300 Metern sah man mit bloßem Auge, wie gegenüber auf den langen, breiten Galerien der gewaltigen Motorballonhallen die Berliner Zeitungsjungen die Extrablätter ausriefen. Jetzt hörte man auf dem Luftschiff durch Funkenspruch Näheres. Der Kronprinz hatte am Abend zuvor im Auftrage des Kaisers eine längere Unterredung mit dem Reichstagsabgeordneten Schammer, zu dem er als eifriger Aeronaut seit längerer Zeit Beziehungen unterhielt. Um 2 Uhr nachts hatte der Kronprinz seinem Vater über den Stand der Angelegenheit Vortrag gehalten, und am Morgen um 9 Uhr war ein Generaladjutant bei dem Reichskanzler Fürsten von Rochow erschienen, um ihm den Befehl des Kaisers zur sofortigen Einreichung des Abschiedsgesuches zu überbringen. Den ganzen Vormittag bis tief in den Nachmittag hinein hatte der Kaiser eine Unterhaltung mit dem neuen Reichskanzler über die innere und äußere Politik.
„Hoffentlich bestätigt sich nicht diese Depesche aus dem Extrablatt der Täglichen Rundschau von nachmittags 4 Uhr“, sagte Hart O. Berg, als er mit dem Depeschenzettel der Luftlinie wieder zu Wilbur Wright trat. „Nach dieser Depesche hat an dem Frühstück bei dem Kaiser im Neuen Palais niemand außer dem Generalstabschef Graf Moltke neben dem neuen Reichskanzler beigewohnt. In militärischen Kreisen vermutet man nach dem Gewährsmann der Täglichen Rundschau, dass der Kaiser mit dem neuen Reichskanzler und der Generalstabschef die Frage der Landes-Verteidigung eingehend erörtert habe. In diesem Falle wäre es Essig mit unserm ganzen großen Geschäft; wenn nicht wenigstens noch einen Monat hindurch der Friede erhalten bleibt, können wir aus unseren Fabriken in Amerika, England und Russland keine erhebliche Lieferung von Drachenfliegern an die deutsche Regierung machen. Aus Frankreich möchte ich schon heute nichts mehr ausführen“
Wilbur Wright sah sehr nachdenklich seinem Associé in die Augen. „Soweit ich den Herrn Schammer kenne, wird er nicht losschlagen“ bevor die deutsche Kriegsrüstung eine vollendete ist und über hunderttausend Drachenflieger meiner neuesten Konstruktion verfügt. Aber er ist ein Mann, von dem ich Ihnen schon vor Jahren gesagt habe, dass er schwer, zu beurteilen ist. Wir wissen auch nicht ganz genau, wieviel Drachenflieger unser Freund Löwe in den letzten Monaten für die deutsche Regierung nach unserm System gebaut hat. Es fiel mir vor drei Monaten auf, dass die deutsche Regierung mir eine Entschädigung von 10 Millionen Mark für das Recht gewährte, von meiner neuesten Konstruktion Modell Frühjahr 1915 unbeschränkt viel Drachenflieger herstellen zu können. Die deutsche Regierung würde diese Summe niemals ohne besonderes Gesetz durch einen einzigen Scheck gezahlt haben, wenn nicht eine Gruppe von Reichstagsführern auf Veranlassung des Reichstagsabgeordneten Schammer ausdrücklich die Genehmigung erteilt hätte. Ich war damals Anfang Juli dieses Jahres, mit dem Reichstagsabgeordneten Schammer und dem Generalstabschef bei dem Kronprinzen im Marmorpalais abends zum Diner eingeladen. Wenn der Krieg so unmittelbar bevorstünde, Mister Berg, würde doch Ihr Freund Löwe uns nicht mehr nach Berlin geladen haben.“
Wir wollen das Beste hoffen“, sagte Berg.“ „Übrigens sehe ich schon dort neben dem Hauptportal des weißen Luftschiffhafens mit dem roten Stern, wo wir augenscheinlich landen, das Löwesche Automobil. Jetzt sehe ich ihn selbst.“
Wegen des stürmischen Novemberwetters landeten am 4. November 1915 die von Westen kommenden Aluminiumluftschiffe sämtlich auf dem Wasser nahe vor den in das Wasser hineingebauten riesenhaften Luftschiffhäfen. Die dadurch eintretende Verzögerung des Aussteigens betrug noch nicht eine halbe Minute. In einem Augenblick wurde das Aluminiumluftschiff an zehn verschiedenen Stellen von mächtigen Tauen aus Eisenstahl erfasst und durch eine Maschinerie mit großer Schnelligkeit in die Halle eingezogen. Der ganze Vorgang ähnelte sehr dem Einlaufen eines Schnellzuges in die Bahnhofshalle der Endstation. Auf jeder Seite des 250 Meter langen Aluminiumluftschiffes waren nicht weniger als 20 Falltüren zum Aussteigen angebracht.
Die Ankunft des weltberühmten Wilbur Wright war durch Funkenspruch längst in Berlin und auch im Luftschiffhafen bekannt geworden. Mehr als hundert Personen drängten nach der Brücke hin, wo der Geheime Kommerzienrat Löwe zum Empfange seines berühmten Gastes bereit stand. Die Polizei des Luftschiffhafens hatte Mühe, die Ordnung aufrecht zu erhalten.
Hart O. Berg sprang zuerst über die Brücke, um Löwe zu begrüßen.
„Sage mir kurz“, flüsterte Berg seinem Berliner Freunde zu, „gibt es Krieg oder nicht?“
„Gestern war ich überzeugt, dass Schammer als Reichskanzler noch mindestens ein halbes Jahr als kluger Mann den Frieden wahren würde. Sonst hätte ich Euch nicht die Mühe der Reise gemacht. Im Übrigen wollen wir uns nachher im Automobil über die Lage unterhalten.“
Während die Diener des Amerikaners und Franzosen das umfangreiche Gepäck in die Löweschen Gepäckautomobile verluden, sauste auf der sogenannten Luftschiffstraße das Löwesche Automobil direkt von dem Luftschiffhafen nach Berlin.
„Ich muss schon jetzt um Verzeihung bitten für den Fall, dass ich die Herren vergeblich von Paris nach Berlin gebeten haben sollte. Noch glaube ich nicht, dass es zum Kriege kommt, aber es ist auch nicht ganz ausgeschlossen. Der neue Reichskanzler ließ mich um ½ 4 Uhr, als er eben von der Kaiserlichen Frühstückstafel kam, zu sich bitten.“
„Sie kennen die politische Situation, Herr Geheimrat“, sagte mir der neue Reichskanzler. „Sagen Sie den Herren Wright und Berg, dass ich es nicht gegenwärtig zum Kriege treiben will. Ich werde vielmehr versuchen, auf irgendeine Weise aus der schwierigen Situation herauszukommen. Mein Bestreben, den Frieden aufrecht zu erhalten, würde aber sehr erleichtert werden, wenn Sie mir alle verfügbaren alten und neuen Drachenflieger des Auslandes einschließlich der Verkehrslinien mit Drachenfliegern verkaufen würden Eine schnelle Neuerwerbung von etwa 10 000 Drachenfliegern würde das militärische Prestige Deutschlands erhöhen und den Krieg verhüten Ich weiß, sagte er weiter, „dass die Gebr. Wright in ihren Fabriken in Frankreich, England, Belgien, Holland, Schweden und Russland insgesamt etwa 5000 neue Drachenflieger auf Lager haben. Dazu kommen 5000 Drachenflieger solcher Verkehrsluftlinien im Auslande, welche Sie uns sofort verkaufen können“
Wilbur Wright nickte mit dem Kopfe. In englischer Sprache erwiderte er: „Wenn die deutsche Regierung uns sofort bar einen entsprechenden Preis bezahlt, habe ich keine Bedenken, das Geschäft zu machen“
Als Mr. Wrigt und Berg am Abend bei Herrn Löwe dinierten, lief gegen 9 Uhr die Nachricht ein, dass eine friedliche Auffassung allgemein die Oberhand gewinne. Der neue Reichskanzler hatte um ½ 6 Uhr abends im Reichstag das Wort ergriffen und die gesamte auswärtige Politik einer eingehenden Erörterung unterzogen. Nach seiner Darstellung war die Veröffentlichung der Unterredungen, welche eine hervorragende englische Persönlichkeit mit dem Deutschen Kaiser gehabt hatte, in der Londoner „Times“ nur die Folge einer Verkettung von Zufällen. Der bisherige Reichskanzler Fürst von Rochow hatte das unleserlich geschriebene, ihm auf Befehl des Kaisers vorgelegte Schriftstück des Engländers nicht lesen können, da er durch Geschäfte überarbeitet war. Er hatte das verhängnisvolle Schriftstück dem Auswärtigen Amte zugeschrieben, welches in demselben nichts Bedenkliches finden konnte. So war das verhängnisvolle Schriftstück mit der Genehmigung des Kanzlers und des Kaisers an den Verfasser zurückgelangt und in der „Times“ erschienen.
Nachdem der verabschiedete Reichskanzler die Richtigkeit der in dem Schriftstück behaupteten Äußerungen des Kaisers in den letzten Tagen bereits zugegeben hatte, bemühte sich auch der neue Reichskanzler nicht, diese schwerwiegenden Tatsachen in Abrede zu stellen.
Er gab vor dem versammelten Reichstag zu, dass der Kaiser ein Bündnis mit England schließen und auf intimere Beziehungen zu Russland und Frankreich verzichten wollte.
Der neue Kanzler bestritt aber, dass irgendetwas in den Kaiserlichen Äußerungen enthalten sei, was England verletzen könne. Deutschland werde die kürzlich geschlossenen Verträge über Marokko und die Türkei getreulich halten.
Der Kaiser habe niemals gesagt, dass er sich im gegebenen Augenblicke über diese Verträge hinwegsetzen werde. Wenn die englische Persönlichkeit, welche die Unterredung mit dem Kaiser hatte, dies behaupte, so beruhe diese falsche Auffassung auf einem Missverständnis. Der gewesene Kanzler habe in der Aufregung der letzten Tage es versäumt, diesen Punkt zu berichtigen. Der Kanzler schloss seine Rede mit warmer Betonung der Überzeugung, dass der Friede erhalten bleiben werde.
Am nächsten Tage gingen die Börsenkurse wesentlich in die Höhe, und das am Tag zuvor fast erstarrte geschäftliche Leben blühte wieder auf. Die Zeitungen berichteten, dass der neue Kanzler die Botschafter Frankreichs, Russlands und Englands mit besonderer Freundlichkeit empfangen habe. Eine Erklärung auf die Anfrage der drei Botschafter über die Äußerung des Kaisers lehnte er unter Hinweis auf seine gestrige Reichstagsrede ab.