Читать книгу Der Weltkrieg in den Lüften - Rudolf Martin - Страница 5
In Friedrichshafen.
ОглавлениеAls am Abend des 4. November die Berliner Extrablätter der Welt verkündeten, dass der Reichskanzler zur Aufrechterhaltung des Friedens um jeden Preis entschlossen sei, hatte gegen 9 Uhr abends Graf Zeppelin die gesamte Arbeiterschaft seiner riesenhaften Werftanlagen nach Beendigung der Tagesarbeit nochmals in die Fabriken rufen lassen. In der großen Mittelhalle der Werft, die eine Länge von 500 Meter hat, versammelten sich die tausend Mitarbeiter des berühmten Generals und Luftadmirals. In sechs Reihen standen sie in einem Karree und harrten mit Spannung der Dinge, die da kommen sollten.
In dem weiten Anbau eine Treppe hoch war das Hauptbüro des alten Grafen. Hier wurde heut fieberhaft gearbeitet. Alle Konstrukteure und Zeichner waren in Tätigkeit. In dem Arbeitszimmer des Grafen waren die Direktoren Kolzmann und Dürr und die Ingenieure Kober und Stahl. Der 78jährige Graf war immer so rüstig wie zur Zeit seiner großen Erfolge im Jahre 1908. Wer ihn aber scharf beobachtete, der konnte bemerken, dass heut seine Erregung größer war als damals, wo die Explosion von Echterdingen die Hoffnung und den Stolz seines Lebens zu zerstören schien.
Als man dem Grafen meldete, dass die Arbeiter versammelt seien, fragte der Graf noch einmal den Direktor Dürre: „Glauben Sie wirklich, dass tausend Arbeiter reinen Mund halten können?“
Dürr antwortete: „Ich kenne jeden einzelnen, und ich zweifele nicht daran, dass Euere Exzellenz sich auf die Verschwiegenheit jedes einzelnen verlassen können. Auch bleibt uns nichts übrig, wir müssen ihnen den wirklichen Sachverhalt mitteilen. Sonst plaudern sie die Ursache ihrer nächtlichen Beschäftigung aus, und morgen steht es in allen Blättern“
Als der Graf mit seinen Ingenieuren in das Karree eintrat kommandierte er mit lauter Stimme: „Stillgestanden!“
Wohl noch niemals hat der Leiter eines großen industriellen Unternehmens einer Arbeiterschaft von 1000 Mann in kommandierendem Tone ein „Stillgestanden“ zugerufen. Die Zeppelinschen Arbeiter wussten auch nicht, ob sie gegen die Gewohnheit aller Fabriken zum Stillstehen verpflichtet seien. Aber sie standen still wie von Erz gegossen. Ein jeder von ihnen war Soldat gewesen. Und dem Befehl des eigenen Monarchen würden sie nicht pünktlicher nachgekommen sein als dem Befehle ihres berühmten Luftadmirals.
„Wenn ich Euch Soldaten „Stillgestanden“ kommandiere, so tue ich es auf Grund von § 3 des Mobilmachungsgesetzes vom 6. Januar 1912. Mit diesem meinem Kommando hat für Euch, die Angehörigen meines Etablissements, die Mobilmachung auf Befehl seiner Majestät des Kaisers begonnen. Ich habe Euch die Mittelung zu machen, dass mein Etablissement von heut Abend 8 Uhr an sich in dem Zustande der Kriegsmobilmachung befindet Ich habe es nicht nötig, Euch darauf aufmerksam zu machen, welche schweren Strafen nach dem Militärgesetz auf Ungehorsam stehen. Ich muss Euch aber darauf hinweisen, dass Ihr mit denselben schweren Strafen bedroht seid, wenn Ihr die Pflicht der Geheimhaltung verletzt.
Geheim muss aber bleiben die Tatsache der Mobilmachung und ebenso die Art Eurer Beschäftigung in der Fabrik. Die Hälfte von Euch wird von heut ab eine Nachtschicht bis auf weiteres. abzuleisten haben. Wenn Ihr nach der Ursache der Nachtschicht gefragt werdet, so verweist auf die Erklärung, welche morgen früh im Friedrichshafener Seeblatt stehen wird. Sie besagt, dass ich den Auftrag für den schleimigen Bau von sechs Luxusluftschiffen der Internationalen Luftlinien Berlin—Peking erhalten habe, und dass diese Schiffe am 1. Januar bereits ihre Probefahrt bis Peking zurückgelegt haben müssen. Das Nähere werden Euch die Werkmeister mitteilen, die von heute ab Eure militärischen Vorgesetzten sind.“
Nur die Hälfte der Arbeiter durfte nunmehr nach Hause gehen, die andere Hälfte trat ihre Nachtschicht an, um am Morgen um 6 Uhr abgelöst zu werden. Die meisten Arbeiter des Zepplinschen Unternehmens wohnten in den 400 Arbeiterwohnhäusern, die Zeppelin errichtet hatte. Sie bildeten neben den Werftanlagen eine besondere Vorstadt von Friedrichshafen. Da die Häuser sämtlich in den letzten 7 Jahren und meist in den letzten 5 Jahren errichtet waren, so waren sie alle modern gebaut und sauber und wohnlich eingerichtet. Die Zeppelinsche Vorstadt war der beste Teil von Friedrichshafen.
Die beiden Köhler waren Söhne eines Fischbacher Fischers und Motorbootbesitzers. Sie gehörten nicht zur Nachtschicht und gingen zusammen zu Fuß in der mondhellen Nacht nach ihrem Heimatsorte Fischbach, der ungefähr dreiviertel Stunden von Friedrichshasen entfernt liegt. Bis sie von den Werkmeistern entlassen waren, war es ½ 10 Uhr geworden.
Immer und immer wieder hatten die Werkmeister jedem einzelnen eingeschärft, was er seiner Frau, seinen Eltern und Kindern über die Ursache der vielen Nachtschichten zu erzählen habe. So war die Zeit verronnen.
Auch in Friedrichshafen wurden bis zum späten Abend Extrablätter ausgerufen. Der Lohn in den Zeppelinschen Arbeitsstätten war in Rücksicht auf die hohe Qualifikation der Arbeiter ein sehr hoher. Die Erfahrung hatte die Geschäftsleitung zu dem Grundsatz gebracht, dass wirklich gute Arbeiter nur durch sehr hohen Lohn festzuhalten sind. Bis nach Amerika und Japan hatte man gegen Gehälter von 5000 bis 10 000 gewöhnliche Arbeiter Zeppelins herbeigezogen. Einzelne Vorarbeiter bezogen in fremden Ländern ein Gehalt von 20 000 und mehr Mark. Ein Werkmeister war im Januar 1915 sogar gegen 40 000 Mark von der japanischen Regierung engagiert worden.
Kein Wunder, dass die beiden Brüder auf ihrem Wege nach Fischbach sich noch sämtliche Extrablätter kauften und die politischen Ereignisse noch an ihrem Stammtische am Ende von Friedrichshafen besprechen wollten.
In der Kneipe glaubte jedermann, dass der Krieg vor der Tür sei. Denn ganz Friedrichshafen wusste, dass die Zeppeliner einberufen worden waren.
Als die beiden Fischbacher das Restaurationszimmer betraten, begrüßte sie sofort der freundliche Ingenieur aus Köln, welcher sich seit einigen Wochen in Friedrichshafen aufhielt. Im Gespräche hatte er erzählt, dass er der Vertreter einer großen Maschinenfabrik in Düsseldorf sei und auch mit der Zeppelinschen Werft Geschäfte mache.
„Ich glaubte, Sie würden heute Abend nicht kommen“, sagte er zu den Fischbachern.
„Warum?“ entgegnete Albert, der jüngere der beiden Köhler. „Nun, wegen der Nachtschicht.“
„Wir sind davongekommen, aber Max Lehmann und Karl Müller sind reingefallen. Sie müssen bis 6 Uhr morgens schwitzen.“
„So, da kommt also doch Krieg“, meinte der Kölner.
„Wenn er nicht schon da ist“, meinte der Fischbacher.
In diesem Augenblicke bekam er von seinem älteren Bruder einen heftigen Stoß in die Rippen.
„Ich scherze ja nur“, sagte er daraufhin zu der Kölner. „Was verstehe ich von Krieg“
Das Bier wollte ihnen aber beiden nicht mehr schmecken. Immer wieder warf der ältere Köhler dem Jüngeren vorwurfsvolle Blicke zu.
„Nee, Krieg gibt‘s nicht“, sagte der Jüngere laut und zu dem Kölnischen Ingenieur gewendet, als der Wirt das deutsche Beefsteak mit Bratkartoffeln brachte.
„Ich denke, Sie verstehen nichts vom Krieg“, fragte spitzig der Kölner Ingenieur. „Wie können Sie denn da mit einem Male sagen, es gibt keinen Krieg“
„Nun, man redet nur so“, meinte Albert Köhler verlegen.
Das Beefsteak aber wollte ihm nicht schmecken. Kaum hatte er einen Bissen gegessen, so klagte er über Appetitlosigkeit und Hitze im Zimmer. „Er müsse morgen früh um 6 Uhr antreten und bei Zeiten schlafen gehen.“
„Um 6 Uhr morgens?“ fragte der Kölner Ingenieur. Sie beginnen doch sonst erst um 8 Uhr.“
„Von morgen ab beginnt der Dienst für uns um 6 Uhr“, sagte Albert zögernd. Jetzt griff sich der ältere Bruder an die Stirn und rief unwirsch: „Komm, wir gehen.“
Auf dem Heimwege kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern. Der Jüngere erwiderte auf die Vorwürfe des älteren Bruders, dass erst der Rippenstoß und die unschickliche, beleidigende Handbewegung des älteren Bruders die Aufmerksamkeit des fremden Ingenieurs erregt hätten. Im Übrigen halte er den Kölner für durchaus zuverlässig.
„Ich nicht“, meinte der ältere, „vielmehr zeigt mir sein lauernder Blick gerade heute, dass er ein Spion des Auslandes ist.“
Während die Brüder sich streitend Fischbach näherten, hörten sie immer deutlicher von allen Seiten in der Ferne das Surren der Propeller von Aluminiumluftschiffen.
„Was ist das?“ sagte Albert zu seinem älteren Bruder Karl. „Nach 8 Uhr abends kommt während des Winters überhaupt kein fahrplanmäßiges Luftschiff nach Friedrichshafen. Die Familie unseres Grafen fährt auch nur sehr selten nachts. Ich höre aber die Schraubenflügel von vier oder gar sechs Luftschiffen, die sich von verschiedenen Seiten Friedrichshafen nähern.“
Karl war soeben von der Landstraße links auf eine kleine Anhöhe gesprungen, die einen freien Überblick über den Bodensee gewährte. „Komm hierher“, rief er seinem Bruder zu. „Über dem See zähle ich nicht weniger als sieben Luftschiffe. Sie
kommen in der Richtung von Konstanz, Rohrschach und Bregenz.“
Die Brüder kannten jedes Luftschiff, welches in der Zeppelinschen Werft gefertigt war, ganz genau. Seit der Begründung der Werft im Jahre 1909 hatten nicht weniger als rund 400 Aluminiumluftschiffe die Werft verlassen. Im Jahre 1909 waren nur sechs Stück fertig geworden.
Das Jahr 1914 wies aber allein eine Produktion von 150 Stück auf. So hatte sich die Werft in der kurzen Zeit vergrößert.
„Die beiden ersten Luftschiffe,“ meinte Karl, indem er in der Richtung nach Rohrschach zeigte, „sind von unserer Viktoria-Luise-Klasse und stehen jetzt, soviel ich weiß, im Luftschiffhafen zu Bern, um den Verkehr mit Paris und Wien zu vermitteln“
„Auch dort die von Konstanz kommenden“, meinte der ältere Köhler, „sind Zeppelinsche Aluminiumluftschiffe. Soviel ich sehe, gehören sie zur Internationalen Luftlinie „Paris-Berlin“ und „Paris-München“. Sie scheinen aus den französischen Luftschiffhäfen unserer Linien zu kommen. Meinst du, dass alles mit richtigen Dingen“ zugeht, oder sollen wir an die Werft telefonieren? Es wäre ja möglich, dass sie als französische Kriegsluftschiffe hierherkommen.“
„Dagegen spricht“, meinte der Jüngere, „dass die aus der Schweiz kommenden uns als Luftschiffe einer deutschen Luftlinie bekannt sind. Wie du weißt, ist die Internationale Luftluftlinie eine deutsche, und alle Zeppelinschen Luftschiffe dieser Linien führen im Kriege nur die deutsche Flagge. Aber wir wollen trotzdem telefonieren.“
Die Brüder setzten sich in scharfen Trab nach dem Gasthaus von Fischbach und klingelten sofort die Werft an. „Wir wissen Bescheid“, war die Antwort des Werftbeamten. „Die Luftschiffe kommen nur auf einige Stunden hierher und gehen dann in die Luftschiffhäfen an der Grenze. So lang keine Luftschiffe des französischen Systems und der französischen Flagge zu sehen sind, liegt kein Grund der Beunruhigung vor. Auch dies ist alles als militärisches Dienstgeheimnis zu betrachten“ In jeder Nacht kamen seit dem Abend des 4. Nov. 1915 10 bis 50 Aluminiumluftschiffe in die Werftanlagen zu Friedrichshafen, wurden hier als Kriegsluftschiffe montiert, mit Torpedolanzierrohren versehen und in kriegsbrauchbaren Zustand versetzt. Meist wurden sie noch in derselben Nacht in die großen Luftschiffhäfen, die sich von Metz bis zur südlichen Grenze von Elsass-Lothringen längs der französischen Grenze hingezogen, überführt. Auch die riesenhaften Luftschiffhäfen in Straßburg und Aachen wurden mit diesen Luftschiffen gefüllt. In der sechsten Nacht waren nicht weniger als 350 Zeppelinische Aluminiumluftschiffe dicht an der französischen und belgischen Grenze in den deutschen Luftschiffhäfen in voller Kriegsausstattung untergebracht.
Die beiden jungen Köhler waren nicht die einzigen, welche am Abend des 4. November und in den folgenden Nächten das Kommen und Gehen der Aluminiumluftschiffe in Friedrichshafen beobachteten. Kaum hatten sie am Abend des 4. Nov. ihren Stammtisch in Fischbach verlassen, als der Kölner Ingenieur seine Rechnung bezahlte und nach der großen Werft auf dem Lande sich begab. Hier sah er alles erleuchtet. Obgleich die Werft in großem Umkreise von Gendarmen abgesperrt war, konnte er doch deutlich beobachten, wie ein Luftschiff nach dem andern die Werft verließ und immer wieder neue Luftschiffe von allen Seiten eintrafen. Er sah, wie die Luftschiffe erst kurz vor Friedrichshafen Lichter aufsetzten und bis dahin mit geblendetem Lichte heransegelten. Es widersprach den strengen Gesetzen des Luftverkehrs, von München bis Friedrichshafen bei Nacht ohne weithin leuchtende elektrische Lichter zu fahren. Und doch war dies heut der Fall. Wenn die Luftschiffe kurz vor dem Ziele die Blenden der Lichter entfernten, so geschah dies offenbar nur, um einen Zusammenstoß der sich am Zentralpunkt dicht zusammendrängenden Luftschiffe zu vermeiden. All diese Vorkehrungen ließen auf Krieg schließen.
Karl Eduard Müller war kein fremdländischer Spion, für den ihn der ältere Köhler hielt. Er war in der Tat in Köln geboren, aber er stand in den Diensten einer französisch-schweizerischen Luftschiffbaugesellschaft, welche grade jetzt sich bemühte, ihre neuen Luftschiffe derartig mit Aluminium zu versteifen, dass sie den Zeppelinschen schon recht ähnlich wurden. Er hatte den Auftrag, seiner Firma eine Reihe von Einzelheiten des Zeppelinischen Luftschiffbaues zu übermitteln. Allerdings hatte ihm die Firma vor zwei Tagen unmittelbar nach Veröffentlichung des berühmten Interviews in der „Times“ welches die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich in ein so schweres Stadium gebracht hatte, aufgetragen, auf das sorgsamste in Friedrichshafen Obacht zu geben, ob Vorbereitungen für den Krieg getroffen wurden. Die Firma hatte hinzugefügt, dass jede Feststellung in dieser Richtung von größtem geschäftlichem Wert für sie sei. Komme es zum Kriege, so müssten ihre geschäftlichen Dispositionen sofort geändert werden. Eine hohe Belohnung war ihm für die erste sichere Nachricht über kriegerische Vorbereitungen in Friedrichshafen in Aussicht gestellt. Zugleich hatte ihm die Firma einen Schlüssel der Verständigung für den telegraphischen Verkehr mittels Chiffern übermittelt.
Von der Landwerft ging Ingenieur Müller, so schnell er konnte, zur Seewerft. Nicht weniger als zwanzig große Motorballonhallen waren in den See hineingebaut. Für die großen Aluminiumluftschiffe erwies sich der Seehafen bei stürmischen Wetter noch immer als die einzige Möglichkeit einer sicheren Landung. Sein Weg nach der Seewerft führte ihn bei dem Königlichen Schloss zu Manzell vorbei. Kaum hatte er von dem Schloss aus einen halben Kilometer zurückgelegt als ihm auf der Landstraße zwei Gendarmen in den Weg traten.
„Wo wollen Sie hin?“ war die Frage. „An den See“, erwiderte er verdutzt.
„Dieser Weg führt nur nach der Seewerft“, sagte einer der Gendarmen, ihm scharf ins Auge sehend. „Wie heißen Sie und wo wohnen Sie? Zeigen Sie Ihre Legitimationspapiere vor“, herrschte ihn der andere Gendarm an.
Karl Eduard Müller zitterte am ganzen Körper. Er war sich eigentlich keiner Schuld bewusst. Er war kein Spion. Aber doch fühlte er in diesem Augenblick, dass er das Opfer eines schweren Verhängnisses werden könnte. Ingenieur Müller war von der französisch-schweizerischen Luftschiffbaugesellschaft einer großen Aktiengesellschaft, mit allen notwendigen Legitimationspapieren versehen worden. Er führte alle Papiere bei sich, auch wurden sie von den Gendarmen als ordnungsmäßig befunden.
„Der Weg nach der Werft ist gesperrt“ sagte der eine der Gendarmen. „Ich warne Sie, den Versuch zu wiederholen, sich der Werft von irgendeiner Seite zu nähern, und rate Ihnen, sich sofort nach Hause zu begeben, andernfalls müsste ich zur Arretur schreiten“
Karl Eduard Müller kehrte sofort um. Aber bald blieb er wieder stehen, denn grade über seinem Kopfe weg in der geringen Höhe von nur 300 Metern segelten zwei Aluminiumschiffe der größten Bauart, die von Nordosten zu kommen schienen, nach der Seewerft zu. Welche Ingenieure des Luftschiffbaues hätten diese dunklen, abgeblendeten Riesenluftschiffe um Mitternacht nicht interessiert. Ingenieur Müller wollte nur sehen, ob sie auf dem Wasser niedergingen. Schnell kletterte er auf einen Baum, von dem er voraussichtlich die Seewerft und den Spiegel des Bodensees erblicken konnte. Er war noch nicht oben, als ein Zivilist aus dem Gebüsch hervorstürzte und einen schrillen Pfiff in die dunkle Nacht ertönen ließ. In demselben Augenblick wurde es auf allen Seiten lebendig. Im Galopp sprengten von verschiedenen Seiten Gendarmen heran. „Kommen Sie sofort von dem Baum herunter, oder ich schieße“, rief ein reitender Gendarm mit gehobenem Gewehr dem Ingenieur Müller zu.
„Schießen Sie nicht“ rief Müller, „ich komme sofort herunter.“ Er fiel mehr als er kletterte. In einem Augenblick war er wieder auf der Landstraße. Inzwischen waren auch die Gendarmen, welche ihn visitiert hatten, keuchend herbeigelaufen. Im Ganzen umringten ihn sechs Personen, von denen zwei in Zivil augenscheinlich Kriminalbeamte waren. Diesen musste er nochmals seine Papiere zeigen. Jetzt begleitete ihn ein berittener Gendarm bis nach Friedrichshafen in seine Wohnung in, einem kleinen Gasthaus, wo der Wirt ihn legitimierte und erklärte, dass er die Verantwortung für ihn übernehmen könne. Herr Müller interessiere sich als Ingenieur für Luftschiffe und sei nur aus Neugierde, wie andere Friedrichshafener auch, auf seinen Rat nach der Seewerft gegangen. Alles dies wurde von dem Gendarmen zu Protokoll genommen.
Nachdem Ingenieur Müller mit seinem Wirt noch einige Glas Bier zur Erholung von dem überstandenen Schrecken getrunken hatte, ging er auf das Postamt. Ihm war jetzt ein Zweifel mehr, dass der Krieg entweder schon ausgebrochen sei oder unmittelbar bevorstehe. Auf dem Postamt nahm er aus seiner Brieftasche den Schlüssel für die chiffirierten Telegramme und suchte die Chiffer für „der Krieg ist ausgebrochen“ Sie lautete: „Annas Hochzeit ist morgen“ Das Telegramm war zu richten an Jacques Gilbert in Genf. Dieser Herr war der Privatsekretär des Generaldirektors der französisch-schweizerischen Luftschiffbaugesellschaft.
Als Ingenieur Müller sein Telegramm um 1 Uhr nachts dem Postbeamten übergab, fiel ihm der forschende Blick des Beamten auf. Auch fragte ihn der Beamte nach seinem Namen und seiner Adresse für den Fall, dass das Telegramm unbestellbar sei oder eine Antwort einlaufen sollte. Um nicht unnötiges Aufsehen „zu erregen, gab er seinen Namen und Adresse gewissenhaft an. Jetzt endlich begab sich Ingenieur Müller zur Ruhe. Sein Telegramm verließ aber nicht das Postamt von Friedrichshafen. Nach dem neuen Mobilmachungsgesetz unterliegt der Postverkehr in Orten mit Luftschiffwerften von der Stunde der Mobilmachung an einer Zensur. Dasselbe gilt von allen Orten zehn Kilometer im Umkreise. Vor der Absendung musste das Telegramm nach den bestehenden Bestimmungen erst der politischen Polizei vorgelegt werden. Im Allgemeinen war der gesamte telegraphische und telefonische Verkehr ins Ausland einer Verzögerung von mindestens 10 Stunden zu unterwerfen, um Zeit für die Prüfung zu gewinnen. Durch seine nächtliche Rekognoszierung hatte sich aber Ingenieur Müller so verdächtig gemacht, dass am kommenden Morgen der Leiter des Polizeiwesens von Friedrichshafen entschied, dass kein Telegramm oder Brief von Müller bis auf weiteres befördert werden dürfe.
Am Morgen des 5. November telegraphierte Ingenieur Müller aufs Neue nach Genf in chiffriertem Telegramm, indem er sich Instruktionen für sein zukünftiges Verhalten erbat. Da ihn keine Antwort erreichte, und er sich Gewissheit über die kriegerischen Vorbereitungen der Landarmee verschaffen wollte, fuhr Ingenieur Müller am 6. November mit dem Zuge nach Stuttgart und stieg im Hotel Marquardt ab. Hier glaubte niemand an das Bevorstehen des Krieges. Seine Erzählungen von den nächtlichen Luftschiffen nach und von Friedrichshafen stießen überall auf Zweifel. Der Reichskanzler hatte sich fast täglich immer neuen Personen gegenüber auf das friedfertigste ausgedrückt. An der Nachtschicht auf den Zeppelinischen Werften fand niemand etwas Besonderes, da der „Schwäbische Merkur“ und das „Neue Tageblatt“ gleichfalls die Mitteilung gebracht hatten, dass Graf Zeppelin von der Internationalen Luftlinie „Berlin-Peking“ enorme Aufträge zur schleunigen Lieferung erhalten habe.
Ingenieur Müller war aber klug genug, um den wirklichen Sachverhalt klar zu durchschauen. Das Landheer hatte noch nicht mobil gemacht, aber die Luftmacht war seit dem 4. November in dem Zustande der Mobilmachung. Zum Überfluss stellte Müller in Stuttgart fest, dass der Luftschiffverkehr von Stuttgart nach Berlin sowie von Stuttgart nach München und von Stuttgart nach Bern einfach aufgehört hatte. Ein Herr im Hotel Marquardt, der am Morgen des 6. November mit dem fahrplanmäßigen Luftschiff nach Berlin fahren wollte, hatte bei seiner Ankunft in dem Luftschiffhafen nur den Bescheid erhalten, dass heut und morgen wegen des stürmischen Wetters der Luftverkehr eingestellt sei.
„Sie können ja noch gar nicht wissen, ob auch morgen stürmisches Wetter ist, zumal auch heute der Wind eine sehr mäßige Stärke hat“, hatte der Reisende zu dem Beamten des Luftschiffhafens gesagt.
Lachend hatte der Hafenbeamte erwidert: „Sie merken heut nur nicht hier unten, wie stürmisch es oben ist und besonders weiter nördlich nach Berlin zu. Auch für morgen und die nächsten Tage liegen schon Warnungen wegen schweren Sturmes von den meteorologischen Stationen in Berlin und Leipzig vor. Ich rate Ihnen, mit der Eisenbahn zu fahren, denn in den nächsten Tagen können Sie auf dem Luftwege Berlin nicht erreichen.
Das war eine sehr merkwürdige Geschichte, denn seit dem Jahre 1912 funktionierte der Luftverkehr zwischen Stuttgart und Berlin Sommer wie Winter mindestens ebenso sicher wie der Eisenbahnverkehr.
Nun hielt es Ingenieur Müller an der Zeit, nach Genf zu telefonieren.
Als er vom Hotel Marquardt aus in Stuttgart das Fernsprechamt anrief, wurde ihm erwidert, dass der Verkehr mit Genf augenblicklich an Störungen leide. Er solle aber nur sagen, um was es sich handle, vielleicht könne man ihn bevorzugen. Und das war auch wiederum eine sehr merkwürdige Tatsache. Ingenieur Müller konnte sich nicht entschließen, der Telefonistin seine Beobachtungen über die Mobilmachung der deutschen Luftmacht anzuvertrauen. Noch eigentümlicher war, dass die Telefonistin seinen Namen und Wohnort verlangte, obgleich er schon versichert hatte, dass er von Hotel Marquardt aus spreche.
Die Fortsetzung seines Gespräches mit der Telefonistin erlitt jetzt ein Ende, da die Tür der Telefonzelle sich öffnete und ein Herr hineintrat, während ein anderer draußen stehen blieb.
„Hier ist meine Legitimation. Ich bin der Kriminalkommissar Rosstäuscher von der politischen Polizei in Berlin. Dieser Herr neben mir ist der Herr Kriminalkommissar Lange vom Polizeipräsidium in Stuttgart. Sie sind arretiert auf Grund des Gesetzes über das Mobilmachungswesen und haben uns sofort und ohne Aufsehen nach dem Polizeipräsidium zu folgen.“
Die Lage des Ingenieurs Karl Eduard Müller war sehr bedenklich. Denn in seiner Brieftasche befand sich der Schlüssel der chiffrierten Telegramme über Krieg und Mobilmachung. Jetzt war ihm auch klar, dass sein Stuttgarter Telegramm in die Hände der politischen Polizei gefallen war und Genf gar nicht erreicht hatte. Obgleich Müller sich keines Landesverrats und überhaupt keiner unerlaubten Handlung bewusst war, folgte er den Beamten mehr tot wie lebend. Wie leicht konnte man ihn auf Grund seiner Schlüssel für chiffrierte Telegramme, wegen seines Stuttgarter Telegramms und seiner Annäherungsversuche an die Seewerft in dunkler Nacht für einen Spion halten.
Müller war klug genug, auf dem Polizeipräsidium von vornherein die Dinge genauso zu schildern, wie sie waren. Gleichwohl behielt man ihn in Untersuchungshaft.