Читать книгу Grischa der Geiger - Rudolf Stratz - Страница 4
ОглавлениеStill: Grischa geigt . . .
Es gibt tausend Töne in dem längst von der roten Kreml-Regierung beschlagnahmten Wolkenkratzer des einstigen altrussischen Millionärs Grigorieff. Noch ragt der schmale, hohe Steinkoloss des alten Teehändlers hoch über die zahllosen Kirchenkuppeln und Klostertürme und Dächermeere Moskaus. Aber drinnen hausen zu Hunderten, froh von Sowjets Gnaden ein Plätzchen gefunden zu haben, grau durcheinander, die Menschen von 1924, die Masse Mensch der neuen russischen Zeit. In allen Stockwerken schreien die Kinder, an der Riesenherden klappern sechs, acht Beamtenfrauen und Fabrikarbeiterinnen und alte Gräfinnen zugleich mit den Kasserollen, ununterbrochen schrillen die Flurklingeln, die Treppent dröhnen von stampfenden Schmierstiefeln. Denn der Lift ist seit Jahren als Abfallschacht für den Abhub der Haushalte verwendet und bis zur halben Höhe des einstigen Palastes mit Asche und Porzellanscherben, Klaviertrümmern, zerbrochenen Marmorbadewannen, zerschlagenen Spiegeln, verfaulten Gemüsestrunken, verwesten Katzen gefüllt.
Aber wenn Grischa seine Geige nimmt und spielt, dann klingen und schwingen die schluchzenden, zitternden Töne durch all den Alltagslärm. Alle Zimmertüren im langen, linken Flur des dritten Stockwerks öffnen sich. Bärtige Männerköpfe, blasse Frauengesichter lauschen.
Auch die Türe zu Grischas Gelass haben sie aufgemacht, um ihn zu hören. Es ist ein einstiges Luxusboudoir im Stil Ludwigs des Vierzehnten, das Grischa, der Ärmste der Armen, mit drei Schicksalsgenossen teilt. Noch hängen Reste der Seidentapete an den grob weiss getünchten, mit Wanzenblut rotgetupften Wänden. Die Deckenkassetten aus Rosenholz sind längst verfeuert, die Parkettäfelung herausgerissen. Ein zertrampelter, mit Hunderten von Brandlöchern der Zigarettenstummel übersäter kostbarer altpersischer Teppich aus der berühmten Kunstsammlung des alten Grigorieff deckt die Sandschicht des Fehlbodens.
Zwei breite Kalkstriche mit dem Tüncherpinsel auf dem Teppich, eine Wandecke — diese Fläche von drei Ellen im Geviert — ist, innerhalb des ganzen Zimmers, Grischas Reich. Sein eisernes Feldbett lehut, für den Tag zusammengeklappt, an der Mauer. Auf den Resten eines Barocksessels daneben sitzt er, die Geige an der Schulter — mittelgross, in der ersten Hälfte der Dreissig, mit weichem, kurzem, blondem Volbart und langen, wirren, blonden Haarsträhnen.
Echt russisch der Schnitt seines schwermütigen Gesichts — die etwas vorspringenden Backenknochen, die breiten Nasenflügel. Träumerisch die blauen Augen. Kindlich-freundlich die Wölbung der stark aufgeworfenen Lippen.
Abgeschabt, an der linken Schulter von der Geige abgewetzt, sein europäischer Rock. Ausgefranzt die langen Hosen über den mit Rüstern vollgeflickten Schaftstiefeln, kragenlos das am Brustsaum rotgestickte Hemd.
Und Grischa geigt . . . Seine etwas groben Züge haben sich verklärt. Sein Blick verliert sich ins Weite. Er träumt mit offenen Augen und spricht wie im Traum.
Spricht leise, mit dem Geigenspiel seine Worte übertönend zu dem ehemaligen Psalmensänger Jermolai, seinem Kreidestrich-Nachbarn im Zimmer, der dicht neben ihm kauert, dürr wie ein Skelett, eine fahlgraue, läusebedeckte Wildnis sein Haar und Hängebart, unheimlich gross die Nase zwischen den eingefallenen, rotgefleckten Wangen des Schwindsüchtigen.
„Heute nacht, Jermolai, wagen wir den grossen Schlag!“ raunt Grischa im Geigen. „Wenn ihr drei hier im Zimmer, denen ich Vertrauen geschenkt habe, euer Leben aufs Spiel setzt und mir helft!“
„Wie sollten wir nicht?“ Ein Hustenanfall erstickt die halberloschene Stimme des kranken Kirchensängers. Er speit auf den Teppich. Er röchelt. „Seit Jahren spricht Moskau von den hier im Hause verborgenen Schätzen. Uns armen Knechten Gottes fallen sie zu!“
„ . . . und diese eine Nacht kehrt nie wieder!“ Grischa der Geiger führt stürmisch den Bogen über die Saiten. „Ich will dir jetzt verraten, warum es heute geschehen muss oder nie! Drüben um die Strassenecke, auf dem Arbât, liegt Litzband, der grosse Sowjetkommissar, im Sterben. Gleich nach seinem Tode wird seine Leiche nachts bei Fackelschein in feierlichem Zug in den Kreml geleitet werden. Alles wird aus diesem Hause hier hinaus nach der Strassenecke laufen, um das Schauspiel zu sehen. Diese einzige Nacht im Jahr ist das Haus meines Vaters hier auf kurze Zeit von seinen Hunderten von Bewohnern leer. In dieser einzigen Nacht kann ich mein Eigentum, die hier im Hause vermauerten Kunstschätze meines Vaters, heben und ins Ausland retten. Seine Sammlung altrussischer Kleinodien war einst weltberühmt, Jermolai! Sie ist Millionen wert!“
„Wir alle werden reich, die es wagen und mit dir gehen!“ keucht der Kirchensänger und wirft über die Schulter einen schnellen, bedeutungsvollen Blick nach dem Flur. Dort wuchtet eben mit schweren Schritten, wie zufällig, in seinem roten Hemd der riesige Hausverwalter Ossip, der Einäugige, genannt „der Gottlose“ vorbei.
„Allein kann ich es nicht vollbringen . . .“ Grischa geigt. „Darum habe ich euch Mitbrüder hier im Zimmer in meinen Plan eingeweiht. Ihr seid die Mühseligen. Ihr habt nichts zu verlieren und alles zu gewinnen!“
„So ist es, Herr!“ murmelt der Psalmensänger Jermolai.
Über Grischas Haupt hängt an der Wand ein Kalender. Er zeigt den 13. März 1924. Der blonde Geiger wirft einen Blick hinauf und spielt.
„Ich bin längst kein Herr mehr!“ sagt er dabei, „ich bin ein Bettler wie ihr — ich, der Sohn des Millionärs Grigorieff, den ganz Russland kannte. Seit sieben Jahren esse ich das Brot der Fremde und ernähre mich kärglich in Deutschland und Frankreich als armer Musikant. Und doch bin ich kein Bettler, sondern reich. Denn mein sind die Schätze hier im Haus, nach denen der Kreml seit Jahren vergeblich sucht, um sie zu beschlagnahmen. Ihr hier im Zimmer, ohne die ich nichts machen kann, ihr allein, Jermolai, wisst, wer ich bin und warum ich mit einem falschen Pass nach Russland kam . . .“
„Wir schweigen, Herr!“
„Hütet nur jetzt eure Zunge, vor der letzten entscheidenden Nacht! Denkt daran, dass ihr innerhalb vierundzwanzig Stunden mit mir erschossen werdet, wenn sie am Lubjanka-Platz merken, dass ich der Sohn Grigorieffs bin und ihr es wusstet, ohne es zu melden!“
„Gott schütze jeden vor der Geheimpolizei, Herr!“ Ein Krampfanfall von Husten schüttelt das lebende Gerippe des Psalmensängers. Er keucht zwischen den Anfällen: „Gott hat mich gestraft.“ Er erhebt sich. „Ich muss frische Luft schöpfen, Herr — verzeiht!“ ächzt er und wankt zur Türe hinans und auf den Flur und in das Treppenhaus.
Dort steht auf dem Stiegenabsatz Ossip der Gottlose, in rotem Hemd und Ledergürtel und hohen Stiefeln, brutal das Antlitz mit dem dunklen Schnurrbart, und spuckt zerbissene Sonnenblumenkerne auf die Schmutzkruste der Stufen. Der Riese richtet sein einziges, tückisches, kleines Auge gespannt auf den Kirchensänger.
„Wir haben ihn!“ keucht Jermolai und fasst den andern in der Aufregung am roten Ärmel. „Heute nacht will er die Schätze heben! Sie müssen hier im Haus verborgen sein, wo wir sie seit Jahren vergeblich suchen. Von der Dachplattform bis zu den Kellern haben wir alles durchstöbert, alle Wände beklopft, alle Räume ausgemessen. Umsonst! Nun wird er uns selber an das Versteck führen, der Narr! Ich fahre gleich nach dem Lubjanka-Platz und melde es der Geheimpolizei!“
Die Mienen der beiden Spitzel des Kreml leuchten. Trotzdem unzufrieden der tiefe, rauhe Bass des Gottlosen:
„War er schon zu Ende mit seinen Plänen für heute nacht? Nein? Warum liefst du fort, während dieser dumme Vogel noch seine Geheimnisse ausplauderte?“
„Damit keine Zeit verloren geht, Genosse! Inzwischen redet er mit Ilja weiter!“
„Und ihm vertraut er auch?“ forscht der Ginäugige.
„Uns allen dreien! Grigorij Grigorieff ahnt nicht, dass er in unserem Zimmer nur von uns Geheimagenten umgeben ist!“
Droben, in dem Wanzengemach Ludwigs des Vierzehnten, hockt neben Grischa klein, dick, weissköpfig und verwahrlost, der Vater Ilja, der einstige grosse Branntweinpächter. Wässerig glitzern die rotgeliderten Äuglein in dem gedunsenen Trinkergesicht. Er lauscht mit offenem, zahnlosem Mund, die Wurstfinger über dem Spitzbauch gefaltet, und Grischa geigt und spricht — mehr zu sich als zu dem alten Bettler.
„Dies ist meines Vaters Haus . . .“ sagt er. „Hier sind meine Kindheitserinnerungen. Hier bin ich aufgewachsen. Wenn ich die Augen schliesse und geige, dann steht meines Vaters Haus wieder vor mir, wie es einst war. Glanzvoll die Säle. Alles voll Menschen. Ausländer kommen, um die Sammlungen zu besichtigen, Gelehrte, Museumsdirektoren. Generale mit Ordenssternen sind bei meinem Vater zu Tisch. Teehändler, Baumwollhändler, Pelzhändler — Geschäftsfreunde aus England und China, Künstler — mein Vater hielt ein offenes Haus!“
„Ich habe ihn noch oft gesehen!“ Es klingt heiser aus Vater Iljas Kehle. „Damals, als er vor dreissig Jahren dies Haus baute. Damals übernahm die Krone von uns Branntweinpächtern den Verkauf in den Schnapsbuden. Ich setzte mich als reifer Mann zur Ruhe. Harte Menschen nahmen mir Greis vor sieben Jahren Glück und Geld!“
Vater Ilja sieht sich vorsichtig um, ob auch niemand diese fredelhafte Lästerung wider die Schreckensmänner drüben auf dem Kreml gehört hat. Dann krächzt er weiter:
„Ob ich ihn noch gekannt habe — den alten Grigorieff und deine selige Mutter, Grischa! Bedächtig schritt er daher, dein Vater, im Überschlagpelz mit Gürtel und in hohen Filzstiefeln, langbärtig — sich vor jedem Heiligenbild bekreuzigend, ein Russe vom alten Schlag.“
„Mein Vater war noch als Leibeigener geboren!“ Grischas Bogen zittert nur noch ganz leise auf der G-Saite. „Wir stammen aus dem Volk. Wir vergassen es. Ich wurde als das einzige Kind wie der Sohn eines Bojaren erzogen. Für diese Trennung vom Volk hat Gott uns Hoffärtige gezüchtigt. Erst draussen in der Fremde habe ich zum Volk zurückgefunden, weil ich selbst wieder dazugehörte. In der Armut habe ich euch Arme liebgewonnen. Ihr seid meine Brüder, Ilja, und sollt es bleiben, auch wenn ich wieder ein grosser Herr bin. Ich glaube an euch!“
„Ich höre es mit Dank gegen Gott, Euer Wohlgeboren!“ Der greise Spion des Kreml nickt andächtig. Ein lauerndes Lächeln läuft über seine schnapsroten Züge. Er rückt zutraulich näher. „Ihr sagtet, Herr: das Versteck öffnet sich auf einen leisen Fingerdruck und schliesst sich geräuschlos wieder?“
„Mein Vater zeigte mir vor zehn Jahren, ehe ich in den Krieg ging, die Stelle, die sonst niemand auf der Welt kennt. Du meisst, ich habe ihn nicht wiedergesehen. Nach drei Jahren erfuhr ich in der deutschen Kriegsgefangenschaft, dass er sich auf der Flucht vor den roten Garden Moskaus in Nishni-Nowgorod von der Jahrmarktsbrücke in die Wolga gestürzt hat!“
„Gott helfe ihm!“ Vater Ilja schlägt mit zitterigem Zeigefinger ein Kreuz. „Dir werden wir helfen! Wir schliessen das leere Versteck wieder, als sei nichts geschehen. Wir verwahren die Schätze hier in unsern paar Kästen und Laden. Wer vermutet etwas bei uns Armseligen? Machmet“, er blinzelt in die Ecke der Stube, „trägt die Stücke einzeln zwischen seinen Teppichen aus dem Haus, ohne dass ein Milizionär draussen etwas merkt!“
Aber Machmet, der schlitzäugige, fast bartlose Teppichhausierer, ist jetzt nicht zu sprechen. Er ist ein Tatar. Er glaubt an Allah. Er kniet in seinem langen dunkelblauen Kaftan und den weissen Baumwollhosen auf seinem Gebetteppich und presst Stirne und Handteller gegen die buntgeknüpften Wollfäden und murmelt seine Abendandacht.
„Und der Mensch, zu dem der Tatar die Kostbarkeiten bringt . . .?“ Grischa lässt zögernd den Bogen sinken.
„Der Lithauer Keleidis ist beglaubigter Fremdendolmetscher!“ tröstet Vater Ilja. „Er ist ständig mit den Ausländern in Berührung. Es ist ihm ein leichtes, eine versiegelte Kiste als zollfreies fremdes Diplomatengut in das Ausland zu verschicken. Natürlich fällt auch für ihn dabei etwas ab — ein goldener Becher — ein juwelenbesetztes Kruzifix. Seien Sie unbesorgt, Herr! Keleidis gibt Teegeld und besticht, wo es nötig ist. Er ist treu wie Gold! Und nun“ — der greise Branntweinpächter rappelt sich schwerfällig auf die Beine, „mit Gott!“
Vater Ilja steigt die Stufen des Wolkenkratzers hinab. Er tastet sich an einem gespannten Strick. Das kunstgeschnitzte Geländer aus einem altfranzösischen Barockschloss ist längst zu Kleinholz gehackt. Noch lachen nasenlose Amoretten von den Wänden. Es dünstet im Stiegenhaus nach Kohlsuppe, nach Zigaretten, nach Tee und Leder und aus einem Konzertflügel in der Ecke, der als zuklappbarer Abort dient. Drunten zur ebenen Erde weht frische kalte Märzluft von der Strasse herein. Dort steht, die Hände im Ledergürtel, Ossip der Gottlose. Vater Ilja gesellt sich zu ihm.
„Wo ist der Psalmensänger?“ fragt der Spitzel Ilja.
„Zur Geheimpolizei!“ erwidert der Spitzel Ossip. „Er hatte recht: es ist keine Zeit zu verlieren, falls Litzband wirklich heute nacht stirbt!“
Um die Ecke, in der Arbâtstrasse, vor dem Hause des grossen Kommissars Litzband, steht im Abendgrauen eine ebenso graue, stumm wartende Menschenmenge. Von dort stiefelt ein langer, hagerer, leidlich, aber kragenlos gekleideter Mann auf das Haus Grigorieff zu. Graue Wolfsaugen liegen tief in seinem bartlosen, grob wie mit
der Holzaxt ausgehauenen Antlitz. Ein paar flachsblonde Strähnen lugen unter der spitzen hohen Pelzmütze vor. Keleidis, der litauische Fremdendolmetscher und Polizeispion, schüttelt den beiden, Ossip und Ilja, die Hand, hebt zweifelnd die Schultern, lässt sie fallen.
„Wie es mit Litzband steht?“ sagt er. „Man weiss es nicht. Noch lebt er, wie es scheint . . .“
Er tritt zur Seite. Die Räder der Droschke, die plötzlich neben den dreien hält, spritzen weithin den tauenden Schneeschlamm der Fahrbahn über den vereisten Bürgersteig. Aus dem kleinen, offenen Gefährt beugt sich ein eleganter Herr. Er hat den Kragen seines Pelzes so hoch über die Ohren geschlagen, dass man fast nichts von seinem Antlitz sieht.
„Ich traf den Psalmensänger am Lubjanka-Platz!“ sagt er leise und schnell zu den Spionen. „Lasst den Geiger Grischa nicht aus den Augen, ausser wenn er zu dem Amerikaner Roop geholt werden sollte. Dort bin auch ich heute abend und überwache ihn! Wo ist er jetzt?“
„Er geigt oben sein Sterbelied!“ grinst Vater Ilja.
„Wer ist bei ihm?“
„Der Teppichhändler Machmet.“
„Gut denn! Fahr zu!“ Der Wagen mit dem grossen Geheimagenten spritzt weiter die Powarskaja hinab rechts und links seine schmutzig grauen Schneewasserfluten.
Oben hat Machmet der Tatar ausgebetet. Er steht vor Grischa. Er zwinkert treuherzig mit den Schlitzaugen. Er hebt mit einer bittenden Bewegung die inneren Handflächen.
„Was hast du, Machmet?“
„Du schenkst uns so viel Vertrauen, unser Ernährer! Lasse deine Sonne voll aufgehen! Nenne mir den Ort des Verstecks!“
„Erst heute nacht!“ sagt Grischa und fügt mit einem seltsamen Lächeln hinzu: „Es ist gar nicht so fern! Es ist vielleicht viel näher, als du ahnst!“
Der krummbeinige kleine Tatarenspitzel wartet auf weiteren Bescheid. Es kommt keiner mehr. Da nimmt er seufzend seinen Teppichballen auf die Schulter, um ihn jetzt, vor sinkender Nacht, sicher in einem Gewölbe in den Kaufmannsreihen drüben aufzubewahren, und schleicht gebückt hinaus. Und Grischa ist im Zimmer allein mit seiner Geige.