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Milde war diese Nacht 1924 — milde für eine Märznacht über Moskau. Im Vollmondschein vom sternklaren Himmel schimmerten bläulich-traumhell, fast so hell, wie an einem trüben Wintermittag, seine ungeheuren Plätze, seine verschneiten Dächer, seine unzähligen Kirchenkuppeln und Glockentürme und Klosterzinnen, und darüber ragend der düstere Klotz der Kremlstadt und fern, am nächtigen Horizont überall die feurigen Funken aus den unsichtbaren Schlotwäldern der Fabriken.

Die langen Reihen von Männern und Frauen, die jeden Abend bis tief in die Nacht hinein stumm und frierend vor den Lebensmittelläden anstanden, hatten sich jetzt längst in Nacht und Nichts aufgelöst. Sonst waren um diese Zeit die Strassen leer. Nur um die flackernden Riesenfeuer auf den öffentlichen Plätzen scharten sich die sich wärmenden Droschkenkutscher, und vor den Häusern sassen unförmlich vermummt wie die Bären die Hauswächter. Aber heute standen, fast zwei Stunden noch nach Mitternacht, dunkle Menschenmauern von der Arbâtstrasse, wo Litzband, der Sowjetkommissar, aufgebahrt lag, an der Kirche Tichon des Wundertäters vorbei, durch den einstigen Alexandergarten bis zu dem Roten Platz vor dem Kreml, Massen von Menschen, und doch immer derselbe Mensch des roten Russland — einer wie alle — in stumpfer und dumpfer Geduld, schicksalsergeben, mit schadhaften Schuhen im Schneewasser, in abgerissenen städtischen Kleidern, Gesichter, die längst nicht mehr wussten, was lachen heisst, unter alten Kappen und Kopftüchern.

Vor dem Hause Litzband war die wartende Menge weithin vom blutroten Schein von Pechfackeln übergossen. Die Strasse hinunter verdämmerten hinter der Lafette, die den Sarg aufnehmen sollte, in dunklen Kolonmen die Truppen der Roten Armee. Polizisten zu Pferde hielten den Fahrdamm frei. Oben, im zweiten Stock des Sterbehauses waren alle Fenster hell. Bald musste auf den Schultern hoher Kremlgewaltiger der Sarg aus dem Haustor schwanken und der Trauerzug sich in Bewegung setzen — das „Rote Begräbnis“ derer ohne Gott in Moskau, zu dem keine der unzähligen Glocken des einstigen russischen Roms läutete, keine Priestermönche und Weltpopen mit Kellerbässen ihr „Herr — erbarme dich!“ aus ihren langen Bärten dröhuen liessen.

Und drüben, im Wolkenkratzer Grigorieff, nahe der Ecke der Powarskaja mit der Arbâtschen Pforte, stand in der mondhellen Nummer acht des dritten Stockwerks zur Linken Grischa der Geiger und um ihn seine drei Stubengenossen, seine Getreuen: der Psalmenfänger, der Branntweinpächter, der Tatar.

„Ist das Haus leer?“ fragte Grischa. Er war jetzt ganz ruhig.

„Leer!“ bestätigte der Kirchensänger Jermolai. „Alles ist hinaus auf die Strasse, um diese gottvergessene Leichenparade anzuglotzen!“

„Leer auf eine Viertelstunde!“ ergänzte Machmet, der Tatar. „Sowie der Trauerzug vorbei ist, kommen sie alle zurück!“

„Nur einige Kranke, einige kleine Kinder, einige alte Weiber sind geblieben!“ sprach Vater Ilja, der rotgedunsene, ehemalige Kronschnapsgrosshändler aus heiserer Trinkerkehle. „Sie werden uns nicht stören!“

„Doch der Bettler nebenan —?“ murmelte der Tatar Machmet, der kleine säbelbeinige Teppichhausierer und wies misstrauisch nach der wanzenfleckigen, weissgetünchten Wand, die die Nummer acht von der Nebenraum trennte.

Der Bettler drüben — die anderen lachten — Iwan Flug — der einstige Professor der Weltgeschichte an der Kaiserlichen Moskauer Universität — Weltgeschichte, wie die Burschui, die Bürgerlichen der Zarenzeit, sie verstanden. Fort mit dir! Magst du verhungern! Für Imperialisten hat Moskau keinen Lebensraum, keine Lebensmittelkarten, keine Bezugsscheine. Den ganzen Tag, vom Morgen bis zum Abend, streift der Bettler Iwan Flug ruhelos durch die Stadt, sammelt, irr stammelnd, Kopekenstücke in der Schirmkappe, füllt lallend auf den Plätzen die Taschen seiner zerfransten Hose mit der Abfällen der Märkte, die die Bauern abergläubisch dem schwachsinnig Gewordenen reichen.

„Diese alte Krähe hat ja längst den Verstand verloren!“ Jermolai, der Schwindsüchtige, hustete, dass sich die Backenknochen unter dem schütteren Graubart rot färbten.

„Vielleicht schläft er — der Weisshändige!“

„Wir können ja nachsehen! Er ist ja blöde. Er erkenut ja niemanden!“

Leise hinüber zu Nummer neun. Leise die Tür auf. Noch mehr als Nummer acht ein verwüsteter, stinkender Menschenstall — einst ein kokettes Schmuckkästchen des Rokoko — der Kleine Rundsaal, menschenleer im blauen Mondschein. Nur in der einen Ecke hockt aufrecht auf den Resten einer Matratze ein verwildertes Menschengespenst, eine graue wirre Mähne sein Haupthaar, Hohlaugen in dem abgemagerten Gesicht, langsträhnig über der zottigen, zivischen dem schmutzigen Hemdspalt offenen Brust der aschfarbene Bart.

„Er ist wach — der Windhund!“

„Neit. Er schläft!“

Iwan Flug, der einstige Hochschullehrer, schläft gleich einem indischen Fakir aufrechtsitzend und mit offenen Uugen. Offen und doch erloschen diese gläsernen Pupillen. Er sieht niemanden. Er gibt kein Lebenszeichen. Der Anblick des wahnsinnigen Büssers ist unheimlich.

„Nun — dieser Floh wird uns nicht stechen!“ murmelt der Kirchensänger. Alle vier ziehen sich auf den Fussspitzen zurück.

„Horcht, Brüder!“ flüstert draussen auf dem Flur Grischa der Geiger. Seine Stimme zittert.

Ja — da tönen dumpf die Musikkapellen von drüben, von der Arbâtstrasse her. Der Nachtmind trägt die Internationale herüber.

„Wacht auf, Verdammte dieser Erde!‘

„Litzband ist auf dem Marsch!“ krächzt Vater Ilja und reibt sich kichernd die Hände.

‚ . . . die stets man noch zum Hungern zwingt!‘

„Vorwärts, Brüder — jetzt muss es geschehen!“ Grischa zischt es zwischen den Zähnen. Von dem Fenster der Stube Nummer acht aus, in die er mit seinen Genossen zurückeilt, kann man den Leichenzug nicht sehen. Nur roter Glast färbt in der Ferne wie Brandschein die Kirchen und Häuser der Arbâtschen Pforte. Man vermag das Lohen der Pechfackeln nur zu ahnen, den dumpfen. Tritt der Massen, das Schaukeln der Banner mit goldener Sichel und Hammer, der aufgehenden Sonne, dem roten Sowjetstern, das Rumpeln der Sarglafette und vor ihr in breiten Reihen die Machthaber Moskans — immer die gleichen entblössten, kurzgeschorenen, schnurrbärtigen Männerköpfe mit der niederen Stirtie, der grobgeformten Nase, der brutalen Härte um Kiefern und Kinn.

Und Grischa der Geiger dreht den Genossen ben Rücken zu, tritt in seine Ecke, faltet die Hände, senkt das blondbärtige Haupt, spricht ein kurzes Gebet. Dann wendet er sich wieder zu den anderen. Sein Wesen ist jetzt verändert. Kaltblütige Willenskraft atmet es statt der Träumerei.

„Diese Viertelstunde schenkt uns Gott der Herr!“ Grischa fährt in seinen Schafpelz und stülpt die Schirmkappe auf, als wollte er den Schatz im Hause suchen gehen. „Gott allein weiss, ob und wann diese Viertelstunde je wiederkehrt, in der mir unbeobachtet sind! Jede Minute ist kostbar. Wollt Ihr mir blind gehorchen, Brüder?“

„Befiehl uns, Herr!“

„Gut denn!“ Grischa richtet sich entschlossen auf. „So hört, was jeder tun soll! Der Gottlose hat jedenfalls das Hausfor offen gelassen, so lange alles aus dem Hause ist! Du, Machmet“, befiehlt er dem Tataren, „halte dich unten in der Torwölbung auf und gib Nachricht, wenn draussen auf der Strasse irgend etwas Verdächtiges sich zeige — Wagen mit Unbekannten vorfahren — Menschen, die Polizeikreaturen sein könnten, wie zufällig sich treffen und in das Haus treten. In einer Viertelstunde, ehe noch das Haus sich füllt, kehrst du hierher zurück und hilfst die Schätze vorläufig in unseren paar Kästen und unseren Matratzen zu verbergen, bis wir sie von morgen ab unbemerkt in deinen Teppichballen aus dett Haus zu dem Dolmetscher, dem Litauer, bringen können!“

„Ich höre, Herr!“ Machmet, der Tatar, huschte die Treppe hinab. Seine fast bartlosen Lippen grinsten unten am Tor zu Ossip, der breitbeinig dastand und ihm fragend seitt einziges, tückisches Auge zudrehte.

„Er geht ans Werk“, keuchte der Tatar. „In fünfzehn Minuten müsst ihr hinaufkommen und ihn überraschen. Der dumme Sperling ahnt nicht, dass die Geheimpolizei längst im Hause ist!“

„Sie warten auf ihn. Sie sitzen auf der Kellertreppe, rauchen Papyrossen und halten ihre Pistolen schussfertig“, sagte der Riese im roten Hemd. „Ich werde es ihnen melden: in einer Viertelstunde also!“

„Ich hoffe, man wird den Volksfeind gleich auf der Stelle angesichts seiner Schätze töten!“ sprach sinnend der kleine, bleiche Tatar.

„Es wäre das Beste!“ nickte Ossip, der Gottlose. „Man ist dann aller Mühen überhoben! Man wickelt Grischas Leiche in einen deiner Teppiche, fährt sie, so lange es noch Nacht ist, zur Moskma und wirft sie hinein! Wozu hackten da die Fischer die Eislöcher?“

„Du, Vater Ilja!“ spricht oben in Nummer acht Grischa zu dem Branntweinpächter, „hocke dich im Treppenhaus auf die Stufen! Du tust es ja oft, wenn du betrunken heimkommst und dir das Steigen sauer wird.

Deine Aufgabe ist es — so wie Nachmer die Strasse beobachtet — das Innere des Hauses im Auge zu behalten und, wenn du fremde Gesichter oder sonst etwas Gefahrdrohendes siehst, sofort Jermolai zu warnen. Du findest ihn hier oben auf unserem Flur. Er weiss, wo ich bin. In einer Viertelstunde bist auch du wieder auf unserer Nummer!“

„Gut, Guer Wohlgeboren!“ Vater Ilja schlurfte hinaus. Draussen schüttelte ein Kichern seinen schwammigen Körper. Er beugte sich über den Strick, der als Geländer diente, und spuckte hinunter. Der Lufklatsch unten war das verabredete Zeichen. Dort in der Liefe erschien der Kopf des Gottlosen und äugte in die Höhe. Der alte Gäufer oben spreizte dreimal die fünf Wurstfinger seiner Rechten. Das hiess: ,Wartet noch fünfzehn Minuten! Dann kommt alle herauf!‘ Ein Nicken unten: „Wir wissen schon Bescheid!‘

„Nun lasst uns beide gehen!“ sagt oben im Zimmer der Kirchensänger Jermolai zu Grischa, und Grischa der Geiger lächelt und schüttelt seinen blondmähnigen Kopf.

„Wir brauchen nicht zu gehen! Wir sind schon da!“

„Wie denn, Herr? Hier im Zimmer . . .?“ Der Schwindsüchtige schaut verstört die schmutzigen, hell vom Mond beschienenen Wände entlang.

„Glaubst du, ich hätte umsonst alles daran gesetzt, mir gerade in diesem Raum einen elenden Schlafplatz gegen einen besseren im Unterstock einzutauschen?“ sagt Grischa. „Ich gab vor, ich liebte es, gerade in einer Zimmerede zu nächtigen. So brachte mich Gottes Hilfe hierher und zu euch. Seit vielen Wochen bin ich meinem Reichtum so nahe, dass ich ihn mit Händen greifen könnte, wäre nicht die Mauer dazwischen!“

„Diese Mauer hier?“

„Ja. Dies sage ich nur dir, Jermolai! Du warst Kirchensänger. Von deinem Knabenalter ab war dein Leben dem Lob Gottes gereiht! . . . Dir vertraue ich am meisten von euch allen!“

„Öffne die Mauer! Zeig mir die Stelle!“

„Ich darf es nicht, Jermolai!“

„Wenn du mir doch vertraust, Herr, wie du sagst!“

„Ich habe meinem Vater geschworen, niemals anders als auf dem Sterbebett einem Menschen den Zugang zu dem Schatz zu verraten! Dieser Schwur bindet nich! Verarge es mir nicht, Bruder!“

Grischa der Geiger fasste den Psalmensänger Jermolai mit einer Hand an der Schulter, drückte mit der anderen die Türe auf und schob ihn auf den Flur hinaus.

„Du wirst da draussen als dritter Posten vor dem Zimmer Wache stehen und jeden fernhalten, der etwa aus irgendeinem Grund zu uns will!“ sagte er. „Still! Keinen Widerspruch! Hast du Lust, im Polizeihof einen Fangschuss hinters Ohr zu kriegen?“

„Gott schütze uns vor der Polizei!“

„So tue, was ich sage! Berwache die Tür, da sie sich nicht verriegeln lässt. Ich muss hier allein mein Werk vollbringen! In einer Viertelstunde, wenn die Geheimkammer wieder geschlossen ist, rufe ich dich herein! Du stammst aus Kasan! Schwöre bei der wundertätigen Kasanschen Mutter, dass du nicht früher eindringst!“

Jermolai, der Schwndsüchtige, stand vor der Tür. Er stand nicht lange. Er hustete ein paarmal, zum Zeichen nach innen, dass er auf dem Posten sei. Dann schlich er lautlos den Gang entlang, in das Treppenhaus hinaus, bewegte zehnmal den knochendürren Zeigefinger in die Tiefe und meldete so: ‚Kommt in zehn Minuten . . .!‘

Und nochmals das Zeichen: ‚In zehn Minuten! Nicht in fünfzehn! Merkt es euch, ihr da unten vom Lubjarika-Platz! In zehn Minuten! Dann steht die Geheimkammer noch offen!‘ . . .

Grischa der Geiger war allein. Seine blauen Augen schweiften noch einmal durch den mondhellen, kahlen Raum, ob nicht in den einzigen Schattenflächen unter den verrosteten und zerbrochenen eisernen Bettstellen eine unbestimmte menschliche Gestalt bäuchlings liegett und lauern könnte . . .

Nichts zu sehen — natürlich — behalte du nur jetzt um Gottes willen deine Nerven, Grischa, in dieser entscheidenden Stunde! Nichts zu hören als aus dem Nebenraum, nicht durch die dicke Zwischenmauer, sondern vom Flur her durch die beiden dünnen, geschlossenen Türen, einmal das kurze, stöhnende Auflallen Iwan Flugs, des wahnsinnigen Professors„ im Schlaf. Es klang wie der Aufschrei eines gequälten Tieres. Dann war es wieder still. So unwahrscheinlich stil, so unheimlich still wie sonst nie in dieser som Morgen bis zum Abend von Gerufe, Gelaufe, Geläute, Gebämmere, Gebell erfüllten Hochburg der Mühseligen Moskaus. Nur von ferne immer noch die getragene dumpfe Musik zu Ehren des toten Litzband. Gott sei Dank: solch eine Trauerparade schreitet langsam. Noch dreizehn Minuten . . . noch dreizehn . . . an ihnen hängt Armut oder Reichtum . . . hängt Tod oder Leben . . .

Grischa kniete auf dem Teppich nieder. Er öffnete einen kleinen Koffer aus mottenzerfressenem Seehundsfell. Er warf die paar armseligen Stücke seine Habe heraus, die obenauf lagen: ein rotes Baumwollhemd mit nur einem Ärmel, einen einzelnen rechten Juchtenstiefel, ein Stück wasserfleckiges Roggenbrot, eine Schachtel mit einem Dutzend Streichhölzer, ein Bündel Bindfadenenden zum Befestigen der Stiefelsohlen, zwei alte Flanellappen zum Umwickeln der Beine gegen die Kälte — Dinge son Wert in Moskau.

Dann wurde Grischas bärtiges Antlitz ernst und andächtig. Er holte eine kleine Blendlaterne heraus und entzündete das Talgstümpfchen in ihrer Mitte und hielt sie so, dass ihr Schein zwischen den drei Blechseiten nur die Wandfläche neben Grischas Lagerecke schwach erhellte. Nun griff er nach einer dünnten Schnur aus grüner Seide. Er hatte sie um seinen Leib gemickelt aus dem Ausland mitgebracht. Er wusste: sie war über zwei Meter lang, auf den Millimeter genau so lang wie das russische Längenmass, der Faden.

Grischa der Geiger mass diese Fadenlänge waagrecht von der Stubenecke aus, in der sein Bett stand, an der Zwischenwand zu der Nummer neun nebenan ab. Er machte an dem Endpunkt mit einem verkohlten Streichholzstummel einen schwarzen Tupf auf die schmutziggraue Tünche. Nun mass er vom Boden aus die halbe Fadenlänge senkrecht zu diesem Tupf empor und malte an ihrem Ende ein kleines schwarzes Zündholzkreuz auf die Mauer. Zu sehen war an dieser Stelle der Wand nichts als Staub und Kalkgebröckel. Aber Grischa hatte schon oft genug, wenn er allein im Zimmer war, da etwas beobachtet . . .

Grischa der Geiger fischte aus dem Seehundskoffer ein sorgsam in Lederstücke gervickeltes, gestieltes Vergrösserungsglas. Er hielt es in der Rechten. Er trat dicht an die Wand und beleuchtete mit der Laterne das winzige schwarze Kreuz. Er brachte mit leije zitternder Hand die Lupe vor das rechte Auge.

Durch den gewölbten Schliff dieses Rundspiegels gesehen, war da nicht mehr die einförmige, grobkörnige Tünche der Wand. Da war eine Mondlandschaft son kleinen Kratern und Hügeln, von eingetrockneten Seen, die Wanzenblut waren, von schwarzen Inseln, in die sich der Fliegenschmutz verwandelt hatte.

Und inmitten dieser, in das Riesige vergrösserten Kalkwelt klaffte jetzt da . . . da . . . da ganz deutlich unter dem schwarzen Kreuz ein winziger, ein ganz winziger, eben noch durch das Vergrösserungsglas erkennbarer Spalt.

Grischa der Geiger hatte einen Uhrschlüssel zwischen den Zähnen festgeklemmt. Er legte den kleinen Finger der linken Hand, in der er die Laterne hielt, auf das herzförmige Pfännchen in der Mauer. Er liess die Lupe leise aus seiner Rechten auf den Teppich gleiten. Er löschte mit feuchtem Zeigefinger die beiden Zeichen aus Zündholzkohle, die verräterischen Wegweiser an der Wand. Er nahm mit der rechten Hand den Uhrschlüssel aus den Lippen und drückte ihn vorsichtig, prüfend und tastend in diese kaum fühlbare Mulde unter seinem linken kleinen Finger hinein!

Guche, Grischa — suche . . .

Neben dir steht plötzlich dein Vater — durchsichtig im Vollmondschein und aus bläulichen Strahlen ein Gespenst — ein Gespenst? — nein! Ein guter Geist. Das ist der liebe Vater, der Betreuer deiner Kindheit, bleich, altersgrau, aber deutlich erkennbar, und es ist, als murmelten eine langbärtigen Lippen: du bist mein einziger Sohn und Erbe, Grigorij! Nimm dein Eigentum wieder!

Suche, Grischa — suche mit dem zitternden Uhrschlüssel die entscheidende, die stecknadelgrosse Stelle! Du kennst sie ja von früher. Du siehst dich wieder mit dem Vater hier vor der Wand stehen, vierzehnjährig, in grüner Gymnasiastenuniform, und der Bass des Vaters spricht: wenn du je in deinem Leben es nötig hättest, Schätze zu verbergen — siehe, Grigorij, hier ist der Ort.

Und zehn Jahre später stehst du wieder da mit dem Vater, aber diesmal schon bärtig, in feldgrauem Kriegsgewand, bereit, wider die Deutschen in den Kampf zu ziehen, gegen die dein Selbstherrscher, der Zar, jetzt die Mobilmachung aller seiner Völker zwischen der Memel und dem Stillen Ozean befohlen hat. Und der Vater bekreuzigt sich und seine tiefe Stimme spricht ‚Vielleicht findest du mich nicht mehr vor, wenn ihr siegreich aus Berlin heimkehrt. Darum merke dir noch einmal genau die Stelle!‘

Die Wolga ist breit. Oft kaum das andere Ufer zu sehen. In den Wogen der Wolga treibt, von der Jahrmarktsbrücke von Nishni-Nowgorod her, wo er sich in die Fluten gestürzt, die Leiche des Vaters dem Kaspischen Meer entgegen. Dein Vater hat wahr gesprochen. Du hast ihn nicht wiedergesehen, Grischa! Aber dein Erbteil hat er treulich aufbewahrt, dein Erbteil vor Gott und den Menschen! Seit sieben Jahren wartet es auf dich . . . hier . . . hinter diesen Mauern . . .

Was ist das? Auf Grischas Stirne tritt kalter Schweiss der Erregung — sein Herzschlag steht still, in der tiefen Stille des Hauses. Was ist das? . . . Nein! Es ist keine Täuschung: die Wand beginnt ganz leise zu zittern. Es ist, als käme ein seltsames Leben in den toten Stein, unter dem Druck des Uhrschlüssels auf diesen — gerade auf diesen Punkt, den er jetzt eben getroffen hat.

Die Wand fängt an, sich zu bervegen. Ein bisschen feitter Mörtelstaub rieselt von ihr herab. Er wird mehr, und mehr. Da drinnen im Gemäuer rumpelt es. Es seufzt, als erwache einer aus tiefem Schlaf . . .

Halte dein Herz mit beiden Händen, Grischa: da entsteht plötzlich ein langer, schmaler, schwarzer Spalt senkrecht im Grundweiss des Kalks. Er weitet sich langsam.

Jetzt ist er schon handbreit. Eine seltsame, warm süssliche Moderluft strömt aus ihm heraus . . .

Ein mannshohes, mannsbreites Mauerstück dreht sich an einem unsichtbaren, innen eingebauten Zapfen aus der Wand heraus, bleibt mit einem kurzen Ruck senkrecht zu ihr, in die Stube hinausragend, stehen. Neben ihm, da wo es bisher gewesen, klafft ein längliches Viereck von freier, staubdunkler Luft als Eingang in eine Kammer, in ein Mauerloch ohne Fenster, sechs Fuss im Geviert. Ein Mann kann in ihm aufrecht stehen. Seine Backsteinrückwand ist die zweite Hälfte der dicken Zwischenmauer gegen die Nachbarstube neun.

Immer noch rieselt der Kalt aus der geöffneten Fuge, in der sich das Wandstück im rechten Winkel gedreht hat. Und Grischas erster Gedanke, der ihm unwillkürlich durch den Kopf geht: wir müssen den Mörtelstaub auf dem Teppich sammeln. Wir müssen mit dem Staub, sobald die Wand sich wieder geschlossen hat, noch vor Sonnenaufgang den Spalt in ihr verstopft und überdeckt haben, damit kein fremdes Auge — vor allem nicht das einzige Auge des Hausverwalters Ossip – etwas merkt.

Dann kommt Grischa dem Geiger die klare Besinnung des Augenblicks wieder. Noch zehn Minuten Zeit . . . Er leuchtet mit der Laterne in die Geheimkammer. Und abermals wider seinen Willen eine Erinnerung an die Kindheit — an Märchen aus Tausendundeiner Nacht — an Aladin und die Wunderlampe . . .

So gleisst es da drinnen und funkelt im dürftigen, unstät zitternden Laternenlicht. Kostbare Kirchengewänder aus grauen Jahrhunderten liegen da in Stössen auf dem Steinbodent, juwelenbesetzte Brokatkronen türmen sich übereinander gestülpt, breite, mit Heiligenbildern geschmückte Brustgeschmeide altslawischer Kriegsfürsten schimmern zu Haufen geschichtet. Auf einem Zarenthron aus lauterem Gold liegt das tödlich zugespitzte Elfenbeint-Zepter Iwan des Schrecklichen. Als buntfarbige Leinwandrollen lehnen bündelweise in den Ecken die aus ihren Rahmen gelösten, auf Gold gemalten altrussischen Heiligenbilder. Alles wirt durcheinander, in fliegender Haft der Flucht, von dem Teehändler Grigorieff hineingeworfen und gestopft. Alles, selbst die kostbarsten Prunkstücke. Da oben auf dem Holzschragen, der die ganze Länge der Hinterwand einnimmt, liegen sie, aus ihren Glasvitrinen der Galeriesäle unten gerettet. Märchengrün leuchtet da der mächtige Smaragd von Bagdad, himmelblau der berühmte Sternsaphir von Peking, safrangelb die tauben eigrosse Perle Luciana, blutrot der riesige Rubin des letzten Zaren von Kafan.

Aber das alles verblasst gegen die Königin der Sammlung Grigorieff — eine entthronte Königin hier im nachtdunklen Exil und doch so sieghaft, wie sie durch ein Jahrtausend über den Wechsel der Völker und der Fürsten geleuchtet: die Krone des heiligen Alexander Newski von Wladimir, märchenhaft alt, märchenhaft an Wert, mit den neunhundert Diamanten und Perlen von unwahrscheinlicher Grösse, die den Stirnreif aus frühbyzantinischern Filigrangold überglitzern und das edelsteinfunkelnde Erlöjerkreuz über dem Diadem mit dem sagenhaften Mammut-Diamanten Indrapat krönen.

Lasse dich nicht blenden, Grischa! Noch sieben Minuten. Dann ist das Gnadengeschenk des Schicksals, dann ist die Viertelstunde verstrichen. Greif zu, Grischa! Greif zu! . . . Das alles liegt bereit! Das alles sucht seinen Herrn! Das alles will zu dir!

Sieben Minuten. Genug, um den kostbarsten Inhalt der Geheimkammer in das Mondlicht der Nummer acht herauszuholen! Vor allem die Krone Alexander Newskis! Sie ist allein beinahe soviel wert wie alle an dern Schätze zusammen. Grischa der Geiger streckte beide Hände nach dem Kleinod aus, fuhr mit einem halblauten Schreckensruf herum. Gelber Lichtschein vom Flur fiel durch die jäh aufgestossente Türe in das dämmerige Gemach. Eine dunkle Männergestalt stand auf der Schwelle.

„Schwurst du nicht bei der Mutter von Kasan, nicht hier einzudringen, Jermolai?“ rief Grischa atemlos. Und ein plötzlicher Schrecken: „Oder droht Gefahr?“

Der an der Türe hob warnend den Arm und nun erkannte Grischa: das war nicht der Psalmensänger. Dieser wirre Bart, dieses hagere Hungergesicht gehörten dem Professor Iwan Flug von nebenan. Ein blinder Zorn überkam Grischa. Er packte den Bettler an der schmutzigen, offenen Hemdbrust und drängte ihn hinaus.

„Störe mich nicht, du Wahnsinniger!“ keuchte er. Und das verwilderte Menschenskelett im Ringen init ihm mit einer plötzlich starken, tiefen, ganz veränderten Stimme:

„Merken Sie denn nichts, Sie Verrückter?“

„Jermolai . . .“ Im Kampf mit Iwan Flug schaute Grischa durch den Flur. „Warum liessest du den Iwan herein? . . . Jermolai – wo bist du?“

„Jermolai!“ der andere wies mit der Knochenhand durch die offene Flurtüre in das Stiegenhaus. „Da draussen winkt er über den Geländerstrick der Geheimpolizei zu! Sie kommen! Hören Sie nicht die vielen dumpfen Tritte auf der Treppe?“

„Was ist das?“ stammelte Grischa der Geiger.

„Ich habe Sie schon seit Wochen beobachtet!“ Plötzlich sprach der wahnsinnige Professor ganz vernünftig, ganz zusammenhängend und klar. „Ich hörte das Gerumpel in der Mauer! Ich ahnte, mas vorging! Ich musste Sie retten! Schnell!“

Er riss den Geiger mit sich, dem dämmerigen Ende des Flurs zu. Grischa taumelte.

„Wer sind Sie?“ keuchte er.

„Einerlei! . . . da . . .“ Iwan Flug wandte die Hohlaugen über die Schulter rückwärts. „Da sind sie schon draussen auf dem Treppenabsatz! Ilja und der Tatar an der Spitze! Rennen Sie hier die Hintertreppe hinab! Mit Gott, Kamerad!“

Es klang seltsam fanatisch, dies Kamerad!“ . . . Der Professor Iwan Flug schlurfte eilig in seine Nummer neun zurück. Er kletterte auf seine zerrissene Matratze. Er sass aufrecht auf ihr, starr, mit offenem Mund, und schlief mit offenen, verglasten Augen — ein lebender Leichnam. So mochten sie ihn sehen, die roten Büttel, wenn sie auf der Suche nach Grischa in sein Zimmer drangen.

Und in Grischa dem Geiger war in dieser Sekunde nur noch eines: der blinde Selbsterhaltungstrieb der Kreatur. Gott sei Dank: jedes bessere russiche Haus hatte seinen rückwärtigen Eingang, seine schwarze Treppe. Da, am Ende des Flurs, führte die schmutzstarrende, steinerne Stiege steil in die Tiefe. Grischa sprang in Sätzen durch das Dunkel die Stufen abwärts. Es schoss ihm unterwegs durch den Kopf: drunten an der Hinterpforte stehen sie natürlich bereit und warten auf dich! Wie sollten sie nicht alle Eingänge besetzt haben? Sie werden dich fangen wie eine flatternde Henne! Du bist verloren da unten, Bruder! . . .

Er machte jäh halt. Er stand auf dem Treppenabsatz des Zwischenstocks. Dessen Flurtüre klaffte angelehnt. Wer hätte auch innen auf ein Klingeln öffnen sollen, wo alle Bewohner dieser Zimmer draussen auf dem Arbâtplatz standen und den Leichenzug Litzbands anstarrten? Grischa trat in den Flur und stiess finster entschlossen auf gut Glück die nächste Stubentüre auf. Er sah im Mondchein den Unterkunftsraum einer ganzen Familie. Zwei grosse Bettstellen, drei Kinderbetten auf dem Boden. Eine Wohnecke mit Sofa und Schaukelstühlen. Auf dem Waschtisch zwischen Zigarettenstummeln die Reste eines Pilzgerichts.

Leer das Zimmer — dank der heiligen Dreifaltigkeit leer! Grischa der Geiger atmete auf. Er stürzte zu dem Fenster. Er rüttelte an den mit Eisblumen verkrusteten Glasscheiben. Sie waren nach russischem Brauch für die ganze Winterszeit fest verschlossen, selbst ihre Ritzen noch mit hineingestopften Moosstreifen gedichtet. Für frische Luft gab es nur die Zugschnur zu der Klappe eines ganz kleiner verglasten Mauerlochs an der Wand, hoch oben, gleich unter der Decke.

Der Fenstergriff ächzte unter Grischas Faust. Der eingefrorene Doppelrahmen drehte sich knirschend in den vereisten Angeln. Die schneidende Kälte der Aussenluft schlug Grischa in das bärtige Antlitz. Er kletterte auf die Fensterbrüstung. Still und dunkel lag da unten eine menschenleere Seitengasse. Er mass mit einem Blick die Tiefe. Zehn, zwölf Fuss! Nun gut! Er liess sich an der Aussenwand hinabgleiten, hing an den festverkrampften Fingern der linken Hand, gab sich mit dem rechten Handteller einen Abstoss, landete unten in einem tauweichen, aufspritzenden Schneehaufen, versank in ihm bis an die Hüften, rappelte sich aus dem schwärzlichen Brei heraus, ehe noch dessen kalte Nässe durch den Schafpelz drang, ging auf einmal, fast ohne seinen Willen, die schmale Galle entlang, so wie er immer gegangen, gemächlich, ganz unauffällig . . .

Er wanderte schleppenden Schrittes weiter, halb wie im Traum, blieb stehen, sah sich um: da um ihn dehnte sich schon der Pratz des heiligen Nikita. Viele Strassen liefen hier zusammen. Auf keiner war etwas von Verfolgern zu sehen.

Gerettet, Grischa . . . Und jetzt erst ging es Grischa dem Geiger durch den Kopf: grosser Gott — was ist denn eigentlich geschehen . . .?

Grischa der Geiger

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