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3.

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Und Grischa geigt . . .

Im Speisezimmer der Wohnung des Amerikaners William J. Roop in der Twerskaja sitzt er im Hintergrund, halb im Schatten, und fiedelt ohne Noten, so wie es ihm durch den bald schwermütigen, bald hoffnungsheissen Sinn geht, in die Ohren der Tischgäste, die der Vertreter der gewaltigen Nazareth-Stahl-Compagnie drüben in Detroit für heute abend zu sich gebeten hat.

Er, der Hausherr, der untersetzte, grauköpfige, glattrasierte Fünfziger ist der einzige in der Tafelrunde, der Grischa zuhört. Das grosse runde Geschäftsgesicht ist andächtig wie in der Kirche. Die nüchternen Augen schauen ergriffen in das Leere. Diese einfachen Töne aus Steppe und Birkenwald, diese unvermittelt wehmütigen und übermütigen Naturlaute der russischen Erde empfindet er mit — er, der Selfmademan aus der Prärie. Da ist nichts von der Kompliziertheit des überalterten Europa und seines raffinierten, unverständlichen Notengewirrs.

Seine Gäste kümmern sich nicht viel um das Gefiedel in der Ecke. Es sind nur Herren. Tsao, der greise chinesische Teehändler, in angelsächsischem Smokinganzug, steifer Hemdbrust und Lackpumps, blinzelt mit seinen klugen Schlitzaugen durch den Zwicker den grossen Blechkästen nach, in denen nur noch einzelne Kaviarkörner kleben.

„Dies ist der wahre Schwachgesalzene!“ spricht der alte ostasiatische Feinschmecker in feltsamem Englisch. „In meiner Jugend fuhr ich nach Astrachan und schöpfte den Kaviar ungesalzen mit der Hohlhand unmittelbar aus dem Bauch des Störs.“

„Ich hätte einen Zollstock mitbringen sollen, um die Länge Ihres Sterlett zu messen!“ sagte geniesserisch in etwas singendem Russisch Jechiel Bendavid, der krausbärtige Moskauer Hebräer von der strengen altgläubigen Sekte der Karaim, der Schriftgetreuen.

„Gospodin Bendavid drückt Ihnen seine Zufriedenheit mit der Bewirtung aus, Mr. Roop!“ dolmetscht vom Büffet her, wo sie den Aufmarsch der Schüsseln beaufsichtigt, seine Sekretärin, Fräulein Frobe. William J. Roop kehrt bei ihren Worten von Grischas Geigenspiel in diese Welt zurück. Er wird wieder der wohlgelaunte Hemdärmelmann von jenseits des grossen Wasfers, mit dem Wahlspruch: „Lächeln in allen Lebenslagen!“ Er schlägt geräuschvoll Gesinus van Aaken auf die Schulter, dem noch jungen Holländer-Erdölagenten mit dem von der Glut Zentralasiens im Kampf um den Petroleummarkt gebräunten Bulldoggenkopf.

„Sie sollen nicht länger bei Fischeiern und Fischgräten hungern!“ tröstet er ihrt. „Sehen Sie da die unwahrscheinlich riesigen Rippenstücke eines Kalbes, das nach russischer Art zwei volle Jahre hindurch ausschliesslich nur mit Milch, von einer Kuh nach der andern, gesäugt worden ist! Sind Sie zufrieden?“

„Nur wenn ich auf Ihre Gesundheit trinken darf, Fräulein Anna!“ spricht der Mynheer und hebt sein Glas nach dem Büffet hit und hört von dort Anna Frobes Antwort in gelassenem Französisch, das sonst niemand am Tisch versteht.

„Sie haben schon einen roten Kopf, Herr van Aaken! Denken Sie daran, dass Mr. Rockfeller, euer grosser Feind, nur Milch und Wasser trinkt!“

Und der Geiger in der Ecke merkt: Anna Frobe lässt sich nichts bieten. Sie hält sich die Gentlemen aller Nationen, jeden nach seiner Eigenart, auf drei Schritte vom Leibe.

Und Grischa spielt und kümmert sich nicht darum, was die Weltgeschäftsmänner drüben am Tisch reden. Es ist zu weit, um durch das Singen der Saiten das Gemurmel dort zu verstehen.

„Wie geht es Litzband?“

„Ich höre, etwas besser!“ spricht Gesinus van Aaken, und Tsao, der alte Chinese im Smoking, lächelt das rätselhafte Lächeln des Ostens.

„Er soll keine Schmerzen mehr haben!“ sagt er.

„Das wäre ein gutes Zeichen!“ meint arglos Jechiel Bendavid.

„Kurz — man weiss nichts Gewisses!“ entscheidet. William J. Roop und erhebt sich. „Endlich kommen Sie, alter Bursche!“ und zu der Tafelrunde gewendet: „Gentlemen — ich brauche diesen Herrn nicht erst bei Euch einzuführen! Ihr kennt ihn alle! Setzen Sie sich, Graf Ragosin!“

Der neue Gast war ein blasser, eleganter Russe zu Anfang Vierzig, mit der überschlanken, langen Gestalt und den schmalen, abfallenden Schultern des Petersburger Grossfürstentyps. Auch sein längliches, schnurrbärtiges Gesicht, dem die kurzen Bartstreifen an den Wangen etwas vom ehrbaren Kaufmann gaben, zeigte nichts vom derben Schnitt des Moskauer Grossrussen. Es erinnerte eher schon an die Ukraine oder auch noch weiter nach Süden hinab. Es war da noch eine fremde Mischung — in der bräunlichen Gesichtsfarbe, dem Schwarz der Augen und der Haare, etwas von der Levante.

Der Fremde schüttelte allen mit der verbindlichen Sicherheit eines Mannes der grossen Welt die Hände. Er hatte ungezwungen-geschmeidige Bewegungen, wie er seinen bisher leeren Platz an der Tafel einnahm. Er zeigte lächelnd unter dem dunklen Schnurrbart die weissen Zähne.

„Oh . . . nichts vom Grafen, Mr. Roop!“ versetzte er in ausgezeichnetem Englisch, das Grischa in seiner Ecke durch sein Seigenspiel hindurch nicht verstehen konnte. „Ich war es einmal — nach dem Willen Gottes! Ich muss es zugeben! Ich bin es vielleicht noch im Ausland! Aber hier in Russland bin ich ein schlichter Kunstmakler, ein Sohn der neuen Weltordnung, und füge mich ihr, die mir das Vertrauen schenkt, dass ich in ihrem Auftrag den Verkauf russischer Kunstschätze an das Ausland betätigen darf, so weit meine bescheidenen Verbindungen in Europa reichen!“

„Oh . . . sind Sie da nicht sehr traurig, mit uns Vertretern des verruchten, westlichen Kapitals an einem Tisch sitzen zu müssen, Herr Ragosin?“ erkundigte sich Gesinus van Aaken.

„Ich halte mich grundsätzlich streng von aller Politik fern, gerade weil ich kaufmännisch zwischen Moskau und dem Ausland vermittele!“ Sergius Ragosin ging plötzlich in leidliches Holländisch über. Er erhob sich und verbeugte sich liebenswürdig nach der Türe, durch die eben vom Flur aus Anna Frobe rasch einmal nach dem Rechten schaute.

„Guten Abend, meine Gnädigste!“ rief er in tadellosem Deutsch. Dann fiel sein Blick auf den blonden Seiger in der Ecke, und seine Sprache wurde russisch laut und vertraulich, so dass jener seine Worte verstehen konnte.

„Sieh — da bist du ja!“ winkte er. „Komm näher, Grischa!“ Er reichte dem Spielmann aus dem Volke brüderlich die Hand. „Sind Sie mit meiner Empfehlung zufriedent, Mr. Roop?“ Es klang wieder Englisch und dann, während Grischa düster an seinen Platz zurückkehrte, zu den anderen Gästen: „Ich habe den Teufelskerl ein paar Mal auf dem Arbât-Platz spielen hören. Ich erkundigte mich bei dem nächsten Milizionär. Er wohnt im ehemaligen Palast Grigorieff . . .“

„Einem Gespensterhaus . . .“ murmelte Jechiel Bendavid, der Karaim.

„Wieso Gespenster?“ Der internationale Kunsthändler Ragosin schöpfte sich mit der Kelle ein paar Hände voll Kaviar aus dem Blechkasten.

„Nun — es sollen da Schätze verborgen sein . . .“

„Vielleicht mehr Schätze als sonst, mit Ausnahme des Kreml, unter irgendeinem Dache Moskaus!“

Grischa der Geiger hatte sich wieder im Hintergrund auf seinen Stuhl gesetzt. Er konnte kein Wort des Gesprächs am Tisch verstehen. Es interessierte ihn auch nicht, was diese Geldmänner über Stahl und Tee, Erdöl, Devisen und Gemälde miteinander schwatzten und wieviel sie daran verdienen mochten. Er spielte leise und träumerisch und dachte an heute nacht. Wird Litzband sterben? Wird er nicht?

„Ich habe den alten Grigorieff noch wohl gekannt!“ sprach am Tisch drüben Mr. Tsao, der chinesische Teehändler. „Er war mein Geschäftsfreund. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er langbärtig und bedächtig die Teeblätter zerkaute, an ihnen roch, sie zerkrümelte. Oh — Grigorieff liess sich nicht täuschen. Er war klug!“

„Das hat er durch das Versteck seiner Kunstschätze bewiesen!“ Jechiel Bendavid langte nach einer Schüssel verzuckerter Kieffer Veilchen. „Seit Jahren sucht man umsonst nach ihnen! Es ist ein Rätsel!“

„Es ist — belieben Sie mir zu verzeihen — kein Rätsel!“ Der Kunsthändler Ragosin sprach noch leiser. „Es ist einfach die Erfindung des Bürgers Tolschinski aus dem Jahre 1684.“

„Wie das?“

„Er baute als Schatzkammer bei feindlichen Einfällen über der rechten Seitenkapelle der Troizy-Kirche in Twer die berühmten ‚Geheimen Zimmer“. Diese Zimmer sind heute noch vorhanden!“

„Und was ist deren Geheimnis?“

„Die Stärke der Zwischenmauern eines Gebäudes“, sagte Sergius Ragosin gedämpft, erst auf Englisch, dann auf Russisch. „Macht man sie weit dicker als nötig, so lassen sich in ihrem Innern Hohlräume anbringen, zu denen durch einen Fingerdruck auf eine nadelkopfgrosse Stelle in der Mauer eine Pforte sich öffnet, und die durch kein Beklopfen der Wände, durch keine Messungen von aussen festzustellen sind. Man muss den winzigen Schlüsselpunkt kennen. In solch einem Geheimraum ruhen unzweifelhaft drüben in der Powarskaja die Museumsschätze des alten Grigorieff.“

„Und was für Schätze!“ seufzte Jechiel Bendavid, der Hebräer.

„Sie sind unermesslich!“ sagte der Kunsthändler. „Da ist der berühmte Smaragd von Bagdad, der grösste der Welt. Da ist der Sternsaphir von Peking, ein märchenhaftes Stück, weil es in seiner Härte selbst vom Diamanten nicht geritzt wird. Da ist die safrangelbe Riesenperle Luciana von Taubeneigrösse, deren Wert schon vor zwei Jahrhunderten auf eine halbe Million Rubel geschätzt wurde . . .“

„Erbarmen Sie sich und hören Sie auf!“ stöhnte der Karaim.

„Es gibt da Zarenzepter, die mit Tausenden von Edelsteinen besetzt sind. Handhohe Diamantenkreuze über Brokatkronen . . .“

„Und alles für immer vermauert und verschwunden!“ Jechiel Bendavid weinte beinahe.

„Aber dies alles verblasst gegen das unschätzbare Prunkstück der Sammlung, um das alle Museen der Erde den alten Grigorieff beneideten . . .“ sprach Sergius Ragosin beinahe feierlich, „um die Krone des heiligen Alexander Newski, Grossfürsten von Wladimir, des Schutzherrn Russlands!“

„Ist die Krone sehr alt?“ erkundigte sich William J. Roop gespannt.

„Sie hat ein märchenhaftes Alter, vielleicht von

Jahrtausenden. Michael Paläologos fand sie 1261 nach der Eroberung von Byzanz unter den dort gewonnenen Kirchenschätzen und schenkte sie eben dem heiligen Alexander von Wladimir, um diesen für seinen Lieblingsplan, die Wiedervereinigung der lateinischen und griechischen Kirche zu gewinnen. Aus Wladimir, wo sie über dem Grab Alexander Newskis in der Roshdestwenskaja-Kirche aufbewahrt wurde, flüchtete zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts der Grossfürst Alexander vor den Tataren mit ihr nach Pskow in die Kathedrale ‚Zur heiligen Dreifaltigkeit‘. Dort hat sie während der Unruhen von 1906 der alte Grigorieff von den geängstigten Mönchen erworben, die gar nicht ahnten, welchen Schatz sie besassen!“

„Diese Krone wäre etwas für meine Frau!“ rief William J. Roop und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Alle Gäste platzten heraus. Der humoristische Graukopf des Hausherrn drehte sich majestätisch in der Runde.

„Lacht nicht, Gentlemen! Für Mrs. Roop ist mir nichts zu gut und zu teuer! Ich bin mit meinen Gedanken ständig bei ihr. Fragen Sie Fräulein Frobe, ob es nicht mahr ist!“

„Ich kann es bestätigen!“ rief aus dem Arbeitskabinett, wo sie den Rauchtisch richtete, Anna Frobe mit heller Stimme.

„Man hat in Europa das Wort ‚Dollarprinzessin‘ erfunden!“ fuhr William I. Roop fort. „Nun — dann ist meine Frau eine solche! Ihr Vater ist reicher als ich. Wohl: zu einer Prinzessin gehört eine Krone. In der Krone Alexander Newskis würde Mrs. Roop den kostbarsten Kopfschmuck der Welt besitzen! Ich wäre stolz darauf. Es wäre ein ernstliches Ziel meines Ehrgeizes!“

„Ich fürchte, Mrs. Roop wird eine unsichtbare Krone tragen müssen!“ seufzte Bendavid, der Schriftgläubige, und erhob sich. Die Herren traten in das Nebenzimmer William I. Roop liess seinen Gästen den Vortritt. Auf der Schwelle legte ihm der blasse, aristokratische Kunsthändler Ragosin leicht die Hand auf den Arm.

„Denken Sie, Sie fässen beim Poker!“ versetzte er leise. „Verziehen Sie keine Miene zu dem, was ich Ihnen jetzt anvertrauen merde!“

„Sie erregen meine Neugier, alter Junge!“ William I. Roops massiges Gesichtsrund war schläfrig unbewegt.

„Ich glaube, es wird mir möglich sein, Ihnen die Krone Alexander Newskis zu verschaffen!“

„Oh — ich wusste nicht, dass Sie zaubern können!“ Der Yankee blickte scheinbar zerstreut nach dem Rauchtisch drinnen, um den sich seine anderen Gäste niedergelassen hatten.

„Sie würden die Krone — natürlich zu einem ausserordentlichen Preis — in aller Form von der Regierung zur Ausfuhr in das Ausland erwerben, so wie das ja oft genug mit den von ihr beschlagnahmten Kunstwerken geschieht! Dafür bin ich ja da!“

„Erst müsst ihr doch die Krone haben!“ Der Mann der Nazareth-Compagnie hielt die kühlen Rechneraugen halb geschlossen, um ihr plötzliches leidenschaftliches Aufleuchten zu verbergen.

„Vielleicht werden wir die Krone bald haben!“ murmelte der Kunsthändler Ragosin. „Vielleicht — beherrschen Sie jetzt Ihre Mienen — vielleicht schon heute nacht!“

Der vierschrötige Graukopf drüben blinzelte ihn verblüfft und misstrauisch an.

„Wie wollen Sie das machen?“

„Das wird die heilige Dreifaltigkeit entscheiden! . . . Aber schweigen Sie zu jedermann!“ Sergius Ragosin nahm zwischen den anderen Platz. Er blickte nach der Türe zum Speisezimmer, durch die Anna Frobe das Rauchkabinett verlassen hatte. Er überzeugte sich, dass auch die zweite Türe nach dem Flur geschlossen war.

„Niemand draussen kann uns hier hören!“ versetzte er. „Nun kann ich Ihnen eine grosse Neuigkeit berichten . . .“

„Ich sagte schon vorhin, dass Litzband keine Schmerzen mehr hat!“ Der alte chinesische Teehändler lächelte das unergründliche Lächeln des Ostens.

„Sie wissen bereits, Mr. Tsao . . .?“

„ . . . dass Litzband schon heute mittag gestorben ist. Man hält den Todesfall noch geheim, um die Zurüstungen zur feierlichen Überführung der Leiche nach dem Kreml für heute nacht zu treffen!“

„Es wird ein gewaltiges Schauspiel! Halb Moskau wird auf den Beinen sein und die Strassen säumen, durch die der Zug geht!“ Sergius Ragosins längliches, vornehm geschnittenes Antlitz wurde plötzlich unruhig.

„Sie haben doch unsern guten Grischa nicht schon nach Hause geschickt, Mr. Roop?“ fragte er. „Sein Geigenspiel gehört gerade nach Tisch zu Havannas und Papyrossen!“

„Fräulein Frobe sättigt ihn nur jetzt schnell nebenan!“ Der Hausherr holte sich eine noch feuchte und biegsame Cuba-Zigarre aus ihrer luftdichten Glasröhre. „Der arme Schlucker hatte ja schon ganz irre Augen vor Hunger!“

Aber nebenan sass Grischa der Geiger mit gekreuzten Armen vor dem noch nicht abgedeckten Tisch und starrte auf die Restschüssel, ohne sie zu berühren.

„Nun warum essen Sie nicht?“

Anna Frobe fragte. Sie sass neben ihm. Sie wandte ihm freundschaftlich ihr klares, ernstes, junges Gesicht zu. Es klang eine leise, scheue Teilnahme in ihrer Stimme. Er schüttelte unmirsch den blondmähnigen Kopf.

„Ich bin es nicht gewohnt, in den Zimmern der Herren zu speisen! Mühseligen wie mir reicht man hinten auf der schwarzen Treppe im Namen Gottes einen Teller Kohlsuppe und ein Stück Brot!“

„Mühselig sind Sie!“ sagte Anna Frobe. „Aber die Zimmer der Herren sind Ihnen nicht fremd. Denn Sie waren selbst einmal einer! Das merke ich immer deutlicher!“

„Versprachen Sie mir nicht da unten vor dem Haus, mich nach nichts zu fragen?“ Grigorij Grigorieff fuhr jäh zu ihr herum. Seine blauen Augen leuchteten zornig. „Nun — dann belieben Sie und sehen Sie in mir den armen Geiger Grischa und weiter nichts!“

„Essen Sie doch, Genosse Grischa!“ sagte Anna Frobe leise und fügsam. Es klang fast mütterlich.

„Wie kann ich denn essen? Ich bin zu erregt!“

„Was bedrückt Sie?“

„Schon wieder drängen Sie mich . . .“

„ . . . weil ich Ihnen helfen möchte, wenn ich irgend kann!“

„Und warum das?“ Grischa schaute seine Nachbarin gereizt an. Auf dem reinen Rund ihrer schmalen Wangen war ein leiser, rosiger Schein.

„Sie tun mir leid!“ sagte sie einfach.

„Warum gerade ich?“

„Das weiss ich auch nicht! Es ist eben so!“

„Es gibt genug Menschen in Russland und draussen, die Gott in den letzten zehn Jahren gestraft hat. Zu ihnen gehöre auch ich! Da haben Sie recht, Herrin!“ sagte Grischa der Geiger. Seine Stimme verlor sich in Träumen. „Aber vielleicht brauche ich bald Ihr Mitleid nicht mehr!“

„Ich will es Ihnen nicht aufdrängen!“ sagte Anna Frobe halblaut und verstummte.

Es war ein Schweigen. Dann hielt ihr Grischa der Geiger mit einem weichen und kindlichen Lächeln seine Hand hin.

„Ich bin schuldig! Vergeben Sie mir!“ sagte er. „Sie meinen es gut mit mir! Ich hätte Ihnen danken sollen, statt mich mit meiner Armut zu überheben. Aber ich bin heute kein Mensch wie andere. In mir ist die Unruhe zu gross!“

„Ich bin Ihnen nicht böse!“ sagte Anna Frobe. Sie liess ihm ihre Hand. Sie fühlte seinen langen kräftigen Druck.

„Ich weiss nicht, was Sie an mir finden!“ sagte er. „Aber ich danke Gott, dass ich gerade heute einem Menschen begegnet bin, der mich kaum kennt und doch mit mir fühlt! Ich bin jetzt überzeugt: Ihre Teilnahme bringt mir Glück!“

„Oft kommt das Glück über Nacht!“

„Vielleicht schon diese Nacht, Herrin!“

Grischa der Geiger hob jäh das Haupt und horchte. Er sprang mit einem wilden Satz auf die Beine, rannte zum Fenster, riss es auf, spähte atemlos auf die spärlich erleuchtete, von einem schattenhaften Menschengemoge erfüllte Twerskaja hinab. Durch diese Massen von Männern und Frauen lief eine Bewegung, ein Murmeln rauher Bässe stieg aus sich ballenden Gruppen. Die Rufe heller Knabenstimmen kamen näher . . .

„Sie schreien die Zeitungen aus!“ keuchte Grischa. Er zitterte am ganzen Leibe.

„Die Prawda!“ gellte es unten aus den Kehlen der Halbwüchsigen. „Genosse Litzband ist gestorben!“

„Haben Sie gehört?“ Grischa schaufe über die Schulter in das Zimmer zurück. Er konnte kaum sprechen. „Litzband ist nicht mehr!“

„Nun ja!“ sagte die junge Deutsche. „War es das, was Sie so erregte?“

„Die ‚Iswestija‘! Feierlicher Leichenzug zum Kreml heute nacht um zwei Uhr!“

Grischa trat in das Gemach zurück.

„Ich sagte Ihnen“, stammelte er, „dass ich bei dieser Nachricht mein Spiel abbrechen muss . . .“

„Nun — wo bleibt der Geiger?“ William J. Roop steckte leutselig den derben Rundkopf durch den Türspalt.

„Er ist zu erschüttert, weil sie unten den Tod eines hohen Regierungshauptes ausrufen!“ dolmetschte seine Sekretärin. „Er will sofort nach Hause. Er hat sich das vorher ausbedungen!“ Und mit einen Blick auf das ärmliche Äussere des Geigers fuhr sie fort: „Er bittet um sein Geld! Er braucht es!“

„Gut!“ Der Amerikaner warf ein dickes Bündel Rubelnoten auf den Tisch. „Aber wir haben auch morgen Gäste! Er soll morgen wiederkommen! Bestimmt! Er soll seine Geige zum Pfand dalassen! Fragen Sie ihn, ob er einverstanden ist!“

„Er hört gar nicht zu!“ rief Anna Frobe. „Er vergisst ganz seine Geige! Er steckt das Geld ein und läuft davon! . . . Auf Wiedersehen, Genosse Grischa!“

„Auf Wiedersehen!“ wiederholte Grischa geistesabwesend. Er schlug die Türe hinter sich zu und stürmte die Treppe hinab.

„Da läuft er durch die Menge!“ sagte oben am Fenster Fräulein Frobe kopfschüttelnd zu dem Hausherrn. William J. Roop drehte sich mit breitem Lachen zu dem Kunsthändler Ragosin um, der ihm aus dem Rauchzimmer gefolgt war.

„Einen wunderlichen Burschen haben Sie mir da ins Haus gebracht!“ sagte er.

„Nun — ich wusste, was ich tat!“ Sergius Ragosin fasste den breitschulterigen Gastgeber leicht unter dem Arm und führte ihn unauffällig ein paar Schritte zur Seite. Sein schnurrbärtiges, blasses Gesicht aus der Zarenzeit war unbewegt, während er kaum hörbar sagte: „Freuen Sie sich, Mr. Roop! Die Krone Alexander Newskis winkt Ihnen aus nächster Nähe!“

Grischa der Geiger

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