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II

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Papa küsst mich zur Begrüssung stürmisch auf beide Backen. Papa ist, vor undenklichen Zeiten, vor bald vier Jahrzehnten, aus Deutschland, wo es ihm zu eng war, nach Russland gekommen, und auch ich bin durch seine baltische Heirat rein deutschen Geblüts. Wir, die Eltern und ich, sprechen auch zu Hause untereinander nur deutsch. Aber jetzt, in der Freude, seinen einzigen Sprössling wiederzusehen, bricht bei Papa der alte Petersburger durch. Ein Schmatz nach Russenbrauch rechts. Ein Schmatz links. Sprechen kann Papa vor Rührung nicht. Auch ich nicht. Ich sehe Papa an. Er hat sich gar nicht verändert in den zwei Jahren meines Aufenthalts im Ausland. Immer noch die hohe, schlanke, biegsame Gestalt, trotz seiner Ende der Fünfzig, immer noch die geschmeidigen, fast lautlosen Bewegungen, die mehr an einen Höfling als an einen Professor der Medizin erinnern. Sein Haar über der hohen Stirn ist immer noch dicht und dunkelbraun, die ungewöhnlich grossen, klugen, grauen Augen sind immer noch brillenfrei. Auf seinem glattrasierten Diplomatengesicht mit der langen, geraden Nase und den schmalen, feinen Lippen liegt immer noch das verhaltene, unverbrüchlich verbindliche und verständnisinnige Lächeln des grossen Petersburger Modearztes, der nun schon von Generationen der Hohen Welt an der Newa die leiblichen und, zum Teil, auch seelischen Nöte kennt. Mir gegenüber schwindet bei Papa die glatte Tünche. Er schaut mich liebevoll an. Er streichelt mich mit seinen auffallend schön geformten, wundervoll gepflegten Händen. Seine Stimme, die er jetzt wiedergefunden hat, ist weich, eindringlich, von tröstendem, halblautem Klang eines Beichtvaters am Krankenbett.

„Mama schickt dir ihren Segen, mein Sohn! Sie zählt die Stunden, bis sie dich in Petersburg in die Arme schliesst! Ich wurde gestern abend zu heute früh nach Gatschina herausbefohlen. Ich sollte das Glück, haben, den Grossfürsten Oleg zu behandeln. Als ich kam, war der allerdurchlauchtigste Herr in das Lager von Kransnoje Selo hinübergefahren. Er inspiziert dort das Ismailowsche Regiment. Die Truppen bleiben dies Jahr länger als sonst dort. Ich muss seine Rückkehr abwarten. Nun komm, mein Junge!“

Papa fasst mich unter den Arm und geleitet mich gegen den Ausgang, wo majestätisch in Silber und Scharlach der dicke Stationsschweizer Wache hält. Papa erzählt dabei in seiner leisen, sanften und doch merkwürdig bestimmten Art, der er seine Macht über die Menschen verdankt:

„Mama ist — Lob sei Gott — wohl und munter. Auch sonst alles in unserer Verwandtschaft. Mamas Bruder und Tante Dorothea lassen dich aus Dorpat grüssen. Mit ihrer Tochter habe ich einigen Verdruss. Ich hatte der Magna, wie ich dir seinerzeit schrieb, durch meine Verbindungen im Hofhalt des grossfürsten Oleg die Stellung als Erzieherin seiner Kinder verschafft. Nun will sie wieder weg. Sie fühlt sich nicht wohl in Petersburg. Sie hat Heimweh.“

Es ist mir in diesem Augenblick ganz gleichgültig, ob meine hübsche, kühle blone Base Magne Casparson sich in das estländische Pastorat ihres Vaters zurücksehnt oder nicht. Ich überlege: soll ich Papa das Unheil dieser Nacht jetzt gleich hier brühwarm auf dem Bahnhof berichten? Und da kommt schon seine Frage:

„Nun — und wie verlief denn deine Reise von Berlin hierher?“

Ich hole Atem. Ich schicke mich an, zu reden. Aber das Dampfzischen einer Lokomotive übertäubt schon meine ersten Worte. Ein örtlicher Zug aus dem nahen Petersburg ist eingefahren. Und zugleich ist um uns auf dem Bahnsteig eine merkwürdige Geschäftigkeit von allerhand Menschen. Reisende jeder Art, Streckenarbeiter, ein paar Kleinbürger, ein langbärtiger Altgläubiger, einige elegante Frauen, ein Pope, stehen wie aus der Erde gewachsen, da in Gruppen. Diese Gruppen bilden eine Art unauffälliges Spalier von einem in den Petersburger Zug einrangierten Salonwagen, bis zu dem Bahnhofschweizer, hinter dem die Pfauenfedern auf der Pelzmütze eines dickwattierten Kutschers vom Bock eines prunkvollen, wartenden Dreigespanns sich im Winde wiegen.

„Welch eine Menge Geheimpolizei plötzlich!“ sagt mein kundiger Vater. „Da muss ein ganz grosses Tier aus Petersburg angekommen sein! . . . Ah — sieh dort!“ Er wendet mit jugendlicher Beweglichkeit seine lange, vornehme Gestalt gegen den zug hin, so dass die bunten Bändchen des Annen-, des Wladimir-, des Alexander Newskij- und Gott weiss welcher anderen Orden auf der Klappe seines dunklen Überrocks im Herbstsonnenschein aufflimmern. Er ist auf einmal aufgeregt. Sein gespanntes, immer liebenswürdiges Antlitz zeigt, durch die Ruhe des Arztes hindurch, jäh einen Schimmer freudiger Befriedigung. „Sieh dort!“ wiederholt er gedämpft. „Es ist wahrhaftig Tschurin selbst! Er ist mein Patient! Mein Gönner! Schon seit einem Jahr! Ich sage das mit Dank zu Gott! Du ahnst nicht, was ein Rückhalt an Tschurin im augenblicklichen Petersburg bedeutet! Betrachte dir Tschurin genau! Er ist zur Zeit einer der mächtigsten Männer von Russland.“

Aus dem Salonwagen ist langsam ein kleiner, dürftiger älterer Herr gestiegen. Er trägt einen grauen Mantel um die schwächlichen Schultern. Eine weisse Schirmmütze beschattet sein schläfriges Fuchsgesicht, dessen Wachsgelb sich fahl von dem grauen Spitzbart unter der kolbigen Nase und dem säuerlichen, argwöhnisch in Fältchen gerundeten Mund abhebt. Die Ohren sind auffallend gross. Sie stehen wie Muscheln von dem kränklichen Haupt ab. Aus diesem Haupt blinzeln, undurchdringlich, leidenschaftslos, ein Paar geschlitzter Augen über den Bahnsteig hin.

„Welche Stellung hat Tschurin, Papa?“

„Nach aussen hit ist sie verschleiert. Er ist, für besondere Aufträge, dem Ministerium des Kaiserlichen Hauses und der Ochrana zugeteilt, insbesondere für dir persönliche Sicherheit des Selbstherrschers. Daher hat er insgeheim seine Hand in allem. In wenigen Jahren stieg er zu dieser Macht, indem er regelmässig als Älterer Gehilfe seinen unmittelbaren Vorgesetzten stürzte. Pass auf: Gleich wird er mich anreden! Mein Gott — wie elend er aussieht!“

Boris Borissowitsch Tschurin, Hohe Exzellenz, Wirklicher Geheimer Rat, Senator, Mitglied des Reichrats, geht zitterig über den Bahnsteig. Sein Bart ist grau. Sein Mantel ist grau. Alles ist grau, wie bei einer leise aus ihrem Loch geschlüpften Maus. Nun verzieht sich sein faltiger, etwas verbitterter, resignierter Mund zu einem eigentümlichen, gefrorenen, gleichsam aus Sibirien stammenden Lächeln. Er hat meinen Vater erkannt. Er winkt ihm mit der welken Hand zu.

Papa eilt geschäftig, nach russischem Brauch den Handschuh unterwegs von der Rechten streifend, auf ihn los. „Sei vorsichtig mit jedem Wort! Man nennt ihn in Petersburg den ,Vater der Lüge’!“ raunt er noch schnell, ohne mich anzusehen. Ich folge Papa, der mit der tiefen, elastisch federnden Verbeugung eines Hofmarschalls dem kleinen gefährlichen Mann die Hand drückt. Dann stellt er mich vor. Auch mich würdigt Seine Hohe Exzellenz einer Berührung seiner vom Papyrossendrehen gelblichen Fingerspitzen. Er ist, bei aller aufmerksamen, stillen Unergründlichkeit seiner grünlichen Pupillen, sehr liebenswürdig.

„Meine Frau wird sich freuen, Sie bei sich zu sehen!“ sagt er auf französisch zu mir, leise und höflich, fast vertraulich, und mein Herz schlägt höher vor freudiger Überraschung. Über Tschurin selbst habe ich noch wenig gehört. Auch aus den Breifen meines Vaters kaum ein paar Andeutungen. Denn welcher Würdenträger in Russland vertrut der Post mit ihren schwarzen Kabinatten diskrete Mitteilungen an? Aber der Salon der alten Marina Georgiewna Tschurin ist eine altbekannte Petersburger Institution. Landsleute im Ausland haben mir viel von ihm erzählt.

Dieser Salon ist einer der einflussreichsten politischen Wetterwinkel an der Newa. Hier werden die neuesten Nachrichten aus den Zarengemächern kolportiert. Hier werden die wichtigsten Intrigen gesponnen und die nützlichsten Vervindungen angeknüpft. Hier findet ein junger Mann, der seine Zeit versteht, Protektion. Was ist in Russland ein Mensch ohne Protektion?

„Sie treffen im Salon meiner Frau auch meine beiden Kinder!“ fügt die Hohe Exzellenz in leisem, mattem Französisch hinzu. „Halten Sie sich an meinen Sohn Platon! Er gehört zu den eifrigsten Panslawisten. Er ist — unter uns — Mitglied der geheimen ,Heiligen Schar‘ zum Schutz des Imperators. Sie wissen: diese Organisation ist nach aussen hin verboten. Nun — hähä! — es bekommt ihr recht gut! Mein Sohn wird Sie, nach Ihrem jahrelangen Aufenthalt in den westlichen Ländern, gern wieder in unsere russische Gedankenwelt einführen. Auch meine Tochter Irina . . .“ Er unterbricht sich und wendet sich zu meinem Vater: „Stellen Sie sich vor, mein teurer Professor: Irina will durchaus nicht mehr den Posten als Hoffräulein bei der alten Grossfürstin Anna Konstantinowna bekleiden! Warum? Sie fragen mich zuviel! Diese Irina ist ein Rätsel. Nicht nur mir, ihrem Vater, sondern allen! Ah — was erlebt man mit seinen Töchtern! Die Ljuba tot! Und die Irina sitzt mi rim Hause herum und weiss selbst nicht, was sie will . . .“

Papa neigt stumm, in einem verständnisvollen Beileid, seinen glattrasierten, schönen Kopf. Dann warnt er, ehrerbietig, aber mit der vertraulichen Offenheit des Arztes:

„Sie überarbeiten sich, Hohe Exzellenz! Ihr Aussehen will mir nicht gefallen!“

„In der Tat . . . Ich hatte gerade gestern . . . Ich bekam da Nachrichten . . .“ Boris Tschurin brach plötzlich ab und heftete seine undurchdringlichen, aber jetzt sonderbar melancholischen Augen starr vor sich auf die Sonnenblumenkerne am Boden, die da irgendein Muschik ausgespuckt hatte. Auch Papa und ich schweigen. Wir haben, in den Minuten dieser Unterredung, beide das Gefühl von Soldaten im Feuer. Wir wissen: wir befinden uns, so lange wir hier öffentlich mit dem Wirklichen Geheimrat Tschurin zusammenstehen, in unmittelbarer Lebensgefahr, wie er den ganzen Tag. Wohl beschrmt uns rings, in stummer unsichtbarer Aufmerksamkeit, die Ochrana. Aber wieviel Grosse Russlands haben trotzdem schon inmitten ihres Geheimschurzes die Erde mit ihrem Blut gerötet, und der Krach der Bombe, die der Hohen Exzellenz Tschurin gilt, würde auch uns in Stücke reissen. Doch es ereignete sich nichts. Der Würdenträger kam aus seiner merkwürdigen Versonnenheit zu sich. Er verabschiedete sich von uns.

„Ich muss in das Schloss!“ sagte er erregt und hastig. „In die Eigene Kanzlei seiner Majestät! Es sind da Dinge . . . Ich fahre mit dem nächsten Zug nach Petersburg zurück. Auch da warten Angelegenheiten . . . Kurz: ich schlafe nicht mehr in den letzten Tagen! Ich brauche Ihren ärztlichen Rat, mein lieber Meister! Wann kann ich Sie konsultieren? Nein — nein — besuchen Sie mich nicht! Ich möchte nicht, dass man den Arzt zu oft bei mir aus- und eingehen sieht! Schon flüstert man dann in gewissen Kreisen, ich sei krankheitshalber den Geschäften nicht mehr gewachsen! Sie kennen ja unser Petersburg! Es ist auf Sumpf gebaut und wird ewig eib Sumpf bleiben. Sind Sie heute abend zu Hause? Gut! Dann komme ich gegen acht Uhr, ganz unauffällig zur Beratung zu Ihenn. Auf Wiedersehen!“

Draussen wehte der lange Schweif des Orlow-Rappen. Die Beigäule galoppierten. Exzellenz Tschurin fuhr in Windesschnelle nach dem Schloss von Gatschina davon. Papa sandte ihm jenen ruhigen, ernsten und sachlichen Blick nach, mit dem er seit vielen Jahren die Menschen daraufhin prüft, was ihnen fehlt oder ob sie ihm nützlich sein können. Dann winkte er einem Iswoschtschik. Wir rasselten durch die baumbepflanzten Villenstrassen von Gatschina, dieser Kleinstadt vor den Toren der Residenz, die, wie Potsdam in Deutschlan, nur von Hofbestallten, Garde, Adel und Kronslieferanten bewohnt zu sein scheint.

„Seihst du vor uns die kleine blaue Datsche?“ sagt mein Vater, schon im Westen des Ortes, nahe den Marienburger Höhen. „Ich habe in ihr der Witwe eines Zivilgenerals, da ich so häufig im Sommer hier draussen zu tun habe, ein Absteigequartier abgemietet. Man mag nicht immer in dem grossen goldenen Gefängnis dort drüben sich aufhalten!“

Durch die staubigen kleinen Fenster der niederen hölzernen Villa sehe ich fern, zwischen laubleerem Parkgeäst und silbernen, windgekräuselten Seen den dreistöckigen Riesenpalast des Zaren mit seinen sechshundert Sälen und Gemächern, seinen seitlichen Säulengängen und Kavaliersbauten. Vor der mannshohen Mauer, die den Park gegen die Stadt zu abschliesst, karren Bauernwägelchen, spielen Kinder, gehen Bürgerfrauen spazieren. Aber zwischen ihnen reiten über die löcherigen Strassen die Kosaken mit rotgestreiften Hosen auf ihren struppigen Kleppern, alle Parktore sind grün von Gendarmerie, hinter jedem zehnten Baum lehnt ein Geheimpolizist in Bürgerkleidung. Alle die rothemdigen Arbeiter, die sich auf den Wiesen und Wegen zu schaffen machen, stehen im Dienst der Ochrana. Weiter gegen das Schloss zu spannt sich eine vielhundertfache Sperrkette der, sämtlich genau gleich grossen, russisch stumpfnasig ausgesuchten Mannschaften des Pawlowschen Regiments. Vor dem Palastportal bummeln baumlange Berg-Kaukasier des Leib-Garde-Convois in ihren roten, mit Patronentaschen benähten Knieröcken. Im Innern, auf den Paradetreppen, stehen wohl noch, mit geschultertem Pallasch, in schimmerndem Kürass, die Chevaliergarden. Dann beginnt esft, vor den Gemächern des Zaren, die eigentliche, persönliche Bewachung.

„Vor wenigen Wochen“, sagt langsam, meine Gedanken erratend, mein Vater, „fan der Zar morgens mitten auf seinem Schreibtisch sein Todesurteil. In seiner Erregung hat er, einige Tage drauf, den diensttuenden Flügeladjutanten erschossen. Dieser ahnungslose arme Graf hatte nicht bedacht, dass der dicke Teppich sein Sporenklirren dämpfte. Er tart zu hastig und lautlos hinter den Stuhl des Selbstherrschers, der ihn für einen Attentäter hielt. Aber du hörst ja gar nicht zu! Was hast du denn?“

„Weisst du, we rich bin?“ breche ich verzweifelt los. „Ein Mensch ohne Pass bin ich!“

„Was? . . .“

„Ein Mensch ohne Pass!“

„Um Gottes willen: Wie kann man seinen Pass verlieren?“

„Gestohlen wurde er mir!“ stöhne ich und erzähle alles. Als ich ende, ist das weltkundige Antlitz meines Vaters bleich vor Schrecken, aber ruhig. Er lässt sich schon lange nicht mehr von russischen Dingen überrumpeln. Er hat sich schon blitzschnell alles zurechtgelegt.

„Vor allem muss die Sache natürlich vollkommen vertuscht werden!“ versetzt er. „Die politische Polizei darf überhaupt nichts davon erfahren! Du must heute noch hinter ihrem Rücken einen neuen, gültigen, um zwei Jahre zurückdatierten Pass bekommen! Sollte dann die dritte Abteilung dich fragen, wo dein Pass geblieben ist, so zeigst du diesen neuen Pass vor und erklärst: ,Falls sich ein Verbrecher eines Ausweises auf meinen Namen bedient, hat der Halunke dieses Papier eben raffiniert gefälscht’!“

Ein wenig löst sich mir der lähmende Druck von der Brust. Papa furcht in tiefen Gedanken, als gälte es eine mathematische Preisaufgabe zu lösen, die glatte, hohe Stirne.

„Die Schwierigkeit ist nur, den Pass zu beschaffen!“ murmelt er.

„Wäre da nicht Exzellenz Tschurin . . .?“ wage ich zu fragen.

Ein rätselhaftes, düster-resigniertes Lächeln meines Vaters. Papa kann manchmal merkwürdig ironisch lächeln, so als zucke er, in kurzen Augenblicken der Besinnung, im stillen die Achseln über den Lauf der Welt, über sich, über Russland . . .

„In allen Dingen kann Tschurin helsen!“ sagt er. „Nur gerade hier nicht, mein armer Junge! Hier hat er selbst das Skelett im Hause!“

„Ich verstehe nicht . . .“

„Har er nicht vorhin erwähnt, das ser zwei Töchter hat?“

„Eine — die Irina!“

„Zwei!“

„Die andere, die Ljuba, ist doch, wie er sagt, tot . . .“

„ . . .und lebt! Mit achtzehn Jahren verliess sie das Elternhaus und ging ,ins Volk’, wie diese Feinde der Gesellschaftsordnung es nennen. Seit vielen Jahren lebt sie illegal!“

Illegal . . . Ich muss mir erst wieder die russische Bedeutung dieses Wortes in die Erinnerung zurückrufen. Illegal — so heissen hier die politischen Verschwörer, die, um den Verfolgungen der Polizei zu entgehen, ihren Namen abgelegt haben, ihre Herkunft verleugnen, und unangemeldet, unter wechselnder Verkleidung, da un dort in immer neuen Schlupfwinkeln hausen.

„Diese Ljube — das älteste Kind Tschurins“, erzählt Papa, „ging damals in das Tulasche Gouvernement und organisierte dort die Gewehrarbeiter. Man nahm sie fest und begnügte sich, aus Rücksicht auf den Vater, damit, sie in Sibirien anzusiedeln. Nach kurzem war sie wieder da. Sie wurde verhaftet . . . Gott weiss es, wie sie aus der Peter-Pauls-Festung herauskam und nach Zürich floh. Seitdem lebt sie dort. Man beobachtete sie durch die Geheimpolizei auf Schritt und Tritt. Aber . . .“

Mein Vater schliesst plötzlich seine schmalen feinen Lippen, als wollte er einen sich zum Wort formenden Gedanken im letzten Augenblick zurückhalten. Er schüttelt den Kopf.

„Nein! Lassen wir Tschurin! Hier brauchen wir einen noch viel Höheren! Für einen Grossfürsten gibt es in Russland keine Gesetze. Nur das Machtwort des Grossfürsten Oleg Igorowitsch, meines allerdurchlauchtigsten Patienten, kann uns den Pass verschaffen!“

Papa wird lebhaft.

„Ich sehe jetzt bakd drüben im Schloss als Arzt den Grossfürsten! Aber man muss vorsichtig sein — ganz unendlich vorsichtig! Solch eine Bitte mitten ins Gesicht . . . Wer kann wissen . . .? Nein: Umwege sin dimmer besser . . . Fahre du jetzt sofort mit dem nächsten Zug nach Petersburg und dort in das Palais des Grossfürsten zu deiner Base Magna. Sie ist die Erzieherin seiner Kinder. Sie kennt sich im Palais aus. Sie ist klug. Sie wird dir besser, als ich es kann, verraten, auf welche besonderen und eigentümlichen Beziehungen e shier vor allem ankommt.“

Eine dralle, barfüssige Dirne trat, ein rotes Tuch auf dem Flachskopf, mit Tee und Brot und Butter herein. Mein Vater schob sie zur Seite. „Wir haben keine Zeit, Mascha! . . . Komm!“ Dabei war er schon an der Tür. Wir sprangen in das harrende Wägelchen. Zurück zum Bahnhof! Dort stand schon der örtliche Zug nach Petersburg. Ich wollte in einen Wagen treten. Da sehe ich, wie Papa eine Bewegung macht. Er begrüsst den Wirklichen Geheimrat Tschurin, der soeben verstört, mit quittengelbem, spitzbärtigem Fuchsgesicht, vom Zarenschloss zurückkehrend, aus der Troika steigt.

„Sie müssen mir helfen, Professor, bei der Konsultation heute abend!“ versetzt er leise, schnell, matt, ohne meine Anwesenheit zu beachten. „Sie müssen meine Nerven beruhigen. Ich befinde mich in einer Erregung, dass ich kaum mehr meinen Dienst zu versehen vermag . . .“

„Ich werde mein Bestes tun, durchlauchtige Exzellenz, um wenigstens die Symptome dieser Erregung zu beseitigen, deren Ursache ich ja nicht kenne und wahrscheinlich auch nicht kennen darf.“

„Warum sollte ich sie Ihnen nicht nennen!“

Der graue, faltige Fuchskopf dreht argwöhnisch seine grünlichen Lichter nach rechts und links, wo ringsum, als harmloses Bolk aller Art verkleidet, die Ochrana ihn beschattet. Seine Stimme sinkt zu einem erschöpften Flüstern. „Unter uns: wir sind in höchster Besorgnis. Wir haben Meldungen von neuen, umfassenden, verbrecherischen Anschlägen wider den Imperator vom Ausland her. Mehrere der gefährlichsten Bösewichte haben zu diesem Zweck bereits die Schweiz verlassen. Mit ihnen ist auch — mein Gott, machen wir uns doch nichts vor — es ist ja kein Geheimnis — meine verstorbene Tochter Ljuba lebt in Zürich . . .“

„Ich weiss es.“

„Die Unselige ist seit einigen Tagen aus Zürich verschwunden. Sie ist auf dem Weg nach Russland. Alle Polizeiorgane besitzen den Steckbrief. Man wird sie schon an der Grenze verhaften.“

„Wenn dem so ware . . .“

„Und dismal wird es furchtbarer Ernst. Man hat dieses Jahr schon Sophie Günsberg zum Tode am Galgen verurteilt. Gleich nach ihr Olga Iwanowskaja, deren Vater doch ein hoher Reichsbeamter war. Wie — wenn man nun Ljuba beim Betreten Russlands festnimmt — wir haben diesesmal alle Massregeln getroffen — keine maus kann an irgendeiner Stelle durch und nach Russland hinein!“

„Ich fürchte, Hohe Exzellenz: Kjuba Borissowna ist bereits in Russland!“

Boris Tschurin schaut meinen Vater labge Zeit schweigens an. Er fasst sich mechanisch, wie um aus einem bösen Traum zu erwachen, an die kolbige Nase, er nimmt, als würde ihm die kühle meernahe Herbstluft von Gatschina zu heiss, die Mütze von dem grossen, spärlich behaarten Grauschädel. Der kränkliche, verbitterte Mund steht ihm verblüfft halb offen. Er sieht in diesem Augenblick gar nicht aus wie ein Vater der Lüge, sondern wie ein unglücklicher Vater — ein noch halb ungläubiger, ängstlicher und schwächlicher Greis.

„In Russland? Wie das?“ fragt er endlich. Es ist noch das höfliche, lispelnde Petersburger Französisch. Aber es zittert aus gepresster Kehle. Papa gibt mir einen Wink, zur Seite zu treten. Er spricht leise auf den kleinen allmächtigen Mann vor ihm ein, der mit einem Federzug, immer geräuschlos, immer in einer leidenden, scheinbar schonenden Art die Untertanen des Zaren zu Hunderten nach Sibirien und in die Kasematten verschickt. Er erzählt ihm mein Abenteuer dieser Nacht. Dann, etwas lauter, mit einem warnenden Wimperzucken zu mir, nichts von dem Passdiebstahl zu verraten:

„Wie dieser Gymnasiast aussah? Mein Sohn kann das besser schildern!“

Ich nähere mich ehrerbietig.

„Ob es eine Frau war? Gewiss, Eure Hohe Exzellenz!“ versetze ich. „Ich habe es genau gesehen. Ich kann es beschwören! Ihr Alter? Ich denke, so etwa achtundzwanzig Jahre. Mittelgross war sie und sehr mager . . .?

„Wie hätte sie sonst die Gymnasiastenuniform tragen können?“ schaltet mein Vater, verhalten hinter der hohlen, weissen Hand hüstelnd, ein.

„Ihr Gesicht klein und hager und sehr bleich!“ fahre ich fort. „Sie hatte kurze, tiefschwarze Haare. Die Augen auch Schwarz und unruhig — unheimlich möchte ich fast sagen!“

„Haben Sie meine Tochter Ljuba je gesehen?“ fargt Boris Tschurin matt.

„Niemals, Eure Hoge Exzellenz!“

„Nun: Sie beschreiben mir ihr Äusseres, so wie ich sie zuletzt sah — in der Peter-Pauls-Festung — vor fünf Jahren, nachdem . . .“

Papa streckt rasch die Hände aus, als wollte er den schwächlichen Körper neben sich im Fallen auffangen. Denn der kleine, fahle Würdenträger schwankt. Aber er befiehlt sich, mit einer zähen Willenskraft um die dünnen, verschlossenen Lippen, aufrecht zu bleiben. Ein Ohnmachtsanfall hier — auf offenem Bahnsteig — gerade hier in Gatschine: es wäre das sarkastische Tagesgespräch in den Petersburger Klubs — das schadenfrohe Geflüster in den Salons und Ministerien — das entzückte Gewisper in den Vorgemächern des Zaren . . . womöglich der Anfang vom Ende — bei einem Menschen, der — schon dank seinem Amt — nur Feinde hat, den jeder fürchtet, vor dem jeder auf der Hut ist! Boris Tschurin sammelt sich. Er ist wieder ganz der Alte — in der undurchdringlichen Stille des Gesichts, das einem schlafenden Sumpfspiegel gleicht, in dem trockenen Pariser Tonfall seiner Kehle.

„Noch steht ja nichts fest! Es kann auch eine andere als meine tote Tochter sein!“ sagt er eindringlich, gedämpft und vertraulich. „Doch immerhin — urteilen Sie selbst: wie stehe ich da? Warum straft mich Gott? Soll denn an einem ungeratenen Kind wie Ljuba meine ganze Karriere scheitern? Und meine Zweite, die Irina, statt sich zu verloben — an jeder Hand hat sie mit ihrer gefährlichen Schönheit zehn glänzende partien —, wandelt durch die Salons meiner Frau als ein lebendes Rätsel! Gott weiss, welche Störung meiner Laufbahn mir von ihr noch droht!“

Dieser kleine alte Mann vor mir hat vielleicht noch zehn Jahre zu leben. Er hat eigentlich alles erlangt, was man an Würden und Bürden erreichen kann. Aber er denkt in diesem Augenblick an nichts anderes als an ein paar bunte Bändchen und Ordenssterne mehr auf seine eingefallenen Brust. Er tritt in seinen Salonwagen.

„Heute abend um acht bin ich bei Ihnen, mein Professor“, murmelt er dabei. „Doch halten Sie Ort und Stunde geheim! Ich werde beständig von Mördern verfolgt!“

Der Zug hat nur auf Seine Hohe Exzellenz gewartet. Kaum sitzt sie darin, so ruft der Oberkonuktor schon zur Abfahrt. Ich erreiche eben noch mein Abteil. Gleich darauf setzt sich der Wagen schon in Bewegung,

Der flammende Sumpf

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