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Mathematik als Schritt in die Freiheit

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Im Jahr 1522 gab Adam Ries, ein Cosist aus Staffelstein bei Bamberg, ein Buch mit dem Titel Rechnung auf der Linien und Federn heraus, das der Rechenmeisterzunft den Untergang bescherte: Das Buch, geschrieben in der Sprache des Volkes, erklärte in deutschen Landen zum ersten Mal, dass man Zahlen auch anders schreiben könne als mit den römischen Zahlzeichen. In Spanien und in Italien kannte man sie schon: die von Arabern aus Indien eingeführten Ziffern, die damals ungewohnten Symbole 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 für die ersten neun Zahlen. Besonders geheimnisvoll aber war das Symbol 0 für null, das buchstäblich nichts bedeutet. Als der italienische Gelehrte Leonardo von Pisa, als Filius, also als Sohn des Bonacci einfach Fibonacci genannt, seiner Heiligkeit dem Papst dieses Symbol zu erklären versuchte, stieß er auf pures Unverständnis. Wie kann man, so fragte der Papst ganz vernünftig, „nichts“ symbolisieren? Aber all der wohlbegründeten Skepsis zum Trotz: Man braucht das Symbol 0, um weitere Zahlen mit den Ziffern schreiben zu können. Denn in Zahlen wie zum Beispiel 1003 besitzen die Ziffern 1 und 3 sogenannte Stellenwerte. Die Ziffer 3 ist in ihr die Einer-, die Ziffer 1 in ihr die Tausenderziffer. Und weil bei der Zehner- und bei der Hunderterstelle nichts hinzukommt, werden in 1003 diese beiden Stellen jeweils mit der eigenartigen Ziffer 0 belegt. Das ist wichtig, um verstehen zu können, dass – glaubt man Leporello, wenn er die Registerarie singt – Don Giovanni in Spanien bereits 1003 Frauen verführte. Gäbe es die Null nicht, hätte er bloß 13 Frauen verführt. Das wäre für einen Schwerenöter einfach nur blamabel.

Die Ziffern und ihre Stellenwerte in Zahlen erklärt Adam Ries im ersten Kapitel seines Buches, das er mit „Nummerieren“ überschreibt. Das nächste Kapitel heißt „Addieren“. Wie es heute noch Volksschulkinder lernen, lässt Adam Ries die zu addierenden Zahlen untereinander schreiben, fein säuberlich nach Stellenwerten geordnet, und erklärt, wie man mit der Einerstelle beginnend die Ziffern der Summe mit ansteigenden Stellenwerten ermittelt. Darauf folgt das Kapitel „Subtrahieren“. Auch hier schreibt man die kleinere Zahl, die man von der größeren abzieht, Stellenwert für Stellenwert darunter an. Und Adam Ries erklärt die Rechnung so, wie sie noch heute den Kindern in den Schulen beigebracht wird.

Danach kommt ein für alle, die das Buch lasen, besonders spannendes Kapitel: „Multiplizieren“. Adam Ries erklärt auch diese Rechenoperation für jede und jeden verständlich. Was vorher nur die Rechenmeister mit von ihnen geheim gehaltenen Regeln kunstreich vollführten, können nun alle. So sie mit dem Einmaleins vertraut sind. Und Üben muss man natürlich, will man das Rechnen gewandt und möglichst fehlerfrei beherrschen. Aber die Leute rechneten gerne, und Adam Ries gab ihnen in seinem Buch eine hinreichende Fülle von Übungsaufgaben. Denn jetzt brauchten die Leute nicht mehr einen Cosisten zu beschäftigen, ihm ihr sauer verdientes Geld zu zahlen und von ihm Ergebnisse abzuholen, an die sie glauben mussten und die sie nicht überprüfen konnten.

Doch mit dem Multiplizieren hört das Buch nicht auf. Es folgt ein weiteres Kapitel: „Dividieren“. Dies ist die letzte und zugleich schwerste der Grundrechnungsarten. Wenn man Zahlen in römischen Zahlzeichen schrieb, war das Dividieren eine Kunst, die selbst nur wenigen Rechenmeistern wirklich gut geläufig war. Im Mittelalter wurde es an den Universitäten gelehrt, so anspruchsvoll war es. Aber mit den arabischen Zahlzeichen und der Kenntnis des Einmaleins kann es jede und jeder lernen und nach hinreichend langem Üben gut nachvollziehen. Das Dividieren selbst ist wichtig, um das letzte und krönende Kapitel verstehen zu können, das im Buch des Adam Ries den Abschluss bildet: „Regula di tre“ überschrieb er es, übersetzt der „Dreisatz“, was im bayerischen und österreichischen Raum die „Schlussrechnung“ heißt. Darin verbergen sich die Rechnungen im Handel, die deshalb ganz besonders hoch im Kurs stehen, weil sie mit Geld zu tun haben.

„910 Kreuzer muss man zahlen, wenn man 35 Ellen Stoff kaufen möchte.“ Das ist des Dreisatzes erster Satz. In ihm werden die Tatsachen kundgetan. „Jemand will nicht 35, sondern 42 Ellen Stoff kaufen.“ Das ist des Dreisatzes zweiter Satz. In ihm wird ein Ziel vorgegeben. „Wie viele Kreuzer muss er dafür zahlen?“ Diese Frage ist des Dreisatzes dritter Satz. Adam Ries erklärt gewissenhaft, dass man aus den mitgeteilten Tatsachen zuerst zu ermitteln hat, wie viel eine Elle Stoff kostet. Zu diesem Zweck ist 910 durch 35 zu dividieren, und die Rechnung führt er penibel vor. (Dass man einfacher das Doppelte von 910, also 1820, durch das Doppelte von 35, also durch 70, oder einfacher 182 durch 7 dividieren könnte, was im Kopf mit dem Ergebnis 26 gelingt, verschweigt er. Denn solche Tricks verwirren den Anfänger nur.) Und nun, so Adam Ries, muss der Preis von 26 Kreuzer für eine Elle Stoff mit 42 multipliziert werden. Auch das führt er wie ein gewissenhafter, aber geistloser Buchhalter nach den von ihm erklärten Rechenregeln vor. (Er verschweigt, dass man 42 sehr leicht mit 25 multiplizieren kann, indem man es mit 100 multipliziert und von dem Ergebnis 4200 ein Viertel, also 1050, berechnet. Gibt man noch einmal 42 dazu, bekommt man – eigentlich in einer Kopfrechnung – das genaue Produkt: 1092.) Zum Schluss muss eine Antwort geschrieben werden, fordert Adam Ries: „1092 Kreuzer muss der Käufer für 42 Ellen Stoff zahlen.“

Sicher kommt man schneller zu diesem Resultat, wenn man sich überlegt, dass 42 Ellen Stoff um ein Fünftel mehr Stoff ist als 35 Ellen Stoff. Ein Fünftel, das sind 20 Prozent. Und 20 Prozent von 910 kann man leicht im Kopf ermitteln: man braucht nur 91 mit zwei zu multiplizieren. Dies ergibt 182, und um so viele Kreuzer sind die 42 Ellen Stoff teurer als die 35 Ellen. Und tatsächlich sind 910 Kreuzer um 182 Kreuzer vermehrt die 1092 Kreuzer von der Antwort des Adam Ries.

So flotte Überlegungen waren dem behäbigen und stur nach seinen Regeln vorgehenden Adam Ries fremd. Manchmal kann man Abkürzungen wie die oben genannten finden, aber nicht jederzeit. Die starre Vorgangsweise des Adam Ries jedoch greift immer. Das ist ihr Vorteil. In Italien hingegen ging man bereits beim Rechnen variantenreicher vor. Nicht umsonst ist „Prozent“, einer der heikelsten Begriffe der elementaren Mathematik, eine italienische Erfindung. Er stammt vom Wort „per cento“, wörtlich: „von hundert“. Im eigenartigen Zeichen % kann man im oberen Kreis ein „c“ mit einem verkümmerten „en“, im Querstrich ein „t“ und im unteren Kreis ein „o“ des italienischen „cento“ erahnen.

Dem Erfolg des Buches von Adam Ries tat dessen schulmeisterliches Gehabe keinen Abbruch. Noch zu Lebzeiten des Autors wurden von dem Werk mehr als 100 Auflagen gedruckt. Das Buch verkaufte sich wie die warmen Semmeln. Denn alle wollten rechnen können. Nicht weil das Rechnen so spannend wäre. Das ist es beileibe nicht. Sondern weil man damit über seinen Besitz Bescheid weiß. Weil man damit die gerechten Preise ermitteln kann. Weil man damit von niemandem mehr abhängig ist, vor allem nicht von Cosisten, die einem das Geld aus der Tasche ziehen.

Seit dem Jahr 1522 ist das Rechnen der erste Schritt in die Freiheit des selbständigen Denkens.

Vom 1x1 zum Glück

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