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Von der Kunst des Multiplizierens

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Im Mittelalter mussten die Agronomen noch viel mehr auf die Kunst der Mathematiker vertrauen: Ein Bauer aus Trattenbach zeigt seiner Tochter in der Scheune, wie viele Säcke Weizen er dort gelagert hat. Viele sind es, behauptet er stolz. Die meisten gehören seinem Lehensherrn, dem Herren von Kranichberg, aber über ein paar von ihnen darf er selbst verfügen. Er habe sie gezählt. Es sind XVII Säcke. (Wir müssen uns in die Zeit um 1450 zurückversetzen, als man nördlich der Alpen nur römische Zahlzeichen kannte.) Und wie schwer ist so ein Sack, will die Tochter wissen. Er habe die Säcke auf die Waage gestellt, sagt ihr der Vater. Jeder wiegt ungefähr das Gleiche, immer XXIII Pfund. Wie viel Pfund Weizen ist das insgesamt, fragt jetzt das Kind. Da kommt der Bauer ins Schwitzen. XVII müsste er jetzt mit XXIII multiplizieren. Das kann er nicht.

Nur wenn er sehr gewitzt ist, kommt er auf die folgende Idee: Schöner wär es, wenn er seinen Weizen statt in XVII Säcke in XX Säcke gespeichert hätte. Dann hätte er mehr Säcke Weizen. Aber jeder der Säcke wäre dann leider ein klein wenig leichter, als sie jetzt sind. Vielleicht nur XX Pfund statt XXIII Pfund schwer. Modern gesprochen: Der Bauer hat die Zahl 17 der Säcke auf 20 aufgerundet und das Gewicht 23 Pfund eines Sackes auf 20 Pfund abgerundet. Das ist sehr sinnvoll, denn 20 mit 20, in der römischen Schreibweise: XX mit XX, kann er multiplizieren. Er weiß, das zehn, also X, mit zehn, also mit X, multipliziert 100 ergibt. Im Lateinischen heißt 100 centum. Daher kürzt der Buchstabe C in der römischen Zahlenschreibweise hundert ab. Und weil zwei mal zwei vier ergibt, muss XX mit XX multipliziert CCCC als Ergebnis liefern. Der Bauer sollte also rund 400 Pfund Weizen sein Eigen nennen.

Doch wir dürfen davon ausgehen, dass nur wirklich sehr wenige Landwirte so geschickt und einfallsreich denken konnten. Und selbst diese beschäftigt genauso wie den Bauern unserer Geschichte die Frage, wie viel Pfund Weizen er denn wirklich genau hat. Jedenfalls geht der Trattenbacher Bauer am Sonntag zum Pfarrer und bittet diesen um Rat: Er möchte wissen, was XVII mit XXIII multipliziert ergibt. Und der Pfarrer, in weltlichen Dingen fast so gut bewandert wie in geistlichen, kann zwar die Frage nicht beantworten, aber weiß, was zu tun ist: Der Bauer soll nach Wiener Neustadt fahren. In dieser großen Stadt, nur eine halbe Tagesreise von Trattenbach entfernt, gäbe es am Hauptplatz eine Schreibstube, in der ein Rechenmeister sitzt, der sicher die Antwort kennt.

Tatsächlich war im Mittelalter der Beruf des Rechenmeisters hoch angesehen. Jede größere Stadt beschäftigte mindestens einen dieser Gilde. Die besten unter ihnen kamen aus Italien und wurden Cosisten genannt. Denn ihre Kunden stellten andauernd Rechenaufgaben, die mit der Frage „Che cosa?“ im Sinne von „Was kommt heraus?“ endeten. Darum sprach man damals auch vom „Cos“, vom Unbekannten, das es zu berechnen gilt.

Und so sehen wir den Bauern aus Trattenbach nach Wiener Neustadt fahren. Er muss ohnehin in die Stadt, um Verkäufe und Einkäufe zu erledigen, aber den Rechenmeister möchte er unbedingt aufsuchen. „Was kommt heraus, wenn man XVII mit XXIII multipliziert“, fragt er ihn. Und erhält als Antwort: „Zwei Gulden.“ „Zwei Gulden, was bedeutet das?“, fragt der Bauer zurück. „Zwei Gulden sind zu bezahlen, dass ich bei einer Aufgabe wie dieser die Antwort gebe“, erklärt der Rechenmeister. Ein wenig betroffen von der großen Summe kramt der Bauer die zwei Münzen aus seinem Sack und legt sie auf den Tisch des Rechenmeisters. Jetzt müsse der Bauer weggehen, verlangt der Cosist streng. Denn zuschauen bei seiner Rechenarbeit dürfe man nicht. Sie sei nicht nur schwierig, sie sei auch geheim. Also geht der Bauer unverrichteter Dinge in das gegenüberliegende Gasthaus und wartet dort eine geschlagene Stunde, bis er vom Rechenmeister das Ergebnis abholen darf. CCCLXXXXI, so lautet es: Die drei C stehen für 300, erklärt der Rechenmeister dem verdutzten Bauern. Das L, eigentlich die eckig geschriebene untere Hälfte eines C, steht für ein halbes C, also für 50. Die nachfolgenden vier X symbolisieren 40, sodass zu den 300 noch 90 und zum Schluss noch ein I, also noch eins hinzukommen.

So übel war die Abschätzung CCCC, also 400 Pfund für das Gewicht des Weizens, der in der Scheune des Bauern lagert, gar nicht. Nur neun Pfund weniger hat die genaue Rechnung des Cosisten ergeben. Es wäre vom Bauern klüger gewesen, sich mit der Schätzung abzufinden. Denn wirklich glücklich war er mit dem nach Trattenbach zurückgebrachten Resultat nicht. Es war so eigenartig kompliziert – der Bauer hat kein Gefühl dafür, was CCCLXXXXI wirklich bedeutet. Zwar hatte er dem Rechenmeister viel Geld dafür bezahlt, aber wie es zustande kam, verstand er nicht. Es blieb ihm nur übrig, an die Richtigkeit des Ergebnisses zu glauben. Zwei Gulden ist das eigentlich nicht wert.

Vom 1x1 zum Glück

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