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I DIE LETZTE STUNDE
ОглавлениеWer in der Schule unterrichtet, weiß es: Es gibt zwei unvergessliche und prägende Augenblicke während der langen Zeit, die man mit den Kindern einer Klasse verbringt. Sie allein sind Lohn genug dafür, dass man sein berufliches Leben dem Lehren und Erziehen widmet. Einer dieser beiden unauslöschlichen Augenblicke ereignet sich bei den abschließenden Minuten der letzten Stunde.
Ich durfte es selbst wenige Male erleben. Als ich während meiner hauptberuflichen Tätigkeit als Mathematikprofessor, an einer Universität künftige Lehrerinnen und Lehrer fachlich auszubilden hatte, unterrichtete ich parallel dazu als Lehrer an einem Gymnasium jeweils eine Klasse in Mathematik. Dies erlaubte mir, die wissenschaftliche Lehre mit eigener praktischer Erfahrung des Schulalltags zu bereichern, was nicht nur für meine Studentinnen und Studenten, sondern auch für mich aufschlussreich war.
Die letzte Stunde jedenfalls in der achten Klasse, die ich ganz im Unterschied zu meinem sonst spontanen, nicht sonderlich organisierten Unterricht peinlich genau inszenierte, war mir immer besonders wichtig. Schon zu Beginn der Stunde bat ich ein wenig theatralisch darum, dass man mich aufmerksam machen soll, wenn in drei Minuten die Glocke zum Stundenende läuten werde. Ich hätte dann der Klasse etwas Wichtiges mitzuteilen. „Da wird er uns wohl verraten, welche Beispiele er zur Matura gibt“, wurde von Bank zu Bank geflüstert – es war damals noch die Zeit, als die schriftlichen Aufgaben zur Matura nicht zentral erstellt wurden; ich komme in dem Buch darauf an anderer Stelle zurück. Jedenfalls erzielte ich durch meine Ankündigung am Stundenbeginn eine leicht nervöse Aufmerksamkeit, während ich bei einigen Aufgabentypen, die vielleicht bei der schriftlichen Prüfung auftauchen werden, letzte hilfreiche Hinweise gab und ein paar Musterbeispiele ein letztes Mal vorrechnete. Die leise spürbare Anspannung der Kinder – ich nenne sie auch dann so, wenn sie bereits 18 Jahre alt sind, weil ich sie einst als echte Kinder kennengelernt hatte und sie dies, jedenfalls bis zu ihrer Matura, immer für mich blieben – nahm gegen Stundenende zu, und endlich war es soweit:
„In drei Minuten wird es läuten“, wurde von mehreren Seiten zum Katheder gerufen, „Sie wollten uns doch noch etwas sagen!“
„Gut, dass ihr mich erinnert“, spielte ich den Überraschten, „ich habe euch tatsächlich etwas mitzuteilen: Es sind jetzt die letzten Augenblicke, wo wir in der Klassengemeinschaft so zusammen sind, wie wir das jahrelang zuvor immer waren. Danach gibt es nur mehr die schriftlichen Prüfungen bei der Matura, die ziemlich amtlich ablaufen, und die mündlichen Prüfungen, bei denen ihr einzeln, jede und jeder für sich, gefordert sein werdet. Jetzt, in diesen Minuten, sehen wir einander so zum letzten Mal. Und da ist es mir wichtig, dass ich euch Folgendes sage:
Ihr seid unsere Hoffnung.
Und mit uns meine ich das Lehrerkollegium, mich eingeschlossen, aber auch eure Eltern, eure Mütter und Väter, ja eigentlich alle in euren Augen ältere Menschen in unserem Staat und unserer Gesellschaft.
Ihr seid unsere Zukunft. Wir haben niemand anderen als euch, von denen wir erwarten können, dass sie unser Land weiter gestalten werden.
Wir haben als Lehrerinnen und Lehrer alles, was wir wissen und können, in euch investiert. Und selbst wenn es in manchen Momenten pädagogischer Verzweiflung, für die ich mich jetzt in aller Form entschuldige, vielleicht nicht so von euch empfunden wurde: Wir setzen alle Jetons unseres Lebensspiels auf euch. Weil wir erwarten, dass ihr Karrieren so vernünftig ergreift und euer Leben so sinnvoll gestaltet, dass es nicht nur euch, sondern auch der ganzen Gemeinschaft Nutzen bringt. Weil wir davon ausgehen, dass ihr im Staffellauf des Lebens den Stab von uns übernehmt. Und weil wir uns wünschen, dass ihr mit dem, was wir euch vermittelten, glücklich werdet.
Ich hoffe, ich habe euch so viel gegeben, dass ich euch füglich alles Glück dieser Welt wünschen kann. Das ist es, was ich euch noch sagen wollte.“
Noch waren die drei Minuten nicht vorüber, ich genoss für ein paar Sekunden die vollkommene Stille, die den Raum erfüllte, und verließ – zugegeben nicht ganz gesetzeskonform ein wenig vorzeitig – die von mir überraschte Klasse. Mit solchen Worten hatte niemand aus der Schar der Kinder gerechnet. Dennoch habe ich jede einzelne Silbe ernst gemeint.
Mit Mathematik Menschen Wege zum Glück öffnen zu können: Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass dies möglich ist.
Und dass sich die Schule darum bemühen muss.