Читать книгу Vom 1x1 zum Glück - Rudolf Taschner - Страница 7
Zahlen geben Sicherheit
ОглавлениеDoch gehen wir in noch frühere Zeitalter zurück, drei Jahrtausende vor Christus: Haran, ein reicher Bauer aus Mesopotamien, dem Zweistromland, möchte einige seiner Rinder und Schafe dem Händler Nahor in Ur, der Stadt, aus der Abraham stammte, verkaufen und dafür Saatgut, Textilien und Baumaterial erwerben. Um auf Nummer sicher zu gehen, dass der Knecht, den Haran mit den Tieren zu Nahor schickt, diese vollzählig beim Händler abliefert, nimmt der Bauer einen irdenen Topf und wirft für jedes Rind, das er dem Knecht anvertraut, eine Kugel in den Topf. Und für jedes Schaf, das er verkaufen will, wirft er eine Scheibe in den Topf. Zwar kann Haran noch nicht mit Zahlwörtern zählen, aber die Kugeln und Scheiben leisten das Gleiche. Sodann verschließt Haran den Topf mit einem Deckel und verschmiert den Rand von Topf und Deckel mit Lehm. Das verschlossene Gefäß wird im Feuer gebrannt, sodass der Deckel fest am Topf geheftet bleibt. Mit diesem Gefäß und den Tieren schickt Haran den Knecht auf die mehrere Tage dauernde Reise zu dem Händler in Ur.
Dort endlich angekommen, nimmt Nahor dem Knecht den Topf aus der Hand. Der Händler weiß aus Erfahrung mit den Bauern, mit denen er Geschäfte macht, was es mit diesem Behältnis auf sich hat: Nahor lässt den Topf auf den Steinboden fallen, dieser zerbricht in Dutzende Scherben und die Kugeln und Scheiben kommen wieder zum Vorschein. Jetzt wird gezählt. Kuh – Kugel, Kuh – Kugel: So viele Kugeln, so viele Kühe müssen abgeliefert werden. Schaf – Scheibe, Schaf – Scheibe: Bei den Schafen ist es das Gleiche. Und wehe, wenn eines der Tiere fehlen sollte: Der Knecht müsste es mit seinem Leben büßen. Natürlich: Wenn die Reise zum Händler mehrere Tage in Anspruch nahm und eines der Tiere trächtig war, konnten sogar noch mehr Tiere abgeliefert werden, als es Kugeln und Scheiben im Topf gab. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen der Biologie und der Mathematik: In der Biologie ändert sich alles mit der Zeit. Die Zahlen hingegen bleiben über alle Zeiten hinweg immer die gleichen. Sie sind für immer konstant. Nicht die Biologie, die Mathematik ist die nachhaltigste aller Wissenschaften.
Einzig unser Zugang zu den mathematischen Objekten wandelt sich. Er wird von Generation zu Generation einfallsreicher. So kennt Nahor bereits andere Bauern, die es geschickter machen als der alte Haran. Die jungen Bauern nehmen eine Lehmtafel und ritzen in ihr Zeichen ein: Runde Kreise stehen für die Kugeln, die Haran in den Topf warf, senkrechte Striche stehen für die Scheiben. Wenn danach die Lehm- zu einer Tontafel gebrannt wird, sind die so eingetragenen Zahlen genauso unverwüstlich wie die Kugeln und Scheiben in Harans verschlossenem Topf. Und zusätzlich bieten sie den Vorteil, dass der Knecht auf der langen Reise zum Händler stets überprüfen kann, ob die Tiere in seiner Herde vollzählig vorhanden sind. Noch heute finden wir solche Tontafeln in dem von Euphrat und Tigris durchzogenen Wüstenland mit eingravierten Zeichen. Zwar nicht Kreise und Striche, wie es in der vereinfachten Geschichte beschrieben ist, sondern mit Keilschriftzeichen. Doch diese leisten das Gleiche: Es war das Bestreben der Menschen, über ihren Besitz gleichsam Buch zu führen, das sie zur Erfindung von Zahlen, aber auch zur Erfindung der Schrift veranlasste.