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4 »Zivilisation« – ein Rettungsring mit Löchern
ОглавлениеIn Zeiten wachsender Ratlosigkeit haben alte Rezepte Konjunktur. Das muss nicht immer falsch sein. Manchmal ist es sogar nötig und hilfreich, an vergessene Ratschläge zu erinnern. In jüngster Zeit wird immer häufiger »die« Zivilisation, »unsere« Zivilisation oder gar »die westliche« Zivilisation ins Spiel gebracht, wenn massive Formen von Gewaltanwendung Gefühle von Rat- und Orientierungslosigkeit hervorrufen. Zunächst will man mit Hinweisen auf »Zivilisation« und »zivilisatorische Minimalstandards« erklären, worin die Abweichung vom »rechten Weg« besteht, und danach dienen die erhabenen Chiffren als Rettungsringe, um von der Realität mit ihrem ganzen Chaos und Elend wegzuschwimmen. Den vorläufigen Tiefpunkt erreichte die Debatte, als im Zuge des Golfkrieges einige Normen zu »westlichen« Werten fundamentalistisch aufgemotzt und deren rationale Kritik als »Antiamerikanismus« denunziert wurde – in der Tradition von McCarthy & Co. Weder zur Erklärung noch zum Wegschwimmen hat der Begriff »Zivilisation« je getaugt – und zwar aus sachlichen und begriffsgeschichtlichen Gründen.
Sachlich scheitert jede Berufung auf eine positiv verstandene Zivilisation daran, dass Zivilisation und Barbarei in jeder geschichtlichen Epoche auf historisch zu bestimmende Art zusammengehören. Noch jede bisherige zivilisatorische Stufe hat ihren barbarischen Hinterhof und ist ohne diesen nicht zu begreifen. Vielleicht käme heute sogar Hermann Lübbe ins Stottern, wenn er seinen gerade mal zehn Jahre alten Satz wiederholen müsste: »Die Durchsetzungskraft unserer durch Wissenschaft und Technik geprägten Zivilisation beruht in letzter Instanz auf der Evidenz der Zustimmungsfähigkeit, ja Zustimmungspflichtigkeit der Lebensvorzüge, die, zunächst als Verheißung und schließlich als Realität, von Anfang an mit den Fortschritten dieser Zivilisation sich verband.« Wer sich am vermeintlich oder tatsächlich Positiven »der« Zivilisation festhalten will, um sich und andere aus den chaotischen und barbarischen Verhältnissen heraus ans sichere Ufer zu retten, vergisst, woraus das vermeintlich Rettende auch besteht – aus demselben gesellschaftlichen Stoff. Indem wir »unsere« zivilisatorischen Standards hochhalten, sichern wir (vielleicht) unsere Sicherheit, unser Leben und unser Überleben. Niemand wird behaupten, dass wir die Kosten dafür heute vollständig entrichteten oder je entrichtet hätten. Die ungedeckten Kosten zur Aufrechterhaltung »unserer« zivilisatorischen Standards verlängern alte barbarische Zustände oder lassen neue entstehen – hier und anderswo. Man kann das – ohne ins Detail zu gehen – an der alten europäischen Kolonialgeschichte (oder an neudeutscher »Standortpolitik«) nachvollziehen. Die Auswirkungen der ungeheuren zivilisatorischen Fortschritte des englischen Mutterlandes zur Zeit der ersten industriellen Revolution waren und sind in Indien zu besichtigen. Noch jeder bisherige zivilisatorische Fortschritt glich »jenem scheußlichen heidnischen Götzen, ... der den Nektar nur aus den Gehirnschalen Erschlagener trinken wollte« (Karl Marx).
Der Verlust von »zivilisatorischen Standards« wird in jüngster Zeit auf drei Ebenen als Ursache diskutiert: hinsichtlich der grausamen Kriege und Bürgerkriege auf der ganzen Welt und der schon alltäglichen Brutalität in den Armenhäusern auf der südlichen Hemisphäre, vor allem aber im Falle des erbarmungslosen Bürgerkriegs auf dem Balkan; in Bezug auf Verluderung, Verwahrlosung und Gewalt in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Nordens, wenn männliche Jugendliche gegenüber Fremden und Flüchtlingen scheinbar wahllos zuschlagen oder deren Häuser anzünden; und schließlich in einem ganz allgemeinen Sinne immer dann, wenn unfassbare Verbrechen bekannt werden.
Serben, Kroaten und bosnischen Muslimen vorzuwerfen, sie verrieten oder verleugneten in ihrer gegenseitigen Schlächterei – mit durchaus unterschiedlicher Intensität und Effizienz an den verschiedenen Bürgerkriegsfronten – »die europäische Zivilisation« ist ebenso trivial wie der gleiche Vorwurf an die ohnmächtigen europäischen Fernsehzuschauer. Die Erklärung von grenzenloser Verwahrlosung und Gewalt in Bürgerkriegen als Abweichung oder Abfall vom »Stand der Zivilisation« ist untauglich. Es handelt sich dabei nicht um die Abweichung oder das Abfallen von »der« Zivilisation, sondern um deren historisch, wirtschaftlich, politisch und sozial bestimmte Rück- oder Schattenseiten. Der Glaube, der »zivilisatorische Standard« bestimme das Verhalten von Einzelnen, Gruppen und Institutionen ist angesichts von Bürgerkriegen nicht mehr naiv, sondern zynisch gegenüber unschuldigen Opfern kalkulierter und interessegesteuerter Gewalt.
Eine pfiffige Variante des Rekurses auf »die« Zivilisation präsentierte 1993 der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington. Nachdem der Osten und dessen Herrschaftsideologie zusammengebrochen sind, sieht er die nächsten Konflikte entlang der Grenzen der »Kulturen« und »Zivilisationen« ausbrechen (The Clash of Civilizations – Der Zusammenprall der Kulturen). Die erste »zivilisatorische« Tat Huntingtons besteht darin, dass er sich im Schutz einer billigen Polemik gegen den »Menschenrechtsimperialismus« von universalistischen Normen verabschiedet, um die Abschottung der eigenen »Kultur« legitimieren zu können. Begriffsgeschichtlich dokumentiert er seine Vernagelung dadurch, dass er auf den weit gefassten angelsächsischen Zivilisationsbegriff verzichtet und stattdessen auf »culture« setzt – im Amerikanischen allemal nur ein Synonym für den »American way of life«. Insofern steht die deutsche Übersetzung des Aufsatzes den wahren Absichten des Autors näher als das Original und entlarvt dessen Chauvinismus. Was der »westlichen« Besitzstandswahrung dient, kommt gerade recht, so auch ein paar frisch angestrichene geopolitische Ladenhüter: Der Brennpunkt künftiger Konflikte liege, so Huntington, »zwischen dem Westen und mehreren islamisch-konfuzianischen Staaten«, denn »der Westen ist westlich und modern«. In jeder Hinsicht ein weites Feld.
Besonders beliebt ist neuerdings die Schuldzuweisung für den »zivilisatorischen« Verfall an lasche Lehrerinnen und Lehrer sowie an deren emanzipatorische Erziehungsmethoden. Falls die Geltung »zivilisatorischer Standards« allein oder auch nur primär vom Tun oder Nichttun des Schulpersonals abhängen sollte – wie die Schuldzuweisung unterstellt –, sollte man den Zivilisationsladen lieber gleich dichtmachen. Garantie für »zivilisatorische Standards« – das schafft kein Schulsystem; zum Glück übrigens, sonst hätte die Demokratisierung nach 1945 wenig Chancen gehabt, denn das damals angeblich mit der »Zivilisierung« betraute Lehrpersonal kam direkt aus dem Krieg und blieb noch sehr lange im Amt. Statt bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit larmoyant den Verlust »zivilisatorischer Standards« zu beklagen, ohne jede Reflexion darauf, was »Zivilisation« bedeutet, käme es darauf an zu untersuchen, wie die empörenden gesellschaftlichen Realitäten historisch, politisch, wirtschaftlich und sozialpsychologisch mit dem vermeintlich rundum Akzeptablen und Positiven zusammenhängen. Die sonntägliche Beschwörung »zivilisatorischer Standards« verschleiert nur, was jede historisch bestimmte Art zu leben und zu arbeiten, zu regieren und regiert zu werden an Hässlichem und Alltäglichem hervorbringt. Das ist Teil und Moment des widersprüchlichen Ganzen und lässt sich nicht anachronistisch verrechnen mit irgendwelchen »zivilisatorischen«, »westlichen« oder wie auch immer beschworenen Kassenbeständen oder Überschüssen aus besseren Tagen, im Jargon »Werten«. Als Horkheimer in wahrlich finsterer Zeit (1944/45) vom »Zusammenbruch dieser Zivilisation« und etwas ungeschützt von »Werten«, die »zu neuem Leben« gebracht werden müssten, sprach, notierte Adorno am Rand des Textes: »Vorsicht, klingt zu kulturkonservativ. Sagen, dass die Werte bewahrt werden, wenn man sie nicht bewahrt, sondern weitertreibt.« Die Vorstellung einer universalgeschichtlich aufsteigenden Linie »der« Zivilisation ist nicht falsch, aber einseitig, denn solch aufsteigender Fortschritt betrifft nicht »die« Zivilisation, sondern vor allem jene Bereiche, in denen sich starke Interessen mit Macht und Herrschaft verschwistern: »Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe« (Th. W. Adorno). Mit anderen Worten: Was Menschen sind, was aus ihnen geworden ist und weiterhin wird, bleibt ziemlich ungewiss und vielfältig verflochten mit dem geschichtlichen Prozess, d. h. dem Auf und Ab von Kontinuität und Diskontinuität, Entwicklung und Stagnation, Zivilisierung und Barbarisierung. Unbestreitbar ist jedoch der massive technologische Fortschritt in der Welt der Mittel; diese werden mehr und perfekter und dies in jeder Hinsicht. Jene Menschen und Institutionen, die mit Hilfe dieser Mittel Macht, Herrschaft und Gewalt verwalten, kriegen immer ungeheuerlichere und unberechenbarere Arsenale in die Hand. Und die Zwecke, denen diese Mittel zu Diensten stehen, tragen immer neue Verkleidungen. Mit einem lupenreinen Gesinnungsbegriff von »Verantwortung« wird versucht, der (vielleicht!) berechtigten und angemessenen militärischen Intervention ein zivilisatorisches Motivkostüm umzubinden. Die Welt der Herrschafts- und Gewaltmittel hat sich teilweise verselbständigt und kann jenen, die über sie legal verfügen, jederzeit ganz oder teilweise über den Kopf wachsen oder sie zu hilflosen Zauberlehrlingen und Marionetten machen. Greifen jedoch Einzelne zur Gewalt und verüben entsetzliche Taten, sieht der common sense immer schon »die« Zivilisation untergehen, so als ob das schlechthin Böse als eine Art Heimsuchung von außen in eine sonst friedliche Gesellschaft eingedrungen wäre. In dem Moment, in dem sich Siebzehnjährige bewaffnen oder von interessierten Bürgerkriegshäuptlingen bewaffnet werden, stellen sich viele und komplexe Fragen, aber nicht die simple und simplifizierende nach dem Verbleib »zivilisatorischer Standards«. Genauso wenig, wenn zwei zehnjährige Buben ein dreijähriges Kind eineinhalb Stunden durch Liverpool schleppen und dann ermorden: »Vielleicht sagt der scheinheilige Aufschrei über den Kindsmord mehr aus über das Land als über die Tat« (Reiner Luyken, DIE ZEIT 3.12.93).
Auf allen drei Ebenen werden »Zivilisation« und »Barbarei« entknotet und einzelnen bzw. Gruppen zugeordnet statt in ihrem gesellschaftlich und historisch bestimmten Zusammenhang gesehen. Diese tagespolitische Debatte durchzieht auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber, ob es einen »Prozess der Zivilisation« überhaupt gebe, oder ob man das Ganze als »Mythos« abtun könne.
Welche Konfusion die pauschale Berufung auf »Zivilisation« und »zivilisatorische Standards« oder die Unterstellung eines mehr oder weniger linearen »Prozesses der Zivilisation« hervorruft, lässt sich an der Kontroverse um die Bücher von Norbert Elias und Hans Peter Duerr zeigen. Elias begreift »zivilisiertes Verhalten« als Resultat historisch permanent zunehmender Affektkontrolle der Menschen. Diese Selbstkontrolle ist verbunden mit einer Privatisierung bzw. Intimisierung körperlicher Funktionen. Begleitet wird dieser »Prozess der Zivilisation« zunächst mit der Konzentration, dann mit der Monopolisierung der Gewalt in staatlicher Hand. Gewalt wird durchorganisiert und arbeitsteilig verschiedenen Trägern übergeben. »Man kann die Zivilisation des Verhaltens und den entsprechenden Umbau des menschlichen Bewusstseins- und Triebhaushalts nicht verstehen, ohne den Prozess der Staatenbildung und darin jene fortschreitende Zentralisierung der Gesellschaft zu verfolgen« (Norbert Elias). Ohne Zweifel beruhigt die staatliche Konzentration der Gewalt – unter bestimmten Bedingungen – das gesellschaftliche Gewaltgeschehen. Überzogen ist jedoch die Vermutung, der Prozess der Institutionalisierung der Gewalt und die Verwandlung von Fremd- in Selbstzwang durch die Verinnerlichung »zivilisatorischer« Normen laufe immer und automatisch auf eine Rationalisierung der Gewalt hinaus. Rationalisierung verstanden in dem Doppelsinne von Beschränkung und vernunftgeleiteter Anwendung der Gewalt. Die Institutionalisierung von Gewalt, so viel lehrt ein rascher Blick auf die Geschichte allemal noch, kann die Gewaltanwendung berechenbarer, rationaler in ihrer Ziel-Mittel-Relation und gerechter machen. Haltbare Garantien dafür gibt es aber noch nicht sehr lange und längst nicht überall. Was die im einzelnen Menschen verankerten »zivilisatorischen Standards« dazu beitragen, ist weitgehend ungeklärt. Empirisch erwiesen ist jedoch, dass jene Standards nachhaltigem wirtschaftlichem Druck und andauernder sozialer Not nicht lange standhalten. Ganz zu schweigen vom förmlichen Verschwinden jeglicher »zivilisatorischer Standards«, wenn marodierende Männerbanden unter staatlicher Aufsicht Bürgerkriege ausfechten. Aber auch die Haltbarkeit rechtsstaatlicher Begrenzung der Gewalt steht nirgends ein für allemal fest; dass staatliche Gewalt berechenbar, rational und neutral eingesetzt wird von den sie verwaltenden Institutionen, ist jedenfalls auch in demokratischen Rechtsstaaten kein Naturgesetz.
Das hängt mit der Begründung von Staatsmacht zusammen. Viel eher als in der Form von Vertragsabschlüssen oder anderen konsensualen Verfahren ist die Begründung von Staaten historisch wie aktuell als organisiertes Verbrechen darstellbar (einen matten Abglanz davon enthält das Wort »Vereinigungskriminalität«). Der New Yorker Historiker Charles Tilly hat solche komplizierten Prozesse 1985 unter dem Titel »War Making and State Making as Organized Crime« (»Kriegführung und Staatsbildung als organisiertes Verbrechen«) beschrieben. Aus der Fülle des Materials greife ich nur ein Beispiel heraus. Die venezianische Regierung erpresste von ihren eigenen Kaufleuten Schutzgelder in einer Weise, die nicht zu unterscheiden ist von der Schutzgelderpressung gewöhnlicher Krimineller; die Regierung installierte sich während Jahrhunderten förmlich als Sicherheits- und Schutzverkäufer – mit entsprechenden Provisionen. Freilich schlachtete man die Kuh nicht, von deren Milch man lebte und sorgte mit militärischen und politischen Attacken auf den Konkurrenten – allen voran Genua – dafür, dass auch dort die Schutz- und Sicherheitskosten anstiegen. Die heimischen venezianischen Kaufleute sollten ja konkurrenzfähig bleiben. In dem Maße, wie sich das Sicherheits- und Schutzgeschäft auf größere Territorien ausdehnte und an stehende Heere vergeben wurde, stiegen die Kosten. Staaten wurden so zu Großschuldnern und damit zu lukrativen Partnern der Financiers und Banken. Als Ludwig XIV. 1715 starb, betrug die kriegsbedingte Verschuldung drei Billionen Francs, das entspricht dem königlichen Steuerertrag von 18 Jahren. Diese symbiotische Verbindung von militärischer Gewalt, Staatsapparat, Finanz- und Steuerwesen treibt zwischen Mittelalter und Neuzeit den modernen Staat mit Gewaltmonopol hervor. Die Gewalt gegen eigene und fremde Bürger sowie die gewaltsame Durchsetzung von Interessen gegenüber Dritten waren dabei nicht zufälliges Beiwerk, sondern konstitutive Momente und wichtige Triebkräfte. Wenn man Elias’ These, dass Soziogenese des Staates und Psychogenese der »zivilisierten« Menschen sich ergänzende und bedingende Prozesse sind, wortwörtlich nähme, dürfte man sich über den Verlauf der letzten 500 Jahre Geschichte gar nicht mehr wundern. Auf jeden Fall ist es ratsam, die These nicht ganz wörtlich zu nehmen und sich im Übrigen an Kant zu halten, der 1784 in einer unerhörten Formulierung von der »barbarischen Freiheit der schon gestifteten Staaten« sprach. Oberflächlich mögen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesem wechselseitigen Prozess von Staats- und Zivilisationsbildung einen »zivilisatorischen« Firnis als Schutz zugelegt haben. Allzu kratzfest durfte dieser schon allein deshalb nicht sein, weil bislang fast jeder Staat »seine« Bürgerinnen und Bürger schon einmal dazu aufrief und verpflichtete, Angehörigen anderer Gemeinwesen den Status des »Zivilisierten« zuerst abzusprechen, dann mit rabiaten Methoden wegzunehmen. Und wo Staaten zögerten, halfen gesellschaftliche Agenturen nach.
Es wäre jedoch töricht zu bestreiten, dass es das, was Elias in einem nach wie vor faszinierenden Tableau als »Prozess der Zivilisation« beschreibt, gegeben hat. Rationalität und Haltbarkeit der Ergebnisse dieses Prozesses jedoch hat er ohne Zweifel überschätzt, dessen fundamentale Doppeldeutigkeit und Doppelbödigkeit weitgehend übersehen.
Und genau daraus will Hans Peter Duerr Norbert Elias einen Strick drehen, indem er ihn in die Nähe jener Kolonialideologen rückt, die »westliche Zivilisation« normativ verstanden und verstehen, um diese dem Rest der Welt aufzuherrschen. Zwar konzediert er, dass Elias »keine expliziten Werturteile gefällt« habe und kolonialistischem bzw. eurozentrischem Überlegenheitsdünkel fernstehe, befürchtet aber, dass man Elias Thesen so verstehen könnte. Was gilt? Bei Duerr kann ziemlich oft »genauso gut das Gegenteil der Fall sein«. Diese krude Argumentationsweise kann man vergessen. Für unseren Zusammenhang relevant ist, wie Duerr sein Vorhaben versteht. Im Prinzip will er Elias nicht zum Kolonialisten stempeln: »Mir geht es vielmehr darum, die Behauptung, ›westlichen‹ Menschen sei innerhalb der letzten fünfhundert Jahre das, was Nietzsche ›die Tierzähmung des Menschen‹ genannt hat, wesentlich besser gelungen ist als den Orientalen, den Afrikanern oder Indianern, als falsch aufzuweisen.« Ein vernünftiges Vorhaben. Wer wollte es bestreiten? Duerr breitet im vorerst letzten Band seiner Studie zum »Mythos vom Zivilisations-Prozess« (»Obszönität und Gewalt«) auf über 700 Seiten ein immenses Material aus. Mit einer Beispiel an Beispiel reihenden Belegsammlung ohne jeden erkennbaren theoretischen Anspruch, größere historische Zusammenhänge herzustellen oder gar zu analysieren, will Duerr gleichsam kasuistisch darlegen, dass jener »Prozess der Zivilisation«, den Elias untersuchte, eigentlich gar nicht stattgefunden habe bzw. nicht stattfinden konnte, weil »in sämtlichen menschlichen Gesellschaften die gleichen elementaren Gefühls- und Verhaltensdispositionen anzutreffen sind«, die die Menschen zu immer gleichem Verhalten bringen. Alles läuft immer auf ungefähr dasselbe hinaus, alle Kulturen werden gleich und alle Katzen grau. Duerr rechtfertigt das aparte Vorgehen: »Selbstverständlich vernachlässigt derjenige die Unterschiede, der nach den Gemeinsamkeiten sucht. Das ist das Wesen der Abstraktion.« Richtig, aber es kommt schon noch ein wenig darauf an, wovon abstrahiert wird und welche Unterschiede man vernachlässigt. Wenn man von sozialen Prozessen die für jeden einzelnen charakteristische Differenzen wegstreicht oder einfach identische Handlungsmotive in sie hineinprojiziert, kommt man zum bündigen Ergebnis, dass alle Kulturen gleich sind. Im Grunde dreht Duerr Elias’ positiv besetzten Zivilisationsbegriff nur um und akzentuiert ihn negativ. Das ist nicht Duerrs Erfindung, sondern hat einen Grund in der Sache selbst.
Begriffsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass mit demselben Begriff ein und derselbe Prozess positiv oder negativ charakterisiert oder seine Existenz gar bestritten werden kann. Die Doppeldeutigkeit ist konstitutiv für den Begriff »Zivilisation«, und diese Doppeldeutigkeit allein macht ihn unbrauchbar für eine theoretisch konsistente Argumentation. Wenige sozialwissenschaftliche Grundbegriffe sind nach wie vor so mit historischen Mystifikationen verbunden wie der Begriff »Zivilisation«. An der zählebigsten dieser Mystifikationen hat Elias selbst mitgestrickt. Es geht dabei um die Rückprojektion der erst Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden und im Ersten Weltkrieg kulminierenden Kontroverse um die »Ideen von 1789« und die »Ideen von 1914«. 1789 steht dabei für »Zivilisation«, die von deutscher Seite als seichte Vorstufe der Barbarei abgewertet wurde; 1914 steht für »Kultur«, die von Frankreich her als Ausbund von Nationalismus und Militarismus dargestellt wurde. In modifizierter Form hat Elias die Ansätze dieser Kontroverse ins 18. Jahrhundert zurückverlegt: demnach war »Kultur« eine »gegen den Adel gerichtete Schöpfung der politisch ohnmächtigen deutschen Bildungsschicht« und betonte das Nationale, »während sich in ›civilisation‹ die französische höfische Gesellschaft artikuliert habe«, mit einem Vorrang für das Übernationale. Der Zürcher Historiker Jörg Fisch hat die unhaltbare Konstruktion eines wesentlichen Unterschieds zwischen dem französischen und dem deutschen Sprachgebrauch im 18. und 19. Jahrhundert fundiert zurückgewiesen.
Entgegen solchen Anachronismen ist von einer weitgehend gleichen und positiven Bedeutung der beiden Begriffe auszugehen, die vor dem Ende des 19. Jahrhunderts weder national akzentuiert waren noch eine hierarchische Ordnung unterstellten. In den beiden artikulierte sich aber andererseits ein klarer Überlegenheitsanspruch gegenüber Nicht-Europäern. Gegenbegriffe zu »Kultur« und »Zivilisation« sind »Natur« und »Barbarei«, übergeordnet werden ihnen gelegentlich »Bildung« (etwa bei Humboldt) oder »Moral« (z. B. bei Kant).
Bevor die beiden Begriffe zu Synonyma wurden, bezeichnete das lateinische Wort »cultura« die Bestellung des Bodens in der Landwirtschaft und erst sekundär die Erziehung des Menschen (»cultura animi«). »Zivilisation« bzw. das lateinische »civilitas« dagegen verlor nie ganz die Verbindung mit dem Stammwort »civis«/Bürger bzw. »civitas«/ Bürgerschaft, Staat. Doch hat sich der Gegensatz zwischen landwirtschaftlich und politisch verstandenem Begriff schnell zersetzt, weil die Wörter »civilitas«, »civilité«, »civility« und – in geringerem Maße – »civiltà« gleichsam entpolitisiert wurden und seit der frühen Neuzeit »Höflichkeit« und »gutes Benehmen« bedeuten.
Spätestens mit der Aufklärung werden »Kultur« und »Zivilisation« in allen europäischen Sprachen zu Synonyma und in dem Maße geschichtsphilosophisch aufgeladen, wie die theologisch begründeten Weltbilder verblassen oder ganz verschwinden. »Kultur« und »Zivilisation« bilden jetzt das Telos der Geschichte. Als geschichtsphilosophische Zielprojektionen haben sie kaum empirisch bestimmbare Gehalte und dienen vor allem dazu, die Menschen von der Natur und natürlicher Evolution abzuheben und auf die Zukunft auszurichten. In dieser Perspektive geraten »Kultur« und »Zivilisation« zur zweiten Natur der Menschen, zu dem, was diese von der Natur grundsätzlich unterscheidet.
Mit der geschichtsphilosophischen Ladung handeln sich die beiden Begriffe eine Doppeldeutigkeit ein: »Kultur« und »Zivilisation« werden zwar im allgemeinen als aufsteigende Linie oder Fortschritt konzipiert, doch muss aus plausiblen Gründen und bloßer Erfahrung eingeräumt werden, dass die einzelnen Schritte der Kultivierung und Zivilisierung positive und/oder negative Konsequenzen zeitigen können. Das hängt damit zusammen, dass »Kultur« und »Zivilisation« immer ein Doppeltes gemeint haben, den Prozess der Kultivierung bzw. Zivilisierung und dessen Resultate. Damit entsteht und wächst die Gefahr, die – letztlich – positiven Resultate mit den – unter Umständen – negativen Seiten des Zivilisationsprozesses zu verrechnen, nach der Devise: Passiere, was wolle, für »Kultur« und »Zivilisation« als Resultate bleibt der Saldo immer positiv, denn die Schattenseiten des Prozesses erscheinen nur als historische Reibungsverluste. Unüberbietbar hat das FAZ-Feuilleton (21.12.93) die verlogenen Prätentionen, die mit beiden Begriffen fest verschweißt sind, noch einmal aufgetischt: »Die Umweltproblematik ist zur Kulturfrage unserer Zivilisation, nicht nur der Industrienationen, geworden und damit zum Zentralbegriff einer neuen Kosmopolitik.«
Vereinzelte Versuche, der Doppeldeutigkeit zu entgehen, indem man etwa den Zivilisationsbegriff für die negativen, den Kulturbegriff für die positiven Seiten des Prozesses wie der Resultate der »Zivilisation« reklamierte, setzen sich nicht durch. Heinrich Pestalozzi identifizierte das Ancien Régime 1797 als »Civilisationsverderben«, »Civilisation« mit »Tierheit« und »Cultur« mit »Menschlichkeit«. Auch der umgekehrte Normierungsversuch scheiterte: »Das Streben der Menschheit ist ihre Civilisation. Jeder Fortschritt, den ein Volk in seiner Civilisation macht, wird als eine teilweise Erfüllung seiner Lebensaufgabe betrachtet und geehrt; und nicht leicht achten wir ein Opfer für zu groß, wenn es der Förderung oder Ausbreitung menschlicher Civilisation dient« (Johann Caspar Bluntschli 1857).
Solange das Fortschrittsmodell unbestritten blieb, galt auch das »Axiom der Vergleichbarkeit« (Jörg Fisch) und der Messbarkeit von »Kultur« und »Zivilisation« an einem einzigen, von Europa aus definierten Maßstab. Mit der Pluralisierung von Kulturen und Zivilisationen in der wissenschaftlichen Ethnologie, einsetzend mit Edward Burnett Tylor (1871), hat der Maßstab seine Selbstverständlichkeit und seine Geltung eingebüßt. Kulturen und Zivilisationen sind heute nicht mehr länger mit Hinweis auf den buchhalterisch bereinigten »Stand« von »Kultur« und »Zivilisation« einzuordnen, sondern nur – auf der Basis der Anerkennung universalistischer ethischer und rechtlicher Normen – untereinander zu vergleichen. Die Kriterien dafür sind in den doppeldeutigen und doppelbödigen Begriffen »Kultur« und »Zivilisation« im Singular gerade nicht zu fassen, sondern nur ethisch-politisch bzw. rechtlich; als normierende und normative Begriffe sind sie deshalb obsolet geworden.
Dem versucht man wieder einmal zu entgehen, indem man den geschichtsphilosophisch positiv aufgeladenen Begriff »Zivilisation« negativ umpolt. Das Muster dafür liefert der seit dem Fin de siècle geläufige, abendländisch oder untergangssüchtig oder beides zugleich orchestrierte Kultur- und Zivilisationspessimismus – wilhelminischer Stammtisch-Nietzsche.
Zygmunt Bauman diagnostizierte das »Jahrhundert der Lager« als Kulminationspunkt und legitimes Produkt »unserer modernen Zivilisation«. Günter Kunert räsonierte über »die Abschaffung der Kultur durch die Zivilisation« (DIE ZEIT 4.2.1994), als ob er das Abendland mit der Munition aus dem gymnasialen Gesinnungsaufsatz der 50er Jahre verteidigen müsste: »Wir haben doch mehr Geräte ... als je zuvor ... Man ist nicht mehr neugierig ... Obwohl wir ... mehr Freizeit haben, fehlt uns, um diese zu nutzen, die Muße ... Wir sind längst von Ungeduld infiziert.« Wer ist »wir«?
Bauman und Kunert sehen den zivilisatorischen Zug bremsen- und führungslos auf einer einzigen abschüssigen Strecke davonrasen und vergessen darob die Vielfalt des Geländes, durch das sich der Zug seit der Aufklärung bewegt. An der bisherigen Geschichte gibt es gar nichts zu beschönigen, aber mit einem weichenlosen, schnurgeraden Schienenweg hat sie nichts zu tun – in ihren Abgründen wie in ihren besseren Momenten. »Die Kritik der instrumentellen Vernunft« (Max Horkheimer) und »Die Dialektik der Aufklärung« (Max Horkheimer/Th. W. Adorno) haben das unvermeidliche Pendeln aller bisherigen zivilisatorischen Bewegungen zwischen Kultur und Barbarei an den gesellschaftlichen Realitäten dargelegt; ein Pendeln, das »nicht auf einem Zuviel, sondern einem Zuwenig an Aufklärung« beruht, und »die Verstümmelungen, welche der Menschheit von der gegenwärtigen partikularistischen Rationalität angetan werden«, ebenso produziert wie Widerständiges und Kritik: »Residuen von Freiheit« und »Tendenzen zur realen Humanität«.
An die Stelle fortschrittstrunkenen Vertrauens auf die Zivilisation ist insbesondere bei Bauman einfach deren pauschale Denunziation getreten. Fahrplanmäßige Schematismen ersetzen dialektisches Denken. Ein geschichtsphilosophisch konstruiertes »widerspruchsloses Gesamtsubjekt« hat das andere abgelöst und suggeriert erneut »simple Totalentwicklung« – dieses Mal abwärts. »Solche Vorstellungen gehören zur Fassade, den kurrenten Ideen von Universalgeschichte und Lebensstil.«