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5 Geopolitik oder: Man braucht Platz

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Ein Gerücht schleicht durch Europa. Dem Gerücht nach sollen die Wörter »Geopolitik« oder »geopolitisch« Sachhaltiges aussagen. Gerüchte leben davon, dass sie sich unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit verbreiten. Sie sind Selbstläufer wie gemeine Dummheiten und Binsenwahrheiten. Im Falle der »Geopolitik« lautet die vom Gerücht zur Binsenwahrheit eingedickte Reduktionsformel: »Die Geopolitik ist nichts anderes als eine von den Zwängen der Geographie geforderte Politik« – so Pierre Béhar, Professor »für deutschsprachige Literatur und Kultur« sowie »zentraleuropäische Geopolitik«. Trotz des forschen Tons ist über »Zwänge der Geographie« wissenschaftlich nichts ausgemacht außer der Banalität, dass einem Inselstaat am Äquator Schiffe wichtiger sind als wintertaugliche Kettenfahrzeuge. Aber schon die Frage nach Art der Schiffe, die ein solcher Staat benötigt, findet in seiner geographischen Lage keine Antwort. Dass Politik in Raum und Zeit stattfindet und insofern eine geographische Grundlage und eine chronologische Dimension hat, ist eine logische Voraussetzung, die nichts dazu sagen kann, wie und in welchem Ausmaß geographische Lage und Chronologie (sowie erheblich wichtigere Faktoren!) eine bestimmte Politik zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflussen. »Geopolitische Erklärungen« sind deshalb notorisch erschlichen und von kaum unterbietbarer Schlichtheit. So offeriert der Militär-Geopolitiker Heinz Brill in seinem Ullstein-Buch »Geopolitik heute« für die Tatsache, dass die USA auf den Fall der Mauer gelassener reagierten als andere Staaten, die »geopolitische Erklärung«, dass die USA »kein unmittelbarer Nachbar Deutschlands« seien. Was nicht reines Gerücht bleibt, sondern das Niveau einer Binsenwahrheit erreicht, bewegt sich in Brills Buch zur »Geopolitik« in dieser Preislage. Eine andere Studie »zur Modellierung geopolitischer und geoökonomischer Prozesse« (Stefan Immerfall) kommt über Pleonasmen nicht hinaus: »Zentrumsbildung und Grenzziehung« haben demnach »oft« eine »geographische Dimension« – und Schimmel sind »oft« weiß. Nur wo Wissenschaft mit »integrativer Integrität« betrieben wird, ist auch die Bemerkung erlaubt, »mehr und mehr« werde »die Bedeutung von Raum und Zeit für soziale Geschehensabläufe wieder entdeckt.« Was wären denn »soziale Geschehensabläufe« außerhalb von Raum und Zeit? Einbildungen und Phantasmen. Raum und Zeit sind elementarste Voraussetzungen aller Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis.

Was es dagegen mit der Konsistenz »geopolitischer Logik« nach der von der »taz« (7.6.95) beschworenen »Rückkehr der Geopolitik« auf sich hat, beschreibt Béhar: »Die geopolitischen Fakten sind zweifacher Art. Einige dieser Fakten sind zwingend«, andere »nur richtungsweisend«. Trefflich. Welche Art von Fakten wohin gehören, und nach welchen Kriterien sie abgegrenzt werden, verrät der Autor nicht. Er kann dies so wenig wie alle anderen, die von »Geopolitik« daherreden, als gäbe es diese als »Faktum«, als »Wissenschaft« oder als »Logik«. »Geopolitik« beruht nicht auf Fakten oder Logiken. Sie leitartikelt sich »Fakten« und »Logiken« zurecht und konstruiert beliebige Bezüge, die als »Kausalitäten« oder »Gründe« für politisch kontingente Ziele herhalten: »Die Demokratie hat einen geopolitischen Raum: den Nationalstaat« (so die »Geopolitiker« Lucio Caracciolo und Angelo Bolaffi). Drei Großbegriffe, aus denen zwei Anachronismen und ein Gemeinplatz destilliert werden. Erstens: Die Behauptung über den im Übrigen immer sehr lockeren und kurzfristigen Zusammenhang von Demokratie und »Nationalstaat« ändert nichts daran, dass einige Formen der Demokratie über zweitausend Jahre älter sind als der Frischling »Nationalstaat«. Zweitens: Wahrscheinlich ist, dass die Demokratie, wenn sie den Namen verdient, in Zukunft ohne den Anspruch auf »Nationalstaatlichkeit« auskommen muss, weil über das Kriterium nationaler Zugehörigkeit niedergelassene Ausländer immer von politischer Partizipation ausgeschlossen, aus dem Land getrieben oder getötet wurden. Der »geopolitische Raum« schließlich ist jenseits der Banalität, dass jeder Staat ein Territorium braucht, für demokratische Verfassungen so wichtig wie das Wetter.

Der Versuch, aus dem Gebrauch des Schlagworts Geopolitik herauszukriegen, was damit gemeint ist, scheitert daran, dass der Begriff eingesetzt wird wie ein Joker. Wenn man trotzdem nicht aufgeben will, stellen sich zwei Fragen. Wann entstand und was war Geopolitik? Und warum taucht Geopolitik in Frankreich, Italien und hierzulande wieder auf?

Auf die Frage, wann sie entstanden ist, gibt es von Seite der Geopolitik – wie bei der Frage nach dem Status ihrer »Fakten« – zwei Antworten. Die erste läuft darauf hinaus, der Geopolitik durch hohes Alter Reputation zu verschaffen. »Die Geopolitik ist eine Tochter der Geographie ... Die Geographie ist eine alte Wissenschaft« (Pascal Lorot). Im Prinzip werden damit alle Autoren als Geopolitiker eingemeindet, die sich seit der Antike irgendwie mit geographischen Fragen befasst haben. Die französischen Geopolitiker haben einer ihrer Zeitschriften aus solchem Ehrgeiz den Titel »Hérodote« verpasst. Für andere beginnt die Geopolitik mit Montesquieu, der sich im »Esprit des Lois« (1748) Gedanken über den Zusammenhang von Gesetzen, Klima, Bodenbeschaffenheit, Sitten, Einwohnerzahl, Handel und Religion machte, oder mit Turgot, der 1751 einen Traktat »Über politische Geographie« schrieb, oder mit Hegel, der 1830 über den »Naturzusammenhang oder die geographische Grundlage der Weltgeschichte« spekulierte. Die geographischen Überlegungen von Montesquieu, Turgot und Hegel haben einen restlos untergeordneten Stellenwert in deren Gesamtwerk. Für die Begründung einer Geopolitik geben sie so wenig her wie kosmologische Spekulationen antiker Philosophen für die Kernphysik.

Die zweite Antwort auf die Frage nach Entstehung der Geopolitik verlegt den Zeitpunkt in die Epoche des Imperialismus. Damals beschäftigten sich Geographen wie Friedrich Ratzel (1844-1904) mit den »Gesetzen des räumlichen Wachstums der Staaten«. Von der Ideologie des Alldeutschen Verbandes imprägniert, suchte Ratzel nach Rechtfertigungen, um Grenzen zu verschieben und Gebiete »geopolitisch« zu arrondieren. Das als Organismus verstandene Reich Bismarcks sollte nach 1871 wachsen wie ein menschlicher Körper. Max Weber kleidete 1895 dieselbe Hoffnung in das Wort von der Reichsgründung als »Jugendstreich«, dem »Taten« folgen sollten. Ratzels Hauptwerke, »Politische Geographie« (1897) und »Der Lebensraum« (1901), enthalten zwar das Wort »Geopolitik« nicht, aber ihr Autor verstand sich als Ratgeber der Reichsführung bei deren Jagd nach einem »Platz an der Sonne« (Staatssekretär v. Bülow 6.12.1897): »Es liegt im Wesen der Staaten, dass sie im Wettbewerb mit den Nachbarstaaten sich entwickeln, wobei die Kampfpreise zumeist in Gebietsteilen bestehen« (Ratzel). Mit dem Buch »Das Meer als Quelle der Völkergröße« (1900) wurde Ratzel zu einem der Mentoren unter den »Flottenprofessoren«, die das bürgerliche Deutschland ex cathedra auf das Flottenbauprogramm – und damit auf einen Krieg gegen England – einschworen. Ein zentraler Begriff Ratzels ist jener des »Lebensraums«, den er von Oscar Peschel übernommen hat, der ihn 1860 bei der Besprechung von Darwins »On the Origin of Species« (1859) verwendete. Ratzel definierte den Begriff an keiner Stelle, sondern beschwor ihn nur in Analogien und Analogieschlüssen. Nachhaltig wirkte der Vergleich mit Beobachtungen von der pazifischen Insel Laysan, wo sich aus Mangel an »Nistplätzen der Seevögel ... das Recht der Besitzenden mit grausamer Folgerichtigkeit« durchsetze. Die »Volk-ohne-Raum-Propaganda« konnte hier nahtlos anschließen.

Als Begründer der Geopolitik und Erfinder des Neologismus gilt der schwedische Geograph Rudolf Kjellén, dessen Arbeiten zwischen 1901 und 1916 erschienen. Aber erst die deutsche Übersetzung von 1917 (»Der Staat als Lebensform«) fand breitere Beachtung. Der gelegentlich als Begründer der Geopolitik genannte britische Geograph Halford J. Mackinder (1861-1947) gebrauchte den Begriff in seinem 1904 erschienen Aufsatz »Der geographische Angelpunkt der Geschichte« ebenso wenig wie der amerikanische Marineschriftsteller Alfred T. Mahan. Dem ersten ging es um britische Seeherrschaft, und der zweite dachte nur sandkastenmäßig-militärisch.

Kjelléns »Der Staat als Lebensform« umfasst fünf Kapitel zu Ethnopolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Herrschaftspolitik und Geopolitik. Letztere umschreibt er als »die Lehre vom Staat als geographischem Organismus oder Erscheinung im Raume: also der Staat als Land, Territorium, Gebiet oder ... Reich.« Es ist bezeichnend für die geopolitische Mode zwischen 1917 und 1945, dass keiner ihrer Anhänger auch nur bescheidene Anstrengungen unternommen hat, den Gegenstandsbereich und die Methoden der von vielen (nicht von allen) als Wissenschaft verstandenen Geopolitik zu bestimmen. Bei Kjellén wird der Staat von seiner elementarsten Voraussetzung her gefasst, von seiner Territorialität, aus der der Rest abgeleitet wird. Für ihn wiegen denn auch Gebietsverluste schwerer als der Verlust von Menschenleben.

Nirgends fand Geopolitik so viel Beachtung wie bei deutschen Konservativen und Nationalsozialisten. Beiden war sie ein Hebel zur Revision der Pariser Friedensverträge von 1919/20. Die schillerndste Figur war Karl Haushofer (1869-1946), Mitglied der NSDAP, mit einer Frau jüdischer Herkunft verheiratet, befreundet mit Rudolf Hess und intimer Feind von Goebbels, der ihn nach 1939 kaltstellte. Auch wenn man den direkten Einfluss der Geopolitiker auf die Herrschaft der Nazis nicht überschätzen darf, so hat sich doch das Unternehmen, das sich zwischen 1924 und 1944 um die »Zeitschrift für Geopolitik« gruppierte und den Nazis die Stichwörter lieferte, nachdrücklich diskreditiert: Vom Kampf gegen Weimar über den Antisemitismus bis zum »Drang nach dem Osten« ist hier »geopolitisch« alles zur Propaganda aufbereitet worden. Das kritisch gemeinte Wort vom deutschen »Drang nach dem Osten« prägte der Pole Julian Klaczko 1849; Geopolitiker und Nazis drehten es um und machten es zur Fanfare. Daran ändert nichts, dass Haushofer selbst gegen den Krieg mit der Sowjetunion war. »Das Gesetz der wachsenden Räume« formulierte Fritz Hesse schon 1924. 1933 deklarierte sich die Geopolitik freiwillig als »nationale Staatswissenschaft«, ganz nach Haushofers Motto: »Die Geopolitik will Rüstzeug zum politischen Handeln liefern und Wegweiser im politischen Leben sein.« Umso peinlicher berührt es, wenn neuerdings akademische Gesellenarbeiten versuchen, Geopolitik und Geopolitiker von ihrer Kollaboration mit den Nazis reinzuwaschen. Haushofer hat es abgelehnt, der Forderung seines Kollegen Richard Hennig nachzukommen, Geopolitik eindeutig von Rassenpolitik abzugrenzen. Er räumte nur den Vorrang des »Rechts des Bodens« ein und sprach von »Blut und Boden als Widerlagern« des »gewaltigen Bogens« (4.6.1935), den die Politik nach 1933 geschlagen habe. Die 1994 erschienene Dissertation Frank Ebelings sieht dagegen in der Geopolitik einen Beitrag zur »Stabilisierung ... der Weimarer Republik«. Er schreibt Haushofer »skeptischen Realismus« zu und verniedlicht dessen Unterstützung für Hitlers Außenpolitik als »Ausdruck des Willens einer Idee, über die nationalen Grenzen hinaus ordnungsgebend tätig zu werden.« Mit dem »Denken der Welt« und »Größe« (Michel Korinman) hat die abgeschmackte Scharlatanerie, die zwischen 1917 und 1945 in Deutschland als Geopolitik auftrat, nichts zu tun. Deren trostlose Geschichte kann es nicht gewesen sein, die die Geopolitik in Frankreich, Italien und in der BRD wiederbelebt hat.

Die Gründe dafür liegen in den drei Ländern unterschiedlich, wenn es auch Gemeinsamkeiten gibt und Frankreich den Vorreiter spielt. Man kann das in jeder großen Pariser Buchhandlung überprüfen. Dort füllt die Abteilung »Géopolitique« sechs Laufmeter, gefolgt von einem Meter »Polémologie« (Kriegeskunde), an die sich die Abteilung »Menschenrechte/Humanitäres« mit kaum einem halben Meter Bücher anschließt. Geopolitik hat Konjunktur, und ein »Dictionnaire de géopolitique« ordnet alle Gemeinplätze handlich auf über 1000 Seiten. Seit neuestem ist Geopolitik in Paris ein universitärer Studiengang. Dass es dazu kam, ist das Verdienst des Geographen Yves Lacoste. Der erklärt sich den Wiederaufstieg der Pseudowissenschaft Geopolitik disziplingerecht schlicht: Als es 1979 zum Krieg zwischen den drei kommunistischen Staaten Vietnam, Kambodscha und China kam, fehlte den Journalisten eine Erklärung, denn das Ost-West-Raster versagte. Die Journalisten schauten auf die Karte, sahen das Mekong-Delta und verschrieben sich »geopolitischen Erklärungen« – eine journalistische Improvisation steht also am Beginn der Renaissance der Geopolitik in Frankreich.

Diese Renaissance fiel zusammen mit dem Auftreten der »Neuen Philosophie« in Frankreich. Ebenso theatralisch wie hypermoralisch grundiert, verabschiedeten sich damals Teile der Pariser 68er-Intelligenz von ihrem konfusen Bistro-Maoismus. Lacoste selbst gehörte nicht zu dieser Generation, aber zu einer Fraktion von »Tiers-Mondistes« (Dritte-Welt-Fans), denen die Verbrechen Pol Pots und anderer Diktatoren ihr Weltbild zerstörten. Denjenigen, denen früher das Herz für den Klassenkampf im Weltmaßstab und für »die Verdammten dieser Erde« schlug, erschien jetzt über Nacht »die Geographie als Handlungsmittel« (moyen d’action). Als »militante Geographen« wandten sie sich zunächst gegen »die Geographie der Professoren« (Yves Lacoste). Später versuchten sie Einfluss auszuüben auf die »Entscheider« in Wirtschaft, Politik und Militär. Historische Analogien sollten das Prestige steigern: Herodot sei, so Lacoste, nicht nur Historiker gewesen, sondern habe mit seinem Wissen über Persien die Raubzüge Alexanders des Großen erst ermöglicht. Ob bei der Investitionsberatung multinationaler Konzerne, bei staatlichen Entwicklungsprojekten oder als »Ratgeber von Staatschefs« – für alles stellt »die Geographie« nach Lacoste »ein ausgezeichnetes Herrschaftsmittel« bereit (»Den Boden denken«, Autrement, Nr. 152, 1995). Der Formel à la mode entsprechend, wird da zwar »bodennah« platt geredet, aber wenig gedacht – schon gar nichts zu Ende. In der Zeitschrift »Hérodote«, die den Untertitel »Revue de géographie et géopolitique« erst seit 1982 trägt, hieß die Zielgruppe 1976 noch etwas anders: »für die Unterdrückten«. Was jedoch den Gegenstand und die Methode der aufgewärmten Geopolitik ausmacht, so ist alles beim Alten geblieben: Kein einziger Beitrag in 20 Jahren, der die Grundlagen klärte. Vielmehr tischt das Organ unentwegt Ladenhüter auf, die in ihrer Schlichtheit auch von Haushofer stammen könnten. »Die geopolitische Methode« bezieht »ihre Argumente aus der geographischen Logik, und als Arbeitsgrundlage dienen ihr Karten« (Yves Lacoste 1990). Allenfalls kann man von einem Rückzugsmanöver sprechen, wenn Lacoste einräumt, dass »es ja nicht eine Geopolitik, sondern verschiedene Geopolitiken« gibt – und zwar so viele wie Nationalstaaten. Das war die Einbruchstelle für den mit Ressentiments gegen Deutsche unterlegten Salon-Nationalismus, in den Lacoste und die gesamte Zeitschrift nach 1989 umkippten. Die Zeitschrift bietet heute nur noch nationale Propaganda, unter dem Vorwand, man dürfe die »Idee der Nation« nicht der »nationalistischen extremen Rechten« (Hérodote, Nr. 72/73, 1994) überlassen. Fazit: Zu den »geopolitischen« kamen die post-Jetons hinzu (»Westen«, »Zivilisation«, »Identität« und »kollektives Bewußtsein«). Geopolitik aber blieb, was sie immer war: Leutnants-Latein in Form militärischer Geländekunde, die bestimmt wird durch logistische, taktische und strategische Plausibilitätserwägungen oder Leitartikel-Prosa, die ihre nationale Borniertheit hinter begrifflichen Nebeln verbirgt. Nur lächerlich wirkt, wenn derlei von der deutschen Anhängerschaft als »Hérodote-Schule« beweihräuchert wird.

Der italienischen Linie der Geopolitik fehlt jede intellektuelle Eigenständigkeit. Sie schwimmt mit ihrer Zeitschrift »Limes« im Pariser Schlepptau. »Limes« ist hemmungsloser – da darf man auch das »Italien ohne Helden« oder den »Genozid an der Nation« bejammern. Ein Teil der Autoren gehörte einst zur kommunistischen Linken. Nachdem diese aus der Mode kam, bleiben vielen nur »unsere wahren nationalen Interessen« (Federico Rampini) und Nationalismus übrig. Mit Carlo Jean hat die Zeitschrift ein Mitglied im »wissenschaftlichen« Beirat, das im Stil wilhelminischer Generäle über die »nationale Idee der Sicherheit« und »gerechte Kriege« schwadroniert. Andere machen die »Entnationalisierung« der Linken für den Zustand der staatlichen Institutionen verantwortlich, nicht etwa Parteiensumpf, Mafia und Korruption. »Die Mäßigung«, die sich »Limes« auferlegt, nachdem »wir immer zu groß oder zu klein sein wollten«, endet bei der blutsrechtlichen Eingemeindung aller emigrierten Italiener: »Dann kommen wir auf etwa 100 Millionen«, d. h. auf »ein geopolitisches Vorkommen, das darauf wartet, ausgebeutet zu werden« (Limes 4/1994). Aus dem Editorial der Zeitschrift »Geopolitica« von 1939 tönte die »Mäßigung« ähnlich: »Die Grenze Italiens liegt in den Karpaten.« Geopolitik ist in Italien eine Schöpfung der faschistischen Regierung, was die heutigen Adepten nicht zu stören scheint. Man redet einfach von »der Gewohnheit unserer Kultur, sich bei der Analyse verschiedenster Bereiche des räumlichen oder territorialen Schlüssels« zu bedienen. Im publizistischen Handgemenge dominieren Seichtigkeiten und Vereinfachungen: Deutschland sei »besessen von einem Gefühl der Unsicherheit ...: dem Fehlen eines Selbstbewusstsein stiftenden Kollektivgedächtnisses und einer sicher definierten geographischen Lage. Daher sein unruhiger Charakter, die ständige Versuchung, auf geopolitische Wanderschaft zu gehen, immer auf der Suche nach der eigenen Identität« (Angelo Bolaffi) – wie gehabt, Verdun und Stalingrad als Folge der Leidenschaft für »geopolitische Wanderschaft«.

In der Bundesrepublik hat es drei Versuche gegeben, die Geopolitik wiederzubeleben. Mit dem ersten brachten die alten Kämpen die »Zeitschrift für Geopolitik« von 1951-56 wieder heraus. Das Unternehmen driftete so weit nach rechts, dass bald Autoren und Leser fehlten. Der zweite Versuch begann 1981 parallel mit Kohls »geistig-moralischer Wende«. Konservative Historiker führten in tagespolitisch motivierten Beiträgen alte »geopolitische« Klischées und simple Denkmuster »stillschweigend« und ohne »stichhaltige Argumente« (Hans-Ulrich Wehler 1982) in die Debatte ein. Vereinzelt fand Michael Stürmer damit zwar Nachahmer in Leitartikeln und Feuilletons, aber der Vorstoß versandete. Der dritte Anlauf, Geopolitik salonfähig zu machen, setzte nach 1989 ein. Neokonservative Nachwuchshistoriker bliesen zur Planierung der Brüche in der deutschen Geschichte und zu deren »Normalisierung« im Namen der Nation (B. Seebacher-B.). Mit dem »Rückruf in die Geschichte« sollte die Geopolitik als »Orientierungswissenschaft« (Karlheinz Weißmann) installiert werden. Die Trommler der »selbstbewussten Nation« entdeckten die »Mittellage« bzw. Haushofers »Zerrzone« und empfahlen gleich die Rückkehr zu den »Erfahrungen der Großväter und Urgroßväter« (Karl-Eckard Hahn). Karl Schlögel sah Berlin »an einer Magistrale, ... die Westeuropa mit dem Pazifik verbindet« und mahnte ultimativ die Beschäftigung mit »Erdkunde und Geopolitik« an.

Mittlerweile ist diese Agitation in offenen Nationalismus und Revisionismus umgeschlagen, die sich in Sammelbänden zur »Westbindung« und zur »selbstbewussten Nation« ausleben. Es geht nicht darum, jedem, der sich am restlos ausgedroschenen nationalen oder geopolitischen Stroh zu schaffen macht, eine alte Schelle umzuhängen. Nachzufragen ist, ob einer überhaupt Sinnvolles und Sachhaltiges ausdrückt, wenn er Geopolitik sagt oder schreibt. Die Beweislast dafür liegt bei den Autoren, und diese sind die Belege bislang schuldig geblieben.

So wie in Frankreich und Italien ortlos gewordene Linke in der Geopolitik neue Orientierung suchten, so auch hierzulande. Mit Haushofer will man zwar nichts mehr zu tun haben, aber damit »keineswegs ... pauschal den Stab über alle Varianten geopolitischen Denkens brechen« (Dan Diner). Derlei Beteuerungen werden nicht überzeugender mit dem Hinweis auf »die Schule von Yves Lacoste«, denn auch für sie gilt, dass von den vielen Varianten, in denen der Begriff »Geopolitik« auftaucht, keine diskutablen Standards genügt – von Modischem in der Preislage einer »Geopolitik multikultureller Gesellschaften« (Claus Leggewie) abgesehen.

Viele ostdeutsche Politologen fielen nach Abwicklung und Warteschleife nicht nur in ein existentielles Loch. Sie verloren gleichzeitig ihre zum Katechismus verkommene methodologische Grundausstattung – den Marxismus-Leninismus. In zwei ostdeutschen Zeitschriften (»Berliner Debatte INITIAL« und »WeltTrends«) schufen sich einige dieser Wissenschaftler Foren der theoretischen und politischen Selbstverständigung. Beide suchten nach »neuen Sichten«, »neuen Diskursnetzen« und »intellektuellen Freiräumen«, landeten aber zügig in einer Sackgasse: Unter westdeutscher und ausländischer Beteiligung machte man sich an die Wiederbelebung einer Totgeburt und prüfte »die Erklärungsmächtigkeit geopolitischen Denkens«. An den Zeitläuften wie ihrem früheren Dogmatismus und Determinismus irre geworden, griffen sie zum geopolitischen Dogmatismus, der gegenüber dem alten den Vorteil intellektuell noch anspruchsloserer Handhabbarkeit aufweist. Yves Lacoste und Étienne Sur dürfen sich und die französische »Géopolitique« in den »WeltTrends« gleich selbst loben, und der Doyen der deutschen »Geopolitik« – Hans-Adolf Jacobsen – bügelt deren Geschichte wieder einmal glatt. Andere Autoren möbeln das Vokabular zeitgeistig auf und empfehlen den »Geopolitikern«, sich »als Wissenschaftler zu profilieren.«

»Raum und Zeit« werden zu »an sich bedeutungslosen Termini« erklärt. Demnach könne man zwischen »Zeit- und Raumlogik« wählen wie zwischen Wein und Bier. Die Pointe dieser These: Der Marxismus-Leninismus war der »Zeitlogik« verfallen, also muss man fortan auf »Raumlogik« umschalten. Die Begründung liest sich rührend: »In einem dunklen Kerker oder in moderner Isolationshaft hat man alle Zeit der Welt, doch man kann daran nur irre werden. Und warum ziehen es begüterte Schichten stets vor, in großen Wohnungen ... zu wohnen, und warum haben auch Honecker & Co. sich eher selten mit einer sozialistischen Einraumwohnung als ihrem Domizil begnügt? Warum sind ... ganze Altbaustadtviertel in Westdeutschland von ehemaligen 68ern mit Beschlag belegt? (...) Doch wohl genau deshalb, weil alle diese Gruppen wissen und täglich spüren, dass man Platz und Raum braucht, um sich zu entwickeln oder um sich wohlzufühlen« (Berliner Debatte INITIAL 3/1995). »Geopolitische Raumlogik« beruht auf suggestiven Fragen mit Binsenwahrheiten als Lösungen – »man braucht Platz«. Geopolitisch nichts Neues – im Osten wie im Westen.

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