Читать книгу Coronavirus - Düstere Geschichten - Ruth Boose - Страница 5
Coronavirus
ОглавлениеIm Nachhinein war es offensichtlich gewesen, was uns verschwiegen worden war, aber hinterher ist man bekanntlich immer schlauer.
Schon zu Beginn des ersten Ausbruchs hatte es die obskursten Verschwörungstheorien bezüglich der Herkunft des Virus oder der wahren Gründe für die drastischen Eindämmungsmaßnahmen gegeben. Doch die Wahrheit war weitaus einfacher – und dramatischer.
Dass ganze Volkswirtschaften nicht aus Sorge um ein paar Alte und Kranke lahmgelegt worden waren, hätte man sich angesichts der ansonsten selten um das Wohl der ihren Entscheidungen anvertrauten Völker bedachten Herrscherkasten schon denken können. Schließlich sterben allein in Deutschland auch in normalen Zeiten knapp eine Million Menschen im Jahr. Und schließlich hatte es zuvor ständige Diskussionen angesichts Überalterung, Wohnungsnot und überlasteter Sozialversicherungen gegeben.
Der tatsächliche Grund der Regierungen für die fast schon surreale Furcht vor dem unbekannten Feind erwies sich als mehr als berechtigt: Niemand mochte sich festlegen, wann die Veränderungen stattgefunden hatten, ob sie stufenweise oder in einem einzigen Infizierten erfolgt waren. Ihre Auswirkungen wurden erst nach und nach bekannt und fanden trotz Vertuschungsversuchen rasch ihren Weg an die Öffentlichkeit.
Zuerst stiegen die Todesraten an, nur langsam, da sich herausstellte, dass die Inkubationszeit sich nahezu verdoppelte. Dann wies man eine längere Beständigkeit der Viruspartikel in der Luft und auf Oberflächen nach. Für diese Familie sind größere Mutationen eher untypisch, aber nach so vielen Patienten war es doch geschehen und hatte den Erreger viel gefährlicher gemacht, als es die schlimmsten Befürchtungen und Szenarien der Wissenschaftler für möglich gehalten hatten.
Seitdem sind mehrere Wochen vergangen. Ich ziehe mittlerweile allein durch die Straßen und gehe nur auf Umwegen in meine Wohnung zurück. Die Ausgangssperren können kaum noch flächendeckend kontrolliert werden, weil trotz intensiver Schutzmaßnahmen immer mehr Polizisten und Soldaten erkranken und sterben. Aber ich bin nicht nur zum Hamstern unterwegs, ich leiste meinen Beitrag wie eine stille Buße und Abbitte für meine Existenz, indem ich helfe, wenn es möglich ist und sich anbietet.
Heute entdecke ich eine alte Dame, die an ihrer Haustür steht und unschlüssig und verzweifelt überlegt, ob sie sich herauswagen soll.
Ich begrüße sie freundlich und erkundige mich, ob Sie meine Hilfe benötigt.
„Ich habe kein Geld und kein Essen im Haus“, erklärt sie ängstlich und abweisend. Ihr Misstrauen verstärkt meinen Wunsch, zu helfen, nur noch.
„Brauchen Sie denn nichts? Sie sahen aus, als wollten Sie etwas besorgen?“
Sie gibt ihren Widerstand auf, vermutlich ist ihr klar, dass sie kaum noch etwas zu verlieren hat.
„Ach, ich bin eigentlich in Quarantäne, und eine Nachbarin hat mir das Nötigste besorgt. Aber sie ist fort, es findet sich auch sonst niemand, der freiwillig für mich losgehen würde. Ich bin bisher daheim geblieben, aber wenn ich nichts unternehme, verhungere ich.“
Kurz entschlossen biete ich mich an: „Ich kann für Sie einkaufen gehen. Jetzt gleich.“
„Aber Sie kennen mich doch gar nicht. Und ich … ich habe kein Geld im Haus. Ich weiß nicht einmal, ob die Rentenversicherung noch zahlt. Viele Automaten in dieser Gegend sind zerstört oder ausgeraubt, wurde mir berichtet.“
„Hören Sie, machen Sie sich keine Gedanken darüber. Sagen Sie mir nur, woran es Ihnen am dringendsten mangelt, und ich will es besorgen.“
Zweifelnd, aber bereitwillig zählt sie mir ein paar Dinge des täglichen Bedarfs auf. Luxusgüter wie Klopapier zählen schon lange nicht mehr dazu, es fehlt am Grundlegendsten.
Als ich gehe, sieht sie mir traurig nach, sie rechnet nicht mit meiner Rückkehr. Es ist ein schönes Gefühl, ihr ehrlich erstauntes Gesicht zu sehen, als ich klopfe und sie mir öffnet und feststellen muss, dass ich wider Erwarten mit einem großen Einkaufswagen voller Lebensmittel zurückgekehrt bin. Vorsichtig packe ich die Waren aus und stelle sie in ihren Flureingang.
Zur Krönung lege ich ihr verschmitzt ein dunkles, in durchsichtige Folie verpacktes Fleischstück auf den Schuhschrank, das mindestens drei Kilo wiegt.
Sie schaut mich ungläubig an. „Wie sind Sie da rangekommen? Es gibt doch fast nur noch Konserven? Wilderei wird von der Bundeswehr strengstens geahndet.“
Ich lächele und übergehe ihren verwunderten Einwand. „Es ist noch sehr frisch, aber Sie sollten nicht zu lange mit der Zubereitung warten. Ich habe erst heute früh selbst davon probiert, es schmeckt wirklich köstlich.“
Da sieht sie mich mit so einem rührenden Blick an, dass ich beinahe anfangen muss zu weinen. Es fällt mir schwer, ihm standzuhalten, ohne mich wegzudrehen. Früher fand ich es sehr schwierig, Menschen zu erfreuen und selbst Anerkennung zu finden. Aber nun, da das Wesentliche zählt und gesellschaftliche Konventionen wie getrockneter Lack von den Menschen abgeblättert sind, ist es ein Kinderspiel.
„Warten Sie“, sagt sie mit brüchiger Stimme und humpelt in ihr Zimmerchen. Ich ahne schon, was sie vorhat.
Schließlich kehrt sie in den Flur zurück. Sie will mir etwas in ein Beutelchen stecken. Dabei ballt sie ihre Hand zu einer Faust, es scheint ihr recht unangenehm zu sein, dass ich versuche, einen Blick darauf zu erhaschen. Für einen Sekundenbruchteil sehe ich etwas aufblitzen und weiß Bescheid.
„Behalten Sie es“, sage ich. „Wer weiß, wann Sie das noch brauchen werden.“
Erst ist sie störrisch, wie es viele Leute mit dem Alter werden, doch dann gibt sie ihren Widerstand auf.
Ob Gold und Schmuck langfristig noch krisensichere Anlagen bleiben, wird davon abhängen, ob das Virus sich selbst eindämmt, bevor die Menschheit zurück ins Steinzeitalter versetzt wird.
Sie hustet. Mühsam stützt sie sich am Schuhschrank ab. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie vermutlich bereits selbst infiziert ist. Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt, weicht sie einen Schritt zurück. So will ich sie nicht zurücklassen. Ich trete auf sie zu und nehme sie in den Arm.
„Ist schon gut“, flüstere ich.
„N… nein … ich weiß nicht, ob …“
„Keine Sorge. Ich bin immun.“
Sie schiebt mich von sich weg. „Niemand ist immun. Bislang konnte weder Heilmittel noch Impfstoff gefunden werden. Diese Krankheit wütet schlimmer als die Pest.“
„Machen Sie sich keine Gedanken um mich und verlieren Sie nie die Hoffnung. Erst gestern habe ich im Radio gehört, dass Forscher bedeutende Fortschritte bei der Entwicklung einer Impfung gemacht haben.“
Ich weiß, wie lächerlich diese Behauptung angesichts der Mutationsrate und der Raumstruktur der weniger veränderlichen, doch schwer durch Antikörper erreichbaren Virusrezeptoren ist, aber das Mütterchen ist bestimmt keine Virologin.
Dankbar drückt sie meine Hand. „Sie sind ein Engel. Gott segne Sie.“
Bin ich ein Engel? Ich bezweifele das sehr stark.
„Nicht doch“, wehre ich peinlich berührt ab. „Jeder sollte versuchen zu helfen, wo er kann, und nicht nur an sich selbst denken. Die Menschheit hat sich nur so weit entwickelt, weil sie sozial war. Allein hätte niemand eine Chance, lange zu überleben.“
Wie heuchlerisch, denke ich mir. Aber was sollte ich der alten Dame denn anderes erzählen? Ich möchte, dass sie stirbt, ohne den Glauben an die Menschheit ganz zu verlieren. Oder den Glauben an ihren Gott, dessen Werk nun viele als Sintflut oder Vorzeichen der Apokalypse werten.
Heimliche Zusammenkünfte und Aktionen verschiedenster Religionsgemeinschaften tragen immer noch erheblich zur Verbreitung der Seuche bei. Was bedeuten auch schon ein paar qualvolle Wochen, wenn im Himmel 72 Jungfrauen oder Ähnliches auf einen warten? Und wer weiß, vielleicht ist so eine Irrationalität in diesen hoffnungslosen Zeiten sogar richtig.
Nachdem ich mich verabschiedet habe, trotte ich durch die vermüllten und verwüsteten Straßen. Nur noch selten kommen Fahrzeuge der Stadtreinigung vorbei. Die Ruhe, die über diesen Gebieten am Stadtrand liegt, trügt aber. In letzter Zeit haben Plünderungen und auch Vergewaltigungen stark zugenommen. Allein bin ich hier nicht mehr sicher, ich muss mir einen anderen Ort für meine Betätigungen suchen. Außerdem könnte ich mich überall nützlich machen, Hilfe wird nicht nur von den Alten in der Stadt gebraucht. Und ich habe auch schon eine tolle Idee …
Erschöpft kämpfe ich mich durch das Unterholz, denn Wege oder gar Straßen sollte ich meiden. Bei jedem verdächtigen Geräusch kauere ich mich angstvoll zusammen. Kriminelle und aggressive Menschen muss ich ebenso fürchten wie Kontrollen, vor allem die kreisenden Hubschrauber dürfen mich nicht entdecken und aufhalten, denn ich habe meine Papiere und Zeugnisse verloren und durchschreite gerade Sperrgebiet.
Doch gleich habe ich es geschafft, nur noch dieser eine Hügel, wenn ich mich recht entsinne. Und ja, richtig, ich habe mich nicht getäuscht! Jetzt endlich liegt es in einer riesigen Senke vor mir, groß, grau und in der idyllischen Natur genauso deplatziert wie die riesigen Einkaufszentren im Speckgürtel, nur dass die Kunden hierher nicht freiwillig kommen.
Ich spüre ein Gefühl in mir aufsteigen. Zuerst kann ich es nicht einordnen, doch es wird immer stärker. Unaufhaltsam breitet es sich in mir aus, überflutet jede Faser meines Körpers und erfüllt meinen Geist. Alle Zweifel, Ängste und Befürchtungen sind wie weggeblasen, die Anspannung wird einfach fortgespült.
Mein Blick schweift über das notdürftig eingerichtete Lazarett, dessen Gesamteindruck eher an ein Dritte-Welt-Land als an eines der ehemals modernsten und bestorganisierten Gesundheitssysteme der Welt erinnert.
Jetzt kann ich das Gefühl identifizieren. So irre es mir selbst erscheint, es ist … reine, pure … Freude.
Nun besteht kein Grund mehr zum Verstecken. Ich wende mich an den erstbesten Mann im Schutzanzug.
„Entschuldigen Sie bitte, wo finde ich einen Arzt?“
Erschöpft und etwas missbilligend wirkt er, sein Gesicht kann ich hinter der dicken Maske nicht so richtig erkennen. „Der ist beschäftigt. Welche Symptome haben Sie denn?“
„Aber nein, ich bin kein Patient. Ich möchte hier im Krankenhaus mitarbeiten.“
„Sie? Sie wissen schon, was das hier ist?“
Fast fühle ich mich ein wenig beleidigt. Ich werde wie ein unvorsichtiges Kind behandelt, das der ungehaltene Vater von einer Dummheit abhalten muss.
„Aber ja, ich möchte etwas zur Versorgung beitragen“, beginne ich von Neuem.
„Klingt zu schön, um wahr zu sein. Fast alle Medizinstudenten sind letzte Woche desertiert.“
Er benutzt den Begriff desertiert, nicht geflüchtet. Man merkt auch am sprachlichen Ausdruck, dass Bürgerkriegszustände herrschen. Dabei kann ich es den Studenten nicht verdenken. Panik ist nun mal stärker als Pflichtbewusstsein. Hätte meine eigene Familie mich nicht vor wenigen Wochen verstoßen, wäre ich jetzt ganz sicher irgendwo in der Welt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hier.
„Warten Sie, ich hole jemanden.“ Er verschwindet, offenbar überfordert damit, wie er weiter mit mir zu verfahren hat. Trotz der frischen Luft weht von den riesigen Plastikzelten eine merkwürdige Mischung aus Desinfektionsmitteln, Urin und Fäulnis zu mir herüber.
Nach kurzer Zeit erscheint ein älterer Mann, ich vermute, dass es sich um einen Arzt handelt.
„Guten Tag, mein Mitarbeiter sagte mir, Sie suchen Arbeit? Dies ist ein Corona-Krankenhaus, das wissen Sie? … Eigentlich hätten Sie gar nicht in den Sicherheitsbereich kommen dürfen, ohne kontrolliert zu werden“, fügt er etwas verwundert hinzu.
„Ich weiß. Ich bin nicht bloß des Geldes wegen gekommen, ich bin einfach hier, um zu helfen.“
Der Mann ist verblüfft und schaut mich mit einem durchdringenden Blick an. Er kann mich nicht einschätzen. Mein naives, offenherziges und gutmütiges Auftreten lässt mich schwach und unbedarft wirken.
„Hm. Woher kommen Sie?“
„Aus Glienicke.“
„Haben Sie keine Familie oder Freunde?“
„Nein, nicht mehr.“
„Tut mir leid.“ Er zwingt sich zu einem Gesichtsausdruck, der Mitgefühl ausdrücken soll, ist aber offensichtlich schon so abgestumpft, dass es ihm schwerfällt. Wenn man derart viel Elend gesehen hat, verwundert das nicht. Mir traut er diese emotionale Abgrenzung wohl nicht zu, denn er erkundigt sich, warum ich mich für geeignet halte.
„Wollen Sie ernsthaft ein Bewerbungsgespräch mit mir führen? Haben Sie zu viele Anwärter?“, gehe ich in die Offensive.
Er zuckt müde mit den Achseln. „Meinetwegen. Wir brauchen jede helfende Hand. Was ist denn Ihr beruflicher Hintergrund?“
„Ich habe schon mal als Laborant gearbeitet“, erkläre ich, „aber das ist bereits länger her. Mein medizinisches Wissen hält sich leider in Grenzen.“
Noch bevor er etwas erwidern kann, stürmt ein Mitarbeiter auf uns zu und berichtet atemlos: „Die letzte Lieferung ist heute Morgen immer noch nicht durchgekommen. Wir haben kaum noch Schutzanzüge.“
Verzweifelt schaut er abwechselnd mich und den Arzt an, so als könnte einer von uns diese herbeizaubern oder eine schlaue Antwort auf dieses Problem finden.
„Ist schon gut“, beruhige ich den Arzt. „Lassen Sie mich beim Untersuchen und Begraben der Toten helfen. Dazu brauche ich keine Schutzausrüstung. Ich habe keine Angst. Es ist doch bekannt, dass das Virus spätestens sechs Stunden nach Todeseintritt inaktiv wird.“
Ihm ist klar, dass das nur eine Propagandalüge zur Beruhigung der Bevölkerung ist. Denn auch diesbezüglich ist das Virus stabiler geworden, wenngleich es immer noch viel empfindlicher bleibt als Sporen bildende Bakterien. Was diesem Doktor jedoch nicht klar ist, das ist mein eigenes Wissen um diese Tatsache.
Und er nimmt meine Gefährdung in Kauf. Wie er selbst sagte, jede helfende Hand wird gebraucht, denn herumliegende Leichen oder unsauberes Arbeitsmaterial können schließlich auch viel Ungeziefer anlocken und zu weiteren Gesundheitsrisiken führen. Einen zusätzlichen Ausbruch von Ruhr oder Cholera kann in dieser kritischen Lage niemand gebrauchen. Ich sehe, wie es in seinem Gehirn arbeitet.
„Na schön. Auf Ihr Risiko. Ziehen Sie sich wenigstens Mundschutz und Handschuhe an, davon haben wir noch ein paar Vorräte.“
Er winkt einen Pfleger heran, der mich kurz im Krankenlager herumführt und mir erklärt, wo ich die wichtigsten Utensilien für meine Arbeit finde. Ich habe vor Aufregung große Mühe, mir diese vergleichsweise einfachen Belehrungen und Instruktionen zu merken. Nachfragen sollte ich mir sparen, das hält nur unnötig auf. Immerhin wird man mich nicht – wie früher – rauswerfen wollen, wenn ich etwas falsch verstehe, den richtigen Gegenstand oder Ort nicht gleich finde oder meine Arbeit nicht so erledige, wie es eigentlich gedacht war. Diese Tätigkeit könnte aber auch jeder Laie ausführen, es braucht dazu kein besonderes medizinisches oder pflegerisches Wissen. Meine Aufgaben bestehen darin, Sterbende und Tote zwischen den Stationen des Gebäudes, den Feldlazaretten und den Begräbnisanlagen hin und her zu schieben.
Und wenn gerade niemand abzuholen ist, helfe ich bei der notdürftigen Versorgung der Patienten aus, bringe medizinische Produkte oder Lebensmittel von A nach B oder putze und desinfiziere einfach nur, so gut es geht. Natürlich kann man auch hierbei als Laie viel falsch machen, doch alle sind froh über meine Hilfsbereitschaft. In den ersten Tagen habe ich zwar die Erschöpfung und das raue Klima zu spüren bekommen, aber man erwartet keinen Small Talk von mir. Wenn ich Pause habe, ziehe ich mich zurück, und das Personal meidet mich ebenfalls.
Ganz im Gegensatz zu den Kranken! Sie lechzen geradezu nach Aufmerksamkeit. Für ein paar Brocken eines noch so belanglosen Gespräches sind sie unendlich dankbar. Da die Helfer überfordert und teils genervt oder furchtsam sind, können sie sich neben der medizinischen Versorgung nicht auch noch um die menschliche kümmern.
Also gehe ich abends, wenn es dämmert, freiwillig durch die langen Reihen der Krankenbetten und bringe den Menschen ein wenig positive Stimmung mit. Meine gute Laune sorgt für Ablenkung, für Minuten der Normalität, in denen sie ihr schweres Schicksal vergessen können. Ich bemühe mich um Freundlichkeit, ich möchte ein bisschen Licht in diese ewige Finsternis tragen.
Der junge Mann lächelt mir schwach zu. Ich lächele sanft zurück. Er wird bald sterben, das fühle ich. Vielleicht werde ich ihn schon morgen auf meinem Rollwagen abholen müssen. Seit seiner rapiden Veränderung rafft das Virus gesunde Menschen in der vollen Blüte ihres Lebens ebenso dahin wie die Greise und Geschwächten. Da ist sie, die ersehnte Gleichstellung aller Menschen, um die so lange gerungen wurde. Der Gedanke mag sarkastisch sein, aber für mich hat er etwas Tröstliches angesichts sonstiger Ungerechtigkeiten und allen Leides. Selbst die Reichsten und Mächtigsten werden nicht verschont, es trifft sie ebenso wie den Hartz-IV-Empfänger, auf den sie vor ein paar Monaten noch geringschätzig herabgeblickt haben.
„Haben Sie nicht Feierabend für heute? Ich sehe Sie schon den ganzen Tag wie ein fleißiges Bienchen herumsausen“, erkundigt er sich.
„Ich mache das gern, und die Krankheit macht auch keinen Feierabend“, gebe ich zurück.
„Wie Sie angesichts dieser schrecklichen Zustände so viel Zuversicht und Fröhlichkeit ausstrahlen können, ist ein kleines Wunder. Sie sind ein Segen für die Patienten. Ohne Sie würde es mir bestimmt schon viel schlechter gehen. Sie sind eine ganz besondere Frau.“
Ja, das befürchte ich auch, aber diese Vermutung spreche ich lieber nicht laut aus. Ich betrachte die teils eingetrockneten, teils frischen Spuren von Blut, Speichel und Schweiß auf dem blütenweißen Laken. Die Muster sehen immer wieder anders aus, und ich ertappe mich dabei, wie ich mit den Augen den komplizierten Linienverläufen folge, als müsste ich das Bild vor mir abzeichnen. Oft graben sich unwichtige, kleine Details stärker in die Erinnerung als große Ereignisse. Die Namen meines Chefs und meiner Kollegen merke ich mir nach sieben Tagen Arbeit immer noch nicht, aber diese eindrucksvollen Muster werde ich nie mehr vergessen.
Der Mann wird von einem Hustenfall geschüttelt, doch ich weiche nicht zurück. Ganz genau verfolge ich den Überlebenskampf seines Körpers. Er wird ihn verlieren, bestimmt noch in dieser Nacht, jetzt bin ich mir ganz sicher.
„Möchten Sie noch etwas Wasser? Viel zu trinken ist wichtig bei hohem Fieber.“
Ich reiche ihm meine eigene Flasche.
„Sie werden sich infizieren“, flüstert er entsetzt.
„Nein“, gebe ich ebenso leise zurück. „Ich bin immun.“
„Sie wollen mich auf den Arm ne…nehmen.“ Sein Versuch, sich aufzurichten, scheitert und er sinkt zurück in die Kissen.
„Sehen Sie, ich trage keine Handschuhe“, erkläre ich triumphierend und nehme mir den Mundschutz vom Gesicht. Dann streichele ich über sein fettig gewordenes Haar und die eingefallene, blasse Haut. Der schlanke Mann gafft mich verständnislos an, als wäre ich ein Gespenst. „Es wird alles gut. Ich werde bei Ihnen sein.“
Jetzt glaubt er zu verstehen.
„Sie wollen mich nur trösten. Sie sind so ein lieber Mensch.“
„Ja, ich will sie trösten.“ Das ist nicht gelogen. Aber warum ich so lieb zu ihm bin, erkläre ich nicht.
Im Morgengrauen, nachdem ich nur wenige Stunden geschlafen habe, werde ich schon wieder geweckt. Und trotzdem springe ich voller Tatendrang und wohlgelaunt von meinem Lager auf.
„Ah, was für ein herrliches Wetter!“, schwärme ich den Kollegen und Patienten vor. „Womit soll ich anfangen?“
Ich hatte recht mit meiner Vorhersage. Der hübsche, schlanke, zum Sterben viel zu junge Mann hat tatsächlich den Kampf gegen das Virus verloren. Wenigstens ist er glücklicher verstorben, weil ich bei ihm war, rede ich mir ein. Außer ihm muss ich noch viele weitere Tote abholen. Der Muskelkater von der ungewohnt harten Arbeit ist immer noch da, vor allem in meinen Armen und Schultern.
Später muss ich bei der Sektion der wissenschaftlich interessanten Fälle assistieren, doch es gelingt mir, allen ein freundliches und aufmunterndes Lächeln zu schenken. Ich beklage mich auch nicht wie andere über die Arbeitsbelastung, sondern hole freiwillig rasch alles, was gerade benötigt wird. Beim späteren Reinigen und beim Ein- und Ausräumen des Autoklavs summe ich leise vor mich hin. Wie erfreulich, dass ich endlich als nützlich empfunden werde.
Es wäre aber auch zu schön, um wahr zu sein, wenn nicht doch noch etwas dazwischengekommen wäre! Ich habe leichtfertig einem weiteren Patienten von meiner Immunität berichtet. Und dann hat dieser Mann aufgrund meiner Zuwendung doch tatsächlich die Willenskraft aufgebracht, die Nacht zu überleben, nur um dem Personal von meiner erstaunlichen Offenbarung berichten zu können. Diese altruistische Hoffnung auf ein Heilmittel, das für ihn sowieso zu spät käme, ließ ihn bis 9:17 Uhr durchhalten. Erst danach habe ich ihn zur provisorischen Leichenhalle gebracht und von dort aus dann wieder andere zum bereits vom Bagger ausgehobenen Massengrab.
Der Leiter dieses Krankenhauses höchstpersönlich spricht mich an und bittet mich mitzukommen. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Wust von Akten, auch die Schränke um ihn herum sind vollgestopft. Unter seinen Augen liegen tiefe dunkle Ringe, doch ich erkenne auch so etwas wie ein hoffnungsvolles Leuchten.
„Ist es wahr, was Sie dem Patienten erzählt haben? Sind Sie wirklich immun? Sie wissen, was das bedeuten könnte?“
Ich zögere. Das erste Mal muss ich jetzt verhindern, Zuversicht zu verbreiten.
„Hm. Nein. Es tut mir leid. Der Mann hat mich im Fieberwahn vielleicht missverstanden oder sich etwas erträumt. Sie wissen ja, dass das bei den Patienten häufiger vorkommt, wenn es dem Ende entgegengeht.“
„Er ist aber nicht der Erste, der das behauptet.“
Erschrocken zucke ich zusammen. „Wie meinen Sie das?“
Bedächtig, aber sehr aufmerksam beobachtet er mich, während er weiterspricht. „Zuerst habe ich es auch für Unsinn gehalten, Fieberträume, wie Sie sagen. Aber mehrere Krankenpfleger haben unabhängig voneinander berichtet, dass Sie spätabends in den Stationen herumschleichen und den Patienten nahekommen.“
„Niemand hat Zeit, sich etwas mit ihnen zu unterhalten. Ich wollte doch nur, dass sie nicht voller Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit aus dieser Welt scheiden. Es tut mir leid, dass … dass das jetzt herausgekommen ist.“
„Die Mitarbeiter und Patienten haben mir auch berichtet, dass Sie, seit Sie hier sind, keinerlei Furcht vor Ansteckung zeigen. Stimmt es, dass Sie nachts sogar ohne Mundschutz und Handschuhe an die Krankenbetten treten?“
Mir tritt der kalte Schweiß auf die Stirn. Was soll ich jetzt entgegnen? Es ist zwecklos zu leugnen, der Arzt würde mich nicht damit konfrontieren, wenn er nicht bereits Beweise oder zumindest unwiderlegbare Aussagen gegen mich in der Hand hätte. Also bleibt nur die Flucht nach vorn.
„Also gut“, gebe ich widerstrebend zu. „Es ist wahr. Ich bin immun. Ich weiß es schon seit Längerem, seit meine Familie … seit sie das Virus … Sie wissen schon.“
Der Arzt reißt die Augen auf. Ich bemerke, dass nicht nur seine Hoffnung, sondern auch sein wissenschaftlicher Ehrgeiz geweckt ist.
„Aber warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Ahnen Sie überhaupt, welche Möglichkeiten sich damit eröffnen könnten? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung davon, wie lange sich die besten Wissenschaftler in aller Welt schon die Köpfe zerbrechen und nach einem Heilmittel oder Impfstoff forschen, bislang völlig vergeblich?“
Beschämt senke ich den Blick, das schlechte Gewissen ist nicht vorgespielt. „Ich hatte Angst, dass man mich als Versuchskaninchen ewig lange einsperren und allerlei unmenschlichen, schmerzhaften Experimenten unterziehen würde. Es ist nicht so, dass ich nicht helfen wollte! Sie sehen doch, ich bin hier, und ich tue für die Lebenden, was ich kann.“
„Aber Ihre Sorge ist unbegründet. Im Gegenteil, man wird Sie behandeln wie ein rohes Ei. Natürlich muss man Sie an einen sicheren Ort bringen, aber es würde nicht an Annehmlichkeiten fehlen; und das Schmerzhafteste, das Sie fürchten müssen, ist die Entnahme von Blut und anderen Proben.“
„Können Sie mir das versprechen? Dass man mich nicht auseinanderschneidet oder quält, meine ich?“
„Aber natürlich.“
„Gut. Dann stelle ich mich zur Verfügung.“
Er atmet auf. „Sie werden vielleicht die größte Heldin der Menschheitsgeschichte! Ich rufe rasch meinen Vorgesetzten an, diese Sache hat allerhöchste Dringlichkeit und Priorität. Bitte warten Sie vor dem Sprechzimmer am Ende des Ganges auf mich.“
„Natürlich. Danke, dass Sie so verständnisvoll sind.“
Vor lauter Aufregung vergisst der Arzt, darauf überhaupt zu antworten, und stürmt aus seinem Büro. Verwundert sieht ihm ein Kollege nach.
Jetzt senkt sich langsam die Abendsonne über den Horizont. Das riesige Krankenhaus und die es umgebenden provisorischen Lazarette liegen mindestens fünfzehn Kilometer hinter mir. Noch weiter konnte ich mich beim besten Willen nicht mehr fortschleppen.
Der umgestürzte, bemooste Baumstamm, auf dem ich mich erschöpft ausruhe, ist nasskalt und wird immer ungemütlicher. Ich zittere, friere von innen heraus. Beruhigend rauscht der Wind durch die Baumwipfel und kühlt meine glühenden Schläfen. Ja, hier möchte ich bleiben, in der Natur, im Wald, den ich schon immer geliebt habe. Ich ertrage es nicht länger, bei den Menschen sein.
Ich weiß nicht, wie lange ich es noch vermag, deshalb beeile ich mich so damit, meine Geschichte aufzuschreiben. Vielleicht wird doch noch ein Gegenmittel gefunden, und dann werden die Kinder meiner Kinder eines Tages diese Zeilen lesen und verstehen, weshalb ich fliehen und die Menschheit im Stich lassen musste. Weshalb ein bisher immer so hilfsbereiter Mensch und die derzeit einzige Hoffnung für alle sich so klammheimlich aus dem Staub gemacht hat.
Ich grinse unwillkürlich. Die alte Dame aus der Vorstadt ist vielleicht schon kurz nach meiner Abreise verstorben. Vielleicht hat sich jemand die Mühe gemacht, den Inhalt ihres Magen-Darm-Traktes zu analysieren? Vor meinem inneren Auge lasse ich die Ereignisse der letzten zwei Wochen noch einmal Revue passieren. Ja, es war ein Alptraum. Furchtbar, schrecklich. Und doch habe ich niemals zuvor so intensiv gelebt.
Wenn ich den Mut dazu finde, werde ich mich erhängen, doch mein Überlebenstrieb ist merkwürdigerweise extrem stark. Vermutlich werde ich zu feige sein und dann qualvoll ersticken.
Vielleicht habe ich noch ein paar Tage, mit etwas Glück eine Woche.
Nur finden darf mich niemand, denn was man mit mir anstellen würde, wenn die wahren Motive für meine Selbstlosigkeit in dieser dunklen Zeit herauskämen, das möchte ich mir nicht ausmalen.
Versonnen streichele ich über das in der Dunkelheit nicht erkennbare Ding in meinem Rucksack, ein letztes Souvenir von meiner Arbeitsstelle. Seinem Besitzer wird es sicher nicht fehlen.
Nein, ich will ehrlich gesagt auch niemandem in sein fassungsloses Gesicht voll von Vorwurf und Abscheu blicken müssen, wenn er mich testen könnte:
Denn natürlich bin auch ich – nicht immun!