Читать книгу Coronavirus - Düstere Geschichten - Ruth Boose - Страница 7

Spender

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Iduna hatte schon viele Fehlentscheidungen in ihrem Leben getroffen und bestimmt die Hälfte davon nicht einmal als Ursache für ihre vielfältigen Sorgen ausfindig gemacht. Doch dieses Mal war sie sich sicher, endlich eine wichtige Entscheidung richtig zu treffen – die entscheidende Entscheidung, die alles aufwiegen würde, was sie zuvor falsch gemacht haben mochte.

Trotz ihrer Kontroversität hatten die Körperwelten-Ausstellungen sie zwar begeistert, aber nie zum Nachdenken über ihren eigenen Körper, ihren eigenen Tod gebracht. Auch ihre ethischen Überzeugungen hatte sie seit ihrer Jugendzeit niemals ernsthaft hinterfragt, sondern lediglich im Hintergrund als prüfende Instanz bewahrt.

Diese gedankliche Passivität änderte sich durch zwei aufeinandertreffende Umstände, deren Gleichzeitigkeit eher zufällig, für sie jedoch fast schon wie eine Fügung des Schicksals war. Zum einen kam zu ihren ständigen finanziellen und beruflichen Sorgen der viel zu frühe und zunehmende Verfall verschiedener Körperfunktionen, der teils durch ungünstige Anlagen und teils durch noch ungünstigere Lebensführung bedingt wurde. Nun hätte sie nicht einmal mehr arbeiten können, wenn sie wieder eine Anstellung gefunden hätte. Doch welcher Personalchef hatte in harten Krisenzeiten schon Almosen zu verteilen und wollte ein vorzeitig gealtertes, schlecht ausgebildetes, unflexibles und nicht belastbares Wrack einstellen, dessen einzig vorzeigbare Leistung in der mehr schlecht als recht geleisteten Erziehungsarbeit dreier verhaltensauffälliger Kinder bestand, von denen eines die Steuerzahler jetzt schon so viel gekostet hatte wie ein Dutzend gesunde? Iduna konnte mittlerweile weder hart oder gar regelmäßig arbeiten noch sich um den Haushalt und die Erziehung ihrer Kinder kümmern, was angesichts deren fortgeschrittenen Alters auch nicht mehr notwendig war. Selbst die beste Erziehung hätte jetzt ohnehin nicht mehr richten können, was in sechzehn bis einundzwanzig Jahren verhunzt worden war. Vielleicht war auch das eine ihrer unzähligen Fehlentscheidungen gewesen, angesichts ihrer schlechten Erbanlagen und ihres mangelnden Erziehungstalents gleich drei eigene Kinder in eine Welt zu setzen, die keine Rücksicht auf Schwäche nahm.

Zum anderen änderten einige Gerichtserfolge in höchster Instanz das Konzept der Körperwelten-Ausstellungen grundlegend, und dieser Wandel war immer noch in vollem Gange und lange nicht abgeschlossen.

Es war nach einer Grundsatzentscheidung mittlerweile rechtlich erlaubt, durch Plastination oder andere Präparationsmethoden hergestellte Dauerpräparate aller Art und Größe auch an Privatpersonen zu verkaufen, was die Präparationszahlen und damit den Bedarf an Spendern sprunghaft in die Höhe steigen ließ. Die andere rechtliche Neuerung bestand darin, dass Körperspender nun bereits zu Lebzeiten plastiniert werden konnten und nicht erst Jahre bis Jahrzehnte auf ihr natürliches Ableben gewartet werden musste. Das bedeutete, dass jedermann nach Erfüllung der rechtlichen und medizinischen Standards seinen Körper wissenschaftlichen und weniger wissenschaftlichen Zwecken übergeben durfte.

Verschwörungstheoretiker munkelten, dass dieses Umschwenken der rascheren Verminderung des deutschen Volkes und der Zerstörung familiärer Bande dienen sollte, doch der wahre Grund lag ganz profan in wirtschaftlichen Zwängen. Hoffnungslos überschuldete Renten-, Pflege- und Krankenversicherungen hatten enormen Druck auf die Politik ausgeübt, und die offensichtlichen Missstände und Ungerechtigkeiten hatten ein Umdenken in der Bevölkerung bewirkt. Es war nur noch erstaunlich wenig Medienarbeit erforderlich gewesen, um die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz für das neue Spendermodell herzustellen.

Iduna war nun also relativ zeitgleich mit diesen rechtlichen Veränderungen und ihrem körperlichen Verfall konfrontiert. Und so geschah es, dass sie tatsächlich über ihre eigene Einstellung zu Tod, Ethik und zum Leben an sich grübelte. Allerdings tat sie dies nicht sehr gründlich, denn bereits nach wenigen Monaten hatte sie sämtliche formalen Prozesse durchlaufen, die für ihre Registrierung als Körperspender zu Lebzeiten notwendig waren, und dies waren im bürokratischsten Staat der Welt nicht gerade wenige.

Das Konzept hatte sie in jeglicher Hinsicht begeistert, doch den geistigen Anstoß hatte eigentlich ihr Jüngster gegeben. Beim Abendessen hatte ihr Mann Rig beiläufig erwähnt, wie hoch die Prämie für jüngere Körperspender sei.

„Das ist doch unglaublich, dass die Körperspenderzuwendungen für Angehörige schon wieder rückwirkend zum ersten März erhöht werden. Ich maloche ein Jahr für diese Summe, die denen auf einen Schlag ausgezahlt wird. Und das auch noch völlig steuerfrei, da es sich um eine Entlastung der öffentlichen Kassen handelt. Ich wette, dass Körperwelten nicht einen müden Teuro zuschießen muss, sondern alle Aufwendungen aus Versicherungsgeldern erstattet bekommt.“

„Vielleicht führt es ja dazu, dass die Beiträge sinken werden und mehr Nettogehalt übrig bleibt?“, hatte Iduna ihren Mann zu beruhigen versucht.

„Ach, das glaubst du doch selbst nicht! Und selbst wenn, das bisschen macht den Kohl auch nicht fett! Wenn Wolfram in diesem Jahr auch keine bezahlte Lehrstelle findet, wird es zu knapp mit der Aufstockung, dann müssen wir das Jugendamt irgendwie davon überzeugen, dass es unzumutbar ist, wenn er noch länger bei uns wohnt.“

„Wie hoch ist denn diese Prämie?“, hatte sich ihr sechzehnjähriger Sohn Wolfram erkundigt.

„30.000 Euro sind die Untergrenze. Mindestens 40.000 Euro, wenn der Körper vollständig verwertbar ist. Bis zu 100.000 unter besonderen Umständen. Beispielsweise bei jungen Schwerbehinderten.“

„Boah. Damit könnte ich jede Ausbildung machen.“ Der staunende Gesichtsausdruck des Jungen erinnerte Iduna an eine Szene anlässlich seines zehnten Geburtstages, des ersten und einzigen runden Geburtstages in der Kindheit, den sie gebührend hatten feiern wollen. Er hatte ein Fahrrad gesehen, der Verkäufer hatte den Preis genannt, und dann hatte er diesen Gesichtsausdruck auf seinem Gesicht gehabt. Eine Mischung aus Staunen, Ehrfurcht, Sehnsucht und Ungläubigkeit. Iduna hatte ihm das Fahrrad damals nicht kaufen können. Stattdessen hatte er ein gebrauchtes Rad bekommen und war trotzdem zufrieden gewesen.

Und jetzt war dieses sehnsuchtsvolle Staunen nach langer Zeit wieder auf sein Gesicht gezaubert worden, nach sechs Schülerjahren, angefüllt mit Enttäuschungen, schlechten Nachrichten und unliebsamen Überraschungen. Sollte sich die Geschichte wiederholen, sollte Iduna ein weiteres Mal versagen?

Und in diesem Augenblick war ihr der Gedanke das erste Mal gekommen.

Iduna fand, dass das Konzept stimmig war. Die Körperwelten-Ausstellungen waren interessant und sinnvoll, auch wenn sie sie nur einmal ihrer neugierigen Familie zuliebe besichtigt hatte. Häufigere Besuche wären zu kostspielig gewesen, doch schon bald würden ihre Kinder die Ausstellungen so oft sehen dürfen, wie sie wollten – Angehörige ersten Grades von Körperspendern bekamen kostenfreien Eintritt auf Lebenszeit.

Ein weniger familiäres Motiv gab ihr ein gutes Gefühl:

Ihr Tod diente dem Leben.

Anhand ihrer Lunge würden Tausende, wenn nicht Millionen Menschen anschaulich erfahren, dass Rauchen schädlich war. Auch ihr Herz, ihre Leber und ihre Blutgefäße gaben Auskunft über ihren ungesunden Lebensstil – zu viel Alkohol, zu viele Zigaretten, zu viel Stress, zu wenig Bewegung.

Aufklärungstexte waren geduldig und abstrakt. Aber das einprägsame Bild einer von schwarzen Pünktchen und Flecken durchzogenen menschlichen Lunge ließ sich nicht so einfach verleugnen und aus dem Bewusstsein wegschieben wie ein Artikel.

Wenn sie schon nicht für sich selbst rechtzeitig die Erkenntnis gewonnen hatte, dass man mit seinem Körper achtsam und pfleglich umgehen sollte, um ihn lange funktionstüchtig zu erhalten, dann könnte sie als abschreckendes Beispiel wenigstens anderen die Augen öffnen.

Iduna hatte genug Menschenkenntnis, um sich nicht vorzumachen, dass die Grundmotivation der meisten Besucher aus einem wissenschaftlichen Interesse daran bestünde, wie der menschliche Körper funktioniert und welche Auswirkungen die verschiedensten Krankheiten auf morphologischer Ebene hatten. Die Vorstellung lüsterner Gaffer, die sich um ihr Präparat scharen würden, störte sie jedoch keineswegs. Sie empfand sie im Gegenteil als Kompliment, als echte Aufmerksamkeit, hatte sie doch jetzt zu Lebzeiten nur noch sehr selten begehrliche Blicke oder anzügliche Bemerkungen von Männern zu befürchten oder, zutreffender umschrieben, zu erhoffen.

Tausende, wenn nicht gar Hunderttausende, würden bezahlen, nur um sie sehen zu dürfen, mehr als nur nackt, völlig eröffnet, selbst ihrer Haut und ihres lästigen Unterhautfettgewebes entkleidet. Und mancher Besucher, so stellte sie sich vor, würde es in einem unbeobachteten Moment nicht dabei belassen. Dagegen waren es lächerlich wenige gewesen, die sie bisher nackt gesehen oder sogar berührt hatten. Und dieser Personenkreis bestand zu einem Gutteil aus Ärzten und Krankenschwestern, die dafür bezahlt worden waren, ihren langsam dahinsiechenden Körper zu untersuchen oder hoffnungslose Therapieversuche daran zu unternehmen. Vielleicht hätte sie in ihrer Jugend häufiger Sex haben sollen, dachte sie, überhaupt häufiger an ihre Bedürfnisse denken sollen, anstatt ihre Zeit und Kraft mit sinnlosen Versuchen zu vergeuden, an sie gestellten Erwartungen und Ansprüchen gerecht zu werden. Doch da niemand achtsam ihren Bedürfnissen gegenüber gewesen war, hatte sie nicht gelernt, wie man diese erkennt und erfüllt.

Es war erstaunlich leicht gewesen, ihre Familie zu überzeugen. Iduna hatte mit langen Diskussionen und hartem, zähem Widerstand gerechnet. Zu Beginn waren ihre Kinder ein wenig traurig gewesen, doch sie hatten sich rasch einsichtig gezeigt. Ihr Mann hatte etwas halbherzig gesagt, dass das doch nicht nötig wäre, dass sie gar keine Belastung sei und sie auch so über die Runden kämen. Schließlich hatten sie es immer irgendwie geschafft. Doch schließlich hatte sie bis vor einem Jahr wenigstens daheim noch ein wenig nützlich sein können. Ihre verringerte Mobilität hatte leider nicht zu weniger, sondern zu noch mehr Frustfressen geführt, was nicht nur ihre Krankheit rascher fortschreiten und Iduna noch unnützer und unattraktiver werden ließ, sondern sich auch negativ auf ihre Finanzen auswirkte. Rechnete man zur Prämie noch die monatlichen Einsparungen hinzu, kämen im Jahr geschätzte weitere 10.000 Euro zusammen. Auch ihren kleinen Minijob hatte sie vor eineinhalb Jahren aufgeben müssen, sodass ihr Ältester mittlerweile weniger kostete und mehr Geld heimbrachte als sie.

Iduna betrachtete ihren aufgeschwemmten Körper unter dem kurzen Krankenhauskittel, der auf dem Rücken zusammengebunden war. Schlaff hing ihre Haut zu beiden Seiten des Ellenbogens herunter, als sie ihre rechte Hand zum Gesicht hob, um sich am Nasenflügel zu kratzen. Wie rasch diese Haut in so wenigen Jahren an Elastizität verloren hatte. Wie rasch sich Muskel- zu Fettgewebe umgewandelt hatte. Kein Wunder, dass ihr Mann sie kaum noch von sich aus berührte und ihre Kinder sie nicht mehr umarmten, dachte sie angeekelt. Aber bald, so tröstete sie sich, würde ihre Familie stolz auf sie sein. „Vielleicht wird Rig sogar ein kleines bisschen eifersüchtig werden, wenn er sieht, wie mich die Gäste angaffen“, dachte sie.

Am Donnerstag war sie stationär aufgenommen worden, allerdings würde die Prämie an ihre Familie erst nach Todeseintritt ausgezahlt werden. Immerhin hatten sie 60.000 Euro für sie herausschlagen können, mehr als erwartet. Damit war die Ausbildung ihrer Kinder gesichert, und was danach kam, lag nicht mehr in ihrer Verantwortung als Mutter.

Bald hätte sie es hinter sich. Nur noch wenige Tage, dann wäre sie an der Reihe. Wie durch einen Nebel waren die Erläuterungen zu ihr durchgedrungen und doch unwirklich geblieben. Aber sie hatte immerhin mitbekommen, dass es rasch gehen und sie dank eines starken Schmerzmittels nichts spüren würde.

Säuberlich aufgestapelt lagen bebilderte Broschüren mit Informationen über das neue Spenderprogramm auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe. Darin hieß es beispielsweise:

„Um Fäulnisvorgänge völlig auszuschließen und die Konservierung des Gewebes so lebensnah wie möglich vorzunehmen, wird das Blut nicht erst nach dem Tod, sondern gleich im lebenden Organismus direkt durch Formalinlösung ersetzt. Der Mensch stirbt also erst, während bereits ein Teil der Fixierung stattfindet. Das Immunsystem wird in seiner Rolle der Keimabwehr übergangslos abgelöst. Da die Muskeln und Gefäße weich und elastisch sind (keine Totenstarre), dringt die Fixierungsflüssigkeit ungehindert in die kleinsten Kapillaren ein.“

Ihr würden die neuesten und teuersten technischen Errungenschaften zugutekommen, anders als daheim, wo sie mit vorsintflutlicher Technik hatte auskommen müssen.

Iduna saß auf dem Untersuchungsstuhl. In der entblößten Innenseite ihres linken Unterarmes steckten rund ein Dutzend Kanülen, die an schmale Schläuche angeschlossen waren. Bislang waren diese Schläuche leer, verschlossen, abgetrennt von ihrem Blutkreislauf, doch das würde sich bald ändern. Einige der schmalen Schläuche überkreuzten einander oder verzweigten sich über T-Stücke noch weiter, sodass ein Wirrwarr entstand, das den Eindruck von aus ihrem Arm wachsenden Tentakeln erweckte.

Vor und hinter ihr standen mehrere Geräte und auf der rechten Seite befand sich eine lange Arbeitsplatte, auf der Laborutensilien standen. Eine große Scheibe aus bruchsicherem Plexiglas trennte sie linker Hand von den zahlenden Gästen. So wie die Präparation und andere Arbeitsschritte direkt „live“ mitverfolgt werden konnten, bestand seit einiger Zeit die Möglichkeit, Vorbereitungen an den lebenden Spendern beizuwohnen.

Vor dem Landgericht Dresden lief seit einigen Wochen ein Prozess, in dem darüber zu entscheiden war, ob die Zurschaustellung der In-vivo-Einbalsamierung der Öffentlichkeit zuzumuten oder ethisch nicht vertretbar wäre. Dabei war es nur konsequent, ALLE Schritte ausnahmslos zu dokumentieren und dem geneigten Publikum zu präsentieren, das schließlich freiwillig kam.

Ein interessierter Ausstellungsbesucher näherte sich.

Iduna störte sich nicht am Voyeurismus und der Sensationslust, die nicht ihr als Person, sondern lediglich ihrem Körper galten. Endlich war sie einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, endlich wurde sie wahrgenommen und wichtiggenommen. Sie genoss den gespannten, auf ihren Unterarm gehefteten Blick des ansehnlichen jungen Mannes.

Zum Besucher gewandt erklärte die MTA:

„Wie Sie sehen, sind hier an verschiedenen Stellen Kanülen angebracht. An dieser hier können wir beispielsweise Blut zur sofortigen Bestimmung unterschiedlicher Metallkonzentrationen abnehmen.“

„Könnten Sie mal die Urankonzentration bei der Spenderin bestimmen? Ich würde gern wissen, ob sich Uran aus dem Trinkwasser auch im Blut nachweisen lässt.“

„Gern, das dauert nur eine Minute.“

Vielleicht, so dachte Iduna, ging es diesem Besucher gar nicht um die Urankonzentration. Womöglich genoss er das Gefühl von Macht, allein durch seine Aufforderung einen Menschen zum Versuchsobjekt zu degradieren oder leiden und bluten zu lassen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.

Wäre Blut nicht auch in diesen modernen Zeiten noch mit allerlei abergläubischen Assoziationen belegt, dann hätte sich seit Einführung der In-vivo-Einbalsamierung schließlich nicht der schwunghafte, wenn auch eher inoffizielle Handel mit dem *Original*-Blut der Körperspender entfaltet. Einfach nur menschliches Blut zu erwerben war eine Sache, doch einen Anteil des ursprünglichen Lebenssaftes eines Menschen zu besitzen, der nun Verkaufsobjekt oder Ausstellungsstück in der bekanntesten Anatomieschau aller Zeiten war, bedeutete noch mehr. Es strahlte eine Authentizität aus, als wäre damit ein Teil seiner Lebenskraft während des Sterbens eingefangen und ebenfalls konserviert worden. Am beliebtesten, aber auch am teuersten waren die abgefüllten größeren Proben:

Das Blut wurde in herzförmigen Fläschchen mit Schraubverschluss, die wie Parfumflakons aussahen, oder in Miniatur-Blutspendebeuteln mit aufgedruckter Blutgruppenzugehörigkeit angeboten.

Iduna sah, wie dunkelrotes Venenblut durch die äußerste Kanüle in eine Spritze gezogen wurde. Sie füllte sich und Iduna rechnete hoch, wie entkräftet sie wäre, wenn nun durch alle Kanülen in ihrem linken Arm die gleiche Menge Blut für andere Besucher entnommen werden würde, die sich ebenfalls für eine Demonstration interessierten. Obwohl die Menge nicht einmal annähernd ausreichte, um sie körperlich zu schwächen oder ihre Leber zur Produktion neuer Blutkörperchen anzuregen, kam sich Iduna ermattet und ausgesaugt vor.

Sie versuchte angestrengt, zur Minizentrifuge und dem Pipettenhalter auf der Arbeitsplatte herüberzusehen, aber ihr Blick wurde rasch wieder auf ihren Aderlass genötigt. Warum? Iduna war in ihrem krankheitsreichen Leben schon oft Blut abgenommen worden, und sie hatte damit bislang keinerlei Probleme gehabt. Ihr war nie schwindelig geworden, ihr war nie übel geworden, sie hatte nie Angst gehabt, und sie hatte sich danach auch nie wackelig oder schwach gefühlt.

Je länger sie ihr eigenes Blut in der Spritze betrachtete, das ihrem Körper entzogen worden war, umso größer wurde ihre Furcht. Entsetzen stieg in ihr auf. Genau so wird dein Leben aus dir rinnen, wenn du betäubt worden bist!

Der junge Mann erkundigte sich nun, weshalb die Spender bereits vor Beginn der Prozedur an die große Einbalsamierungsmaschine angeschlossen werden mussten. „Könnte man nicht zunächst den Blutdruck nutzen, indem man lediglich einen Zuflussschlauch für die Fixierungslösung und einen Abflussschlauch für das Blut in ausreichend große Gefäße steckt und wartet, bis der Spender verstorben ist?“

„Nein, dafür ist der Blutdruck nicht konstant genug. Vergessen Sie nicht, Formalin ist giftig und ätzend. Noch bevor eine lebensbedrohliche Menge Blut ausgetauscht worden ist, wird das Herz seine Pumpfunktion einstellen, weshalb diese Maschine schon vor Todeseintritt notwendig ist.“

Die MTA redete über ihr Herz wie über eine ausgediente Maschine. Eine Pumpe, die durch eine effektivere ersetzt werden würde. Aber ihr Herz wollte nicht ersetzt werden.

„Hallo.“

Iduna wandte den Blick nach rechts. Hinter ihr war ihr Mann offenbar so leise durch die weiße Zugangstür in den Raum getreten, dass sie ihn nicht kommen hören hatte.

„Hallo! Schön, dass du mich besuchen kommst. Warum hast du die Kinder nicht mitgebracht?“

Er überging ihre Frage.

„Ja … dann … wir werden dich alle in guter Erinnerung behalten. Danke für alles.“

War er gekommen, um sich zu verabschieden? Jetzt schon? Das hieße ja, dass sie gleich an die Maschine angeschlossen werden und sterben müsste! Hatte es nicht heute früh bei der Blutdruckmessung geheißen, dass sie mindestens einen weiteren Tag warten müsste?

„Du kommst doch morgen noch einmal wieder?“, erkundigte sie sich ängstlich.

Er schüttelte stumm den gesenkten Kopf.

„Sie fangen gleich an. Ah, und … ich soll dir von den Kindern viel Glück für die Reise bestellen. Sie sagen, sie hoffen, dass du dafür, dass du anderen Menschen so viel Gutes tun willst, in den Himmel kommst. Und falls du dort beide Opas triffst, sollst du sie ganz lieb von ihnen grüßen. Ach ja, Kinder …“ Er seufzte.

„Ich … soll … schon heute …? Das hat man mir nicht gesagt.“

„Na, sei froh, dann hast du es bald hinter dir und musst nicht noch einen weiteren Tag mit Herumsitzen verbringen.“

Iduna war fassungslos. Warum kam alles so plötzlich? Warum gab man ihr keine Zeit, sich vorzubereiten? Andererseits war sie schon seit zwei Monaten auf der Warteliste gewesen. Viele, vor allem ältere und kränkere Menschen, hatten sich registrieren lassen. Trotz des Ausbaus der Aufnahme- und Verarbeitungskapazitäten stiegen die Wartezeiten stetig, denn die Spenderzahlen waren durch die Decke gegangen.

Ein Grund dafür war die zusätzliche Prämie, die auf die Angehörigen wartete und nicht versteuert werden musste. Hinzu kamen die eingesparten Beerdigungs- und häufig noch viel höheren Pflegekosten, die schon seit Langem die Zuschüsse der Krankenkassen überstiegen. So entschieden sich immer mehr ärmere und kränkere Menschen zur Spende, und es war ein offenes Geheimnis, dass in vielen Fällen Angehörige oder Ämter Druck machten.

Auch bei Iduna war es so gewesen; sie war, wenn man es sachlich betrachtete, nützlicher, wenn sie starb. Ihre Kinder hatten sich bereits teure Geburtstagsgeschenke gewünscht, die ohne die üppige Prämie utopisch geblieben wären.

„Im nächsten Jahr wird sogar eine Reise mit Vati drin sein, da er nur noch drei statt vier Mäuler zu stopfen hat“, hatte Iduna ihnen versprochen. Das war vor ein paar Wochen gewesen, und jetzt erst fiel ihr auf, was ihr gefehlt hatte. Sie hatten nicht lautstark bedauert, dass sie selbst nicht mehr würde mitfahren können. Hatte ihr Mann ihnen klargemacht, warum sie es ihrer Mutter nicht noch schwerer machen sollten? Falls ja, durfte man diese Form der emotionalen Rücksicht überhaupt von einem Kind verlangen? Musste es nicht vielmehr umgekehrt so sein, dass die Eltern emotional auf ihre Kinder Rücksicht zu nehmen hatten?

Iduna verspürte den Wunsch, jetzt auf der Stelle heimzufahren, ihre Kinder in den Arm zu nehmen und ihnen zu versprechen, dass sie noch lange bei ihnen bleiben würde. Plötzlich schien es ihr unwichtig, dass sie damit ihre Aussicht auf die erste schöne lange Reise und die ersten schönen großen Geburtstagsgeschenke seit Jahren zerstören würde.

„Glaubst du wirklich, dass diese Entscheidung richtig ist?“, fragte sie ihren Mann, der sich schon zum Gehen wenden wollte, unvermittelt.

„Wir respektieren deine Entscheidung alle und stellen sie nicht infrage.“

Er sah sie nicht an. Er mied ihren Blick. Warum wich er ihr aus?

„Meinst du nicht, dass die Kinder mich vermissen könnten? Was ist, wenn sie nicht darüber hinwegkommen?“

Es war würdelos und armselig, die Kinder vorzuschieben, da es doch einzig und allein um sie ging. Aber Iduna hatte jeglichen Stolz und alle Selbstachtung über Bord geworfen. Sie griff nach jedem Strohhalm, der sich bieten mochte.

„Ich werde mich gut um sie kümmern. Sie sind dir sehr dankbar. Was soll das?“

„Ich möchte nur sicher sein, dass ich wirklich die Entscheidung treffe, die die beste für die ganze Familie ist.“

Beschwörend sah sie ihn an. Er schwieg. Warum sprach er denn nicht aus, dass es für alle besser wäre, wenn sie wieder nach Hause käme? War das seine Art, Respekt zu bekunden? Hatte er insgeheim schon mit ihr abgeschlossen?

„Ich werde dann besser gehen. Ich will es uns nicht unnötig schwer machen.“

Kein Abschiedskuss, keine lieben Worte, nicht einmal Bedauern. Er hatte sich innerlich schon lange von ihr verabschiedet. Falls es jemals einen Kampf in seinem Inneren gegeben hatte, war dieser längst ausgefochten und offenbar zu ihren Ungunsten entschieden worden. Rig war noch nie ein Freund großer Abschiedsszenen gewesen, und mit einem entschuldigenden Blick an die MTA meinte er:

„Ich bin schon wieder weg, ich weiß, dass Ihre Termine eng sind, und will hier auch niemanden unnötig aufhalten.“

Die MTA lächelte ihn an. „Einen wunderschönen Tag für Sie und Ihre Kinder. Heute ist schönes Wetter, das sollten Sie noch einmal ausnutzen. Morgen soll es wieder regnen und erheblich kälter werden.“

„Mal schauen, vielleicht gehen wir noch schwimmen.“ Er lächelte zurück. Er schien Idunas hilfesuchenden Blick nicht zu bemerken. Oder er bemerkte ihn absichtlich nicht.

Iduna wollte anfangen zu schreien. „Bitte … ich will nicht sterben. Ich will leben … Hörst du mich denn nicht? Rette mich! Nur du kannst mich hier herausholen. Ein einziger Satz, und dieser Alptraum ist vorbei. Oh Gott, bitte bleib hier! Lass mich hier nicht allein!“

Stattdessen blieb sie sitzen und starrte ihm nur nach, wie er sie gemessenen Schrittes Richtung Labortür verließ. Schließlich entschwand er ihrem Blickfeld und sie drehte ihren schmerzenden Nacken wieder gerade.

War es nicht offensichtlich gewesen, dass ihre Fragen ein Hilfeschrei gewesen waren?

Dann drängte sich ein fieser, gemeiner, kleiner Gedanke in ihr Hirn:

Und wenn sein Verhalten gar nicht aus Respekt gegenüber ihrem Selbstbestimmungsrecht resultierte, sondern Ausdruck seines eigenen Wunsches war?

War er froh, sie loszuwerden? War er ihrer schon längst überdrüssig geworden? Hätte er nicht sonst einen letzten Versuch unternehmen müssen, um sie umzustimmen? Hätte er nicht wenigstens ein letztes Mal fragen müssen, ob sie das auch wirklich wollte, ob sie sich vollends im Klaren darüber war, was das für sie alle bedeutete?

Aber selbst wenn es so sein sollte, dass ihre Familie sie nicht mehr brauchte, ja, ohne sie glücklicher und befreiter leben würde, müsste es doch nicht so enden. Iduna würde niemandem zur Last fallen. Niemand müsste sich um sie kümmern. Das erwartete sie doch gar nicht. Wenn er ohne sie weiterleben wollte, würde sie das akzeptieren. Sie würde sogar hinnehmen, dass er ihren Kindern Lügen erzählte, damit sie dachten, es sei richtig und gut für sie, sie nie wieder lebend wiederzusehen, nie wieder mit ihr sprechen zu können. Aber sie war nicht bereit zu sterben. Sie hatte geglaubt es zu sein, aber der Anblick ihres eigenen Blutes hatte sie aufgerüttelt. Es lag auf einmal nichts Schönes, nichts Hehres und nichts Gutes mehr in ihrem Vorhaben. Es war reiner Irrsinn! Ihre Sinne mussten vernebelt gewesen sein, als sie sich dazu entschieden hatte, sich als Spender anzubieten.

Sie wollte vorwurfsvoll klingen, aber es kam nur ein leiser, tonloser Satz heraus:

„Sie haben mir gar nicht Bescheid gesagt, dass es schon heute ist.“

„Ja, das hat sich vor zwei Stunden so ergeben. Da ist einer ausgefallen, dadurch sind Sie in der Warteliste aufgerückt. Man kann ja auch mal Glück haben. Wir haben dann gleich Ihren Mann angerufen, damit er sich noch mal verabschieden kann.“

Iduna fühlte, wie Verzweiflung sich in ihr ausbreitete. Die Sekunden schienen plötzlich langsamer zu verrinnen, und doch wusste sie, dass ihr so entsetzlich wenig Zeit blieb.

Sie versuchte, sich ihre Kinder vorzustellen, wie sie ihre Geburtstagsgeschenke auspackten, mit erwartungsfrohen Gesichtern. Wie sie ungeduldig in ihre Zimmer eilten, um ihre Schulscheren zu holen, weil sich das größte Paket nicht aufreißen ließ. Der Gedanke tröstete nicht. Im Gegenteil, er machte es nur noch schlimmer. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie niemals sehen würde, wie ihre Enkelkinder Geschenke auspacken könnten.

Sie wollte weinen, aber ihre Augen blieben trocken und ihr Mund bewegte sich nicht. Sie wollte etwas sagen, aber alles schien sinnlos. Dann, endlich, nach unendlicher Mühe, schaffte sie es, ein Wort auszusprechen.

„Ich …“

„Ja, gibt es noch etwas?“

Sie wollte sagen, dass sie Angst hatte. Sie wollte sagen, dass jemand bei ihr bleiben und wenigstens ihre Hand halten sollte, bis sie das Bewusstsein verlor. Doch es kam nichts heraus.

Die MTA füllte noch einige Messdaten aus und drehte sich dann mit Kugelschreiber und Unterlagen in der Hand zu ihr um. Sie lächelte Iduna aufmunternd zu.

„Sooo, jetzt ist es gleich so weit. Kommen Sie bitte mit herüber zum Austauschbereich. Da steht schon alles für Sie bereit. Wie besprochen bekommen Sie zuerst ein starkes Schmerzmittel, bevor der eigentliche Fixierungsvorgang beginnt.“

Iduna war plötzlich zu schwach zum Aufstehen. Die MTA half ihr auf und stützte sie sicher ab. In ihren zierlichen Armen lag eine erstaunliche Kraft. Sie führte Iduna vorsichtig, aber zielstrebig am Plexiglasfenster entlang. Jetzt war es verdunkelt, kein Besucher konnte zusehen. Es würde erst wieder durchsichtig werden, wenn die Spenderin betäubt und festgeschnallt und der Austauschvorgang in vollem Gange war.

Nur noch wenige Meter von Iduna entfernt befand sich die Liegeschale, neben deren Fußende ein kleines Metallregal auf Rollen stand.

Und darauf sah Iduna die Spritze. Befand sich darin das angekündigte Schmerzmittel? Es würde sie sicher benommen machen, vielleicht sogar vollständig betäuben. Betäubt wäre sie allem wehrlos ausgeliefert.

Weg von der Spritze! Panik wogte in Iduna auf, die Lähmung erlosch.

„Ich habe es mir anders überlegt!“, rief sie schnell aus.

„Was überlegt?“

„Ich will doch kein … Spender … sein. Ich will nach Hause.“

Iduna machte sich steif, drückte gegen die schiebende Hand an ihrer Schulter.

„Oh nein! Das ist jetzt nicht wahr!“

Die MTA verstärkte ihren Druck, zerrte an ihr.

„Ich will nicht. Nein! Nein!“ Iduna schrie jetzt laut.

Genervt ließ die MTA sie los.

„Nicht schoooon wieder! Warum passiert so was ausgerechnet immer mir? Wieso kommen die, die plötzlich rumzicken, ausgerechnet immer, wenn ich Dienst am Einbalsamierungsapparat habe?“

„Mein – mein Mann kommt bestimmt gleich wieder. Er kennt mich seit dreiundzwanzig Jahren, er hat gespürt, dass ich weiterleben will.“

„Nun machen Sie sich mal nichts vor. Der kommt nicht wieder“, widersprach die MTA bestimmt. Etwas versöhnlicher erklärte sie: „So läuft das hier oft: Die Angehörigen behaupten, wie schwer es ihnen fiele, den persönlichen Verlust zu akzeptieren, aber in Wahrheit fällt ihnen eine Last von der Seele … und in den allermeisten Fällen vom Geldbeutel. Sooo … und außerdem haben Sie es fast geschafft. Jetzt gibt es nur noch einen kleinen Pikser und Sie werden sich fühlen wie in Watte eingepackt.“

„Nein!“

Iduna rannte los. Nur fünf oder zehn Meter bis zur Tür. Raus aus dieser Vorhölle. Egal wohin.

Wie wild drehte sie am Knauf. Die Tür ließ sich von innen nicht öffnen. Warum war ihr beim Eintreten nicht aufgefallen, dass sich nur auf der Außenseite eine Klinke befand?

Iduna wandte sich wieder zurück. Die MTA war ihr nachgegangen und kam ihr entgegen, langsam, aber entschieden. Und sie hielt nun etwas anderes in ihrer Hand: eine kleine Elektroschockpistole ähnlich denen, die Polizeivollzugsbeamte bei sich trugen.

Iduna duckte sich hinter dem Kopfende der Arbeitsfläche vor einem tiefen Waschbecken. Jemand hatte eine große Knopfschere darin abgespült, aber vergessen aufzuräumen. Ohne aufzustehen, griff Iduna über den Rand und fingerte die Schere aus dem Ausguss. Die MTA war nur noch wenige Schritte entfernt. Verzweifelt schleuderte Iduna ihr die Schere entgegen. Wirkungslos prallte das Geschoss von der Schulter der MTA ab, doch immerhin war sie verblüfft und erschrocken genug, um ihre Elektroschockpistole fallen zu lassen. Iduna trat sie beiseite und raste auf die andere Tür zu, die, von der sie wusste, dass sie offenstand.

Sie landete in einem Gang, von dem weitere Türen abzweigten. Hinter einer war ein gleichmäßiges Surren zu hören, vielleicht von einem großen Kühlschrank oder einer anderen Maschine. Ob sie sich hier verstecken konnte? Nein! Sie musste weiter. Egal wohin! Nur weg! So viel Abstand wie möglich zwischen sich und die MTA bringen.

Der Gang bog nach links ab, dann endete er vor einer weiteren, blitzblank geputzten weißen Tür. Sie war verschlossen. Iduna sah sich gehetzt um. Sie trat gegen die Tür, sie brüllte. Sie überlegte, wieder umzukehren und die anderen Türen zu untersuchen.

Und dann bog ihr Alptraum in Menschengestalt um die Ecke des Ganges. In Idunas vegetativen Nervensystem kämpften lähmendes Grauen und fluchtauslösende Panik um die Vorherrschaft über ihren Körper. Sie wollte brüllend und um sich schlagend losrennen. Doch gleichzeitig fühlte sie einen Kloß im Hals, der die Kommunikation zwischen ihrem Gehirn und ihrer Muskulatur zu unterbrechen schien. Und dazwischen schoben sich surreale, verleugnende Gedanken:

„Das geschieht nicht wirklich. Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein. Das ist alles nur ein böser Traum. Da liegt ein Irrtum vor. Gleich kommt ein Mitarbeiter um die Ecke und sagt Bescheid, dass es eine Namensverwechselung gegeben hat. Es geht gar nicht um mich. Gleich wird man sich bei mir entschuldigen und mich entlassen und darum bitten, nicht vor Gericht zu gehen.“

Die MTA richtete das Wort an Iduna, beschwörend: „Seien Sie doch nicht so egoistisch. Können Sie als Mutter nicht ein Fünkchen Verantwortungsgefühl für andere aufbringen? Die Gesellschaft hat Sie so lange getragen und unterstützt, und nun können Sie etwas zurückgeben.“

„Kann ich nicht noch etwas Zeit bekommen? Ein Jahr? Wenigstens ein paar Monate. Oh bitte, und wenn es nur ein einziger Tag wäre. Noch ein Mal durch den Wald fahren und die frische Luft einatmen!“

„Das fällt Ihnen aber reichlich spät ein. Hören Sie, ich habe eigentlich schon seit zwanzig Minuten Feierabend und kriege die Überstunden hier nicht bezahlt. Und dann soll ich mich mit Leuten wie Ihnen herumschlagen, denen auf den letzten Drücker einfällt, was ihnen das Leben noch alles zu bieten hätte. Wenn das Leben Ihnen bislang nicht das gegeben hat, was Sie sich so vorgestellt haben, weshalb sollte sich das jetzt in einem Monat oder in einem Jahr plötzlich ändern? Sie hatten zig Jahre, Zeit genug, durch ihren Wald zu fahren und frische Luft zu schnappen. Die Luft wird dort draußen nicht besser, eher im Gegenteil. Seien Sie doch froh, dass Sie noch jung waren, als die Luftverschmutzung weniger Atemwegserkrankungen hervorrief.“

Iduna konnte nichts darauf erwidern. Alles war zutreffend, jedes Argument war stichhaltig, jede Aussage stimmte. Es waren im Wesentlichen dieselben Argumente, die sie dazu bewogen hatten, sich als Körperspender zu opfern. Nur dass sie damals andere Bilder im Kopf gehabt hatte. Sich als edle Spenderin. Sich als Märtyrerin. Sich als Dienerin der Wissenschaft. Sich als gute Mutter. Sich als Schaubild für kommende Generationen. Sich als Objekt der Anerkennung und des Interesses. Und den Tod als harmloses Einschlafen. Beinahe als Erlösung von ihrem fehlgeschlagenen Leben und von aller Verantwortung. Aber jetzt fühlte sich alles anders an. Alle Motive und Argumente waren mit einem Schlag völlig bedeutungslos geworden. Und die Bilder im Kopf weggewischt.

Es gab nur noch sie selbst und ihren unbändigen Wunsch nach Leben, nach Er-leben, danach, jede kleinste Empfindung in sich aufzunehmen, die Fülle auch der unbedeutendsten Naturschauspiele und körperlichen Empfindungen zu erfahren und auszukosten. Es war ihr völlig gleich, was sie tun würde, was sie sehen würde, solange sie nur irgendetwas tun und sehen könnte. Es müsste nicht einmal etwas Schönes oder Erfreuendes sein. Sie wäre in ihrem jetzigen Zustand sogar bereit, die langweiligsten Filme über sich ergehen zu lassen, denn sie begriff, dass nichts langweilig war. Auch das Banale erschien ihr auf einmal wertvoll und wichtig. Wie oft war sie an den Butterblumen im Hof vorübergegangen, hatte sie lediglich flüchtig mit ihren Blicken gestreift. Jetzt würde sie sich gern eine ganze Stunde Zeit nehmen wollen, nur um eine einzige dieser Blumen in allen Einzelheiten zu betrachten, zu riechen und zu streicheln.

Hatte sie jetzt, in den letzten Minuten vor ihrem Tod, erst den eigentlichen Sinn ihres Lebens entdeckt? Und nun, nachdem sie auf diesen Sinn gestoßen war und erfahren hatte, wie unendlich wertvoll er war, sollte sie ihn aufgeben? Sollte sie ein ganzes Universum implodieren lassen? Was bedeutete die Welt überhaupt noch ohne ihre Existenz darin? Was würde fortbestehen, wenn sie nicht mehr vorhanden wäre? Wer sagte denn, dass nicht alles genau so, wie sie es wahrnahm, einzig und allein für sie geschaffen worden war und ebenso sinnentleert und bedeutungslos würde, wenn es sie nicht mehr gäbe? Bei dieser Vorstellung fühlte sie paradoxerweise Demut.

Die Zeit schien in dieser einen Schleife aus Verzweiflung stecken geblieben zu sein. Dabei verlangsamte oder beschleunigte sie sich nicht, sondern sie hatte schlichtweg keinerlei Bedeutung mehr. Die MTA schien den psychischen Zustand ihrer Klientin ebenfalls nicht sicher einschätzen zu können. Sie hielt angemessenen Abstand, ohne jedoch den Blick durch den Gang in Richtung der rettenden Ausgangstür freizugeben.

„Werden Sie doch endlich vernünftig. Ich habe bereits meine Kollegen gerufen. Sie können sich jetzt entweder beruhigen und zusammenreißen und mit mir mitkommen. Dann wird das alles in wenigen Minuten schmerzlos vorbei sein. Oder Sie wehren sich, dann wird es länger dauern und mehr wehtun.“

Genervt schaute sie auf ihre Uhr.

Ihr Gesichtsausdruck verhärtete und ihr Tonfall änderte sich, wurde zu einem leisen, bösen Zischen, als sie weitersprach.

„Wir müssen nämlich genau einstellen, wie konzentriert wir Ihnen das Schmerzmittel injizieren werden. Die korrekte Dosierung wurde selbstverständlich zuvor aus Ihrem BMI und weiteren physiologischen Daten errechnet. Aber Sie wissen ja selbst, bei so vielen Klienten und in so einem komplexen und mitunter hektischen Betrieb können auch mal Fehler passieren. Zahlendreher, falsche Eingaben am Gerät …

Und wenn eine MTA überarbeitet und überanstrengt ist, dann kann sie schon mal unkonzentriert arbeiten. Genauso verhält es sich mit der Durchflussgeschwindigkeit des Formalins.

Unbeabsichtigt, außerordentlich bedauerlich, im Nachhinein jedoch ohne nachhaltige Auswirkungen auf die Qualität der Präparate, weshalb es unentdeckt bleibt.

Haben Sie jemals Spritzer von Säuren oder Laugen abbekommen? Wollen Sie wirklich genau wissen, wie sich das anfühlt, wenn einem von innen heraus sämtliche Adern verätzt werden, und zwar bei vollem Bewusstsein? Das wäre doch keine schöne letzte Erinnerung, nicht wahr?“

Iduna glaubte in ihrer irren Angst, so etwas wie ein Grinsen im bislang wenig erfreuten Gesicht ihres Gegenübers zu spüren. Ja, eindeutig zu spüren, obwohl die Gesichtszüge der MTA nichts von einem Grinsen verrieten. Und doch war es da, fein und leise, aber machtvoll und auf unerklärliche Weise herablassend. Bedeutete dieses Grinsen sadistische Vorfreude? Veränderte man sich zu einem eiskalten mitleidlosen Monster, wenn man lange hier arbeitete? Oder kamen hierher nur solche Bewerber, die grundsätzlich wenig Empfinden für die Belange und Gefühle anderer Menschen aufbrachten? Oder Mitarbeiter, die sogar Freude daran hatten, zuzusehen, wie eine herzlose, blinde Maschine gnadenlos die Lebenskraft aus den nackten Körpern ihrer Opfer pumpte?

Iduna wurde erst jetzt klar, dass ihr drohender Tod noch nicht einmal das Schlimmste war, was ihr bevorstehen konnte. Sie hatte nie einen Gedanken an die Möglichkeit des Machtmissbrauchs verschwendet, nie die Tatsache registriert, wie ausgeliefert sie jeglicher Willkür hier in diesen Laboren, hinter verschlossenen Türen, tatsächlich war. Sie könnte stunden-, ja tagelang gefoltert werden, ohne dass auch nur eine Spur dessen im Nachhinein nachweisbar wäre. Alle verräterischen Haut- und Weichteile würden unhinterfragt und problemlos in die E-Tonnen zur Verbrennung wandern. Kein Gerichtsmediziner würde jemals erscheinen, um das Ausmaß ihrer Qual aufzudecken, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Wer wusste denn schon, wie viele Exponate hinter ihren friedlich aussehenden Puppenaugen aus Glas und in ihren blutleeren Mündern unaussprechliche Verbrechen verbargen, von denen sie niemandem mehr berichten konnten, weil ihre schreckgeweiteten Augen längst verbrannt oder verfault und ihre Stimmbänder längst entwässert oder zertrennt waren?

Iduna spürte, wie alle Hoffnung und alle Kraft aus ihr wichen. Selbst wenn sie an dieser MTA vorbeigekommen wäre, wusste sie nicht einmal, wie sie aus dem riesigen Gebäude herausfinden sollte. Viele der Türen benötigten offenbar spezielle Sicherheitsausweise, um geöffnet zu werden. Außerdem hatte man ihr bei ihrer Erstanmeldung bereits einen GPS-Sender implantiert. Sie würde geortet und gefangen werden, noch bevor sie dazu käme, weit genug zu fliehen, um diese Ortungsmöglichkeit aus ihrem Körper zu entfernen.

Ihre Knie begannen unkontrolliert zu zittern. Ihre Beine verloren ihre Steuerungsfähigkeit und waren außerstande, weiterhin diesen übergewichtigen Körper zu tragen, sodass sie langsam an der sauberen, hoffnungsvoll mintgrün gestrichenen Flurwand niedersank.

„Bitte … bitte … lassen Sie mich nicht leiden!“, flehte sie. „Machen Sie es schnell, bitte! Ich werde keinen Widerstand leisten. Ich werde keinen Ärger mehr machen, aber lassen Sie es bald vorbei sein.“

Die MTA seufzte erleichtert. Vielleicht würde sie es doch noch schaffen, heute Abend die erste Staffel der neuen Zombieserie zu Ende zu gucken? Der aufgekommene Gedanke, dieses Häufchen Elend vor sich noch zusätzlich zu quälen, erschien ihr überhaupt nicht mehr reizvoll. Sie wusste von ihrer letzten Klientin, dass diese Drohung außerordentliche Wirkung zeigte, aber heute war es anders gewesen: Sie hatte für einige Sekunden eine freudige Erregung bei dem Gedanken daran verspürt, sie wahr werden zu lassen. Jetzt im Nachhinein fühlte sich dieser Gedanke abstoßend und minderwertig, irgendwie sogar fremd an. Ja, sie fühlte sich nicht nur im Job oft überfordert und ausgenutzt. Dennoch war sie nicht der Typ, der dies kompensierte, indem er Unterlegene quälte. War die freudige Erregung der Gedanke eines anderen gewesen, war es diese Tätigkeit, die ihre Persönlichkeit zum Schlechten hin veränderte? Sie brauchte dringend Urlaub.

Fast bereute sie es, der widerborstigen Spenderin gedroht zu haben. Jetzt tauchte die herbeigerufene Verstärkung auf, doch sie hob beruhigend die Hand.

„Alles O. K., alles unter Kontrolle. Hilfst Du mir mal bitte kurz, sie aufzuheben?“

Gemeinsam mit dem kräftigen Mitarbeiter packte sie Iduna unter den Achseln und stellte sie wieder hin.

„Na sehen Sie, es ist doch alles gar nicht so schlimm.“

Etwas in Iduna brach in sich zusammen. Sie gab sich auf. Willenlos und immer noch zitternd ließ sie sich mit Kabelbinder fesseln und abführen – wie ein Verurteilter zur Vollstreckung der Todesstrafe.

Und nach und nach ebbten die Wellen der Panik ab, zogen sich zurück in ihr Unterbewusstsein. Innerlich wurde sie ruhig und gefasst. Es war beruhigend, endlich zu wissen, dass keine Hoffnung mehr bestand.

Die eigentliche Folter hatte darin bestanden, dass sie noch geglaubt hatte, weiterleben zu können, wenn sie nur zäh genug darum kämpfte. Dabei war ihr Schicksal doch schon lange besiegelt gewesen. Da ihr das jetzt endgültig klar wurde, konnte sie sich leichter fügen. Es war alles schon entschieden. Es war völlig sinnlos, Angst zu empfinden, da Angst nur die Funktion hatte, sie zum Handeln zu bewegen. Doch es gab nichts mehr zu tun. Nur warten. War sie innerlich bereits gestorben?

Teilnahmslos starrte sie ins Leere, während sie nun auf die Unterlage geschnallt wurde. Es war eine harte, aber erstaunlich warme Unterlage aus weißem, gut abwischbarem Hartplastik, die zu allen Kanten hin leicht nach oben gebogen war, um versehentlich austretende Flüssigkeiten aufzufangen. Über sich sah sie eine breite Lampe an einem Baggerarm. Wie beim Zahnarzt. Beim Zahnarzt dauerten Angst und Schmerz auch selten länger als wenige Minuten, und sie hatte ihre Zahnarztbesuche mit jeder weiteren Behandlung leichter ertragen können. Was war das anderes als ein Zahnarztbesuch, nach dem nichts mehr wehtun würde? Nie wieder.

Vielleicht würde sie jetzt ihre verstorbenen Verwandten wiedertreffen? Bald würde sie wissen, ob es ein Leben nach dem Tod gab. Sie hatte einige Erfahrungsberichte über Nahtoderlebnisse gelesen. Die meisten hatten überaus positiv und beruhigend geklungen, als sei das Sterben etwas, worauf man sich freuen könnte wie auf den ersten Orgasmus.

Iduna spürte den Einstich der Nadel, dann einen schmerzhaften Druck, als das Betäubungsmittel in sie gepresst wurde.

„Dies war deine letzte Fehlentscheidung“, dachte sie.

„Wenigstens nie wieder Fehlentscheidungen.“

Coronavirus - Düstere Geschichten

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