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Realitätstest

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Er hatte schon ein ungutes Gefühl, als er von seinem großzügigen Spaziergang heimkehrte. Mit seiner Mischlingshündin Susi war er nach Norden aus der Stadt gefahren und bis zum Südrand des Poyenstichs an der Havel gewandert. Dort hatte er sich einige zum Verkauf stehende, teils arg sanierungsbedürftige Häuser und Höfe angesehen. Normalerweise müsste seine Frau mittlerweile, es war bereits gegen 19:00 Uhr und die Sonne senkte sich über den Horizont, schon zuhause sein und die Reste des Mittagessens für ihn aufwärmen.

Unten stand die Haustür sperrangelweit offen. Wie leichtsinnig das doch war! Auch hierher, in diese heruntergekommene Gegend, aus der er so bald wie möglich herauskommen wollte, konnten sich unerfahrene Diebe und Einbrecherbanden verirren, die noch nicht wussten, dass in den Wohnungen selten etwas zu holen war. Aber heute ärgerte er sich nicht über die Nachlässigkeit seiner Nachbarn, sondern erschrak zutiefst. Das war ein schlechtes Omen. Ob etwas Ungeplantes geschehen war?

Widerstrebend und besorgt näherte er sich dem Hauseingang. Auch die stählerne Kellertür war geöffnet. Er spähte die Stufen hinab, jemand hatte die Kellerbeleuchtung eingeschaltet. Verwundert erblickte er zu beiden Seiten der schmutzigen Steintreppe säuberlich aufgeschichtete Knochen auf notdürftig angeschraubten Regalbrettern.

„Sitz!“

Susi gehorchte und wedelte freundlich mit dem Schwanz. Zumindest schien es keine unmittelbare Bedrohung zu geben.

Woher um alles in der Welt kamen diese Knochen? Er befestigte die dunkle Lederleine am Treppengeländer, das in den ersten Stock führte, und ging vorsichtig einige Stufen in den Keller hinab. Es roch nach all den Jahren immer noch leicht nach Asche und Kohlenkiepen. Und nach Knochen! Er hatte bisher nie darüber nachgedacht, dass auch menschliche Knochen einen eigenen Geruch ausstrahlen können. Die meisten Gebeine waren säuberlich aufgestapelt, dazwischen thronten Totenschädel, die allesamt sehr gut erhalten waren. Sie konnten noch nicht lange hier liegen.

„Guten Abend, Willibald!“

Er fuhr zusammen, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken. Es war nur die Hausmeisterin.

„Oh, guten Abend, Amelia. Haben Sie die Türen geöffnet?“

„Ja“, antwortete sie. „Ich musste wieder beide Treppenaufgänge putzen und habe gleich etwas gelüftet. Seit das Bezirksamt uns nötigt, die Überreste Verstorbener in den Kellern zu lagern, weil Friedhofsflächen für den Hausbau benötigt werden, ist es noch staubiger und muffiger geworden.“

Willibald konnte sich gar nicht entsinnen, dass das Bezirksamt jemals einen derartigen Beschluss gefasst hatte. Hätte er als Wohnungsbesitzer nicht darüber informiert werden müssen? Immerhin gehörte ihm anteilig Gemeinschaftseigentum, wozu auch die Kellergänge zählten.

„Na, Susi, passt du schön auf dein Herrchen auf? Ja, bist eine ganz Feine.“

Susi war allseits beliebt, weil sie überaus freundlich, intelligent und zur großen Freude der Hausmeisterin auch sehr gepflegt war.

Verwirrt musterte Willibald die aufgetürmten Stapel unterschiedlichster Gebeine, unter denen die großen Röhrenknochen der Extremitäten dominierten.

„Ist es überhaupt erlaubt, Menschenknochen hier so offen zu stapeln?“, äußerte er zweifelnd. „Immerhin könnten sie leicht herunterfallen oder gestohlen werden.“

Ihm kam diese Lösung pietätlos vor. Störte es die Angehörigen nicht, dass sie keine gewidmeten Gräber mehr besuchen konnten, sondern ihre Lieben achtlos und anonym in Kellern und auf Dachböden verteilt wussten?

„Die Handwerker, die Nischen in die Wände stemmen und eine Absicherung anbringen sollten, hätten schon letzte Woche kommen müssen. Ich werde gleich morgen noch einmal Druck bei der Hausverwaltung machen. Sie haben recht, es könnte sich leicht jemand verletzen, immerhin sind einige Knochen auch sehr scharfkantig.“

Amelia schien gar nicht mitbekommen zu haben, dass Willibald weniger die Gefahr für die Anwohner als vielmehr die moralische Bedenklichkeit dieser neuen Bestattungsform hatte kritisieren wollen.

Ein schmaler, relativ kleiner Schädel rechts über der untersten Stufe erregte seine Aufmerksamkeit. Etwas mit ihm stimmte nicht. Grauen erfasste ihn. Äußerlich konnte er nichts Besonderes daran entdecken, und doch erfüllte er ihn mit Entsetzen. Er wollte sich wieder abwenden, doch die leeren Augenhöhlen hypnotisierten ihn wie magisch. Weshalb brachte ihn dieser doch vergleichsweise harmlose Anblick derart aus der Fassung?

„Amelia, werden uns eigentlich die Namen der Menschen mitgeteilt, die hier gelagert werden?“, erkundigte er sich. Sein Blick blieb auf den zierlichen Schädel geheftet.

„Na, das wäre nun wirklich zu viel Bürokratie. Es reicht schon, dass ich diverse Unterlagen über die Lebenden in diesen beiden Häusern in meiner Wohnung stapeln muss!“, beschwerte sich die Hausmeisterin.

„Ach ja, das ist schon mal der Ihrer netten Ehefrau, Willibald, Sie haben ja selbst einen schönen Platz für sie ausgesucht.“

Willibald erstarrte. Er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Mühsam keuchte er. Seine Hand umklammerte den Lauf der Kellertreppe, weil er glaubte, das Gleichgewicht zu verlieren.

Deshalb also hatte ihn der Anblick mit Schrecken erfüllt! Ohne jemals eine Röntgenaufnahme seiner Frau betrachtet zu haben, hatte er gespürt, dass dies ihr Kopf war. Er hatte ihn sofort erkannt, es nur nicht wahrhaben wollen.

Es dauerte einige Sekunden, bis er überhaupt etwas hervorbringen konnte.

„Hulda ist … tot?“

„Aber nein, Sie Witzbold!“, lachte die Hausmeisterin. „Quicklebendig! Vorhin kam sie mir doch von der Arbeit entgegen!“

„Wie … wie ist das möglich?“, stammelte er ungläubig. Ein Mensch konnte ohne seinen Kopf nicht existieren. Wollte ihn Amelia auf den Arm nehmen?

Grinsend starrte ihn der Schädel seiner Frau an, als wollte er seine lächerliche Unwissenheit verhöhnen. Willibald war doch nur auf einen Tagesausflug mit Susi fort gewesen! Er hätte schwören können, dass sich am Vorabend kein einziger Knochen im Keller befunden hatte. Schon gar nicht der Totenschädel seiner Frau! Hatte sie sich nicht noch in der Frühe von ihm verabschiedet?

Die Hausmeisterin schien zu überlegen, ob seine Frage ernst gemeint war, dann entgegnete sie beruhigend:

„Ja, Erwachsene werfen ihren Schädel viel seltener ab als Kinder, ungefähr alle zehn bis zwanzig Jahre. Schließlich wachsen sie nicht mehr. Aber das ist wie bei den Hirschen, die ihre Geweihe immer wieder abwerfen und dann neu bilden, es hört zeitlebens nicht auf.“

„Abwerfen?“

Willibald hatte noch nie davon gehört, dass Menschen Knochen abwerfen konnten wie Geweihe oder Schlangenhäute. Warum tat Amelia so, als sei das das Natürlichste auf der Welt? Es war biologisch unmöglich!

Noch nie hatte er seinen Schädel gewechselt, und noch nie hatte dies einer seiner Freunde oder Verwandten getan, auch nicht als Kind oder als Jugendlicher während eines Wachstumsschubes, wo dies angeblich häufiger vorkommen sollte.

Nein, seine Frau war tot. Ihr Totenkopf war der Beweis. War das unmögliche Benehmen von Amelia lediglich ihrer Verunsicherung geschuldet, wie sie mit seiner Fassungslosigkeit angesichts des Todes seiner geliebten Ehefrau umgehen sollte? Sie war gut darin, Treppenaufgänge und Small Talk zu pflegen, aber offensichtlich nicht darin, Witwer zu trösten.

„Ah, da ist sie ja!“, rief Amelia fröhlich aus.

Willibald riss seine Aufmerksamkeit gewaltsam von Huldas Schädel und hob den Kopf. Verblüfft starrte er auf eine anmutige, kleine Frau mittleren Alters, die das Treppenhaus heruntergelaufen kam.

„Na, ihr zwei, ich habe euch im Hausflur reden hören“, begrüßte sie sie. „Und das ohne mich!“, fügte sie mit gespieltem Tadel hinzu.

Diese Frau, die zu ihnen herunterkam, war niemand anderes als Hulda. Aber sie konnte es nicht sein. Hulda war tot.

Lächelnd bückte sie sich und streckte ihre Hand nach Susi aus, um sie zu begrüßen.

Die Mischlingshündin zog den Schwanz ein und winselte. Dann fing sie mit angelegten Ohren an zu knurren und kläffte einmal ängstlich.

„Ach Susilein, Dummerchen, ich bin`s doch!“

Aber Susi hatte recht: Das da war nicht seine Hulda. Das Ding war überhaupt keine Frau, sondern nur die hastig geformte Karikatur eines Menschen, so als hätte sich ein Schauspieler für eine Filmszene eine Maske übergestreift.

Was auch immer hier gespielt wurde, die Hausmeisterin spielte das Spielchen mit.

„Ihr Mann ist eben zur Tür hereingekommen und hat noch einmal Ihren Schädel bestaunt“, erklärte sie zu dem Ding gewandt, das vorgab, Hulda zu sein, indem es sie unbeholfen nachäffte.

Die falsche Hulda grinste wissend. Dann trafen sich ihre Blicke und sie schien besorgt.

„Willi, Schatz, ist alles in Ordnung? Du wirkst etwas abgespannt. Komm hoch, ich mache dir einen Tee …“

Das Ding näherte sich und wollte ihn berühren, vielleicht sogar küssen.

„Nein!“, keuchte Willibald. „Lass mich … FASS MICH NICHT AN!“

Aber sie näherte sich weiter. Er glaubte, einen Geruch wie von sehr alten Knochen an ihr zu bemerken. Da stieß er sie brüllend von sich und drehte sich ruckartig weg.

Durch diese Drehung schien er plötzlich für eine Sekunde lang schwerelos zu werden. Dann landete er mit einem Poltern auf dem Laminatfußboden. Er war hart und kalt. Willibalds Ellenbogen schmerzte.

Nicht schon wieder ein Alptraum! Verdammt!

Es war noch dunkel, also nicht einmal fünf Uhr morgens. Er hatte gerade einmal vier Stunden geschlafen. Ihm war klar, dass er nicht mehr einschlafen konnte. Er wollte seiner Frau nichts davon erzählen, denn sie würde es wieder nur auf sein Feierabendbier schieben. Dabei gönnte er sich diese kleine Belohnung schon seit fünfundzwanzig Jahren und hatte davon nie Alpträume bekommen. Sie hatten erst vor einem halben Jahr begonnen und seitdem nicht mehr aufgehört. Normalerweise konnte er sich kaum an Träume erinnern, doch diese brannten sich in sein Gedächtnis und tauchten wie über die Realität projizierte Bilder immer wieder ohne Vorwarnung auf. Manchmal geschah so etwas mitten in der Arbeit oder in einem Gespräch mit Kollegen, und dann vergaß er, was er gerade hatte tun wollen oder was sein Gegenüber gesagt hatte.

Zuerst waren die Alpträume vereinzelt vorgekommen und er hatte sie auf die hohe Arbeitsbelastung zurückgeführt. Dann waren sie wöchentlich aufgetreten, und seit einigen Wochen verging kaum eine Nacht, in der er ruhig und unbehelligt schlafen konnte. Mittlerweile trank er abends schon ein weiteres Feierabendbier, um das Zubettgehen hinauszuzögern, weil er sich vor den grässlichen Träumen fürchtete. Der Inhalt selbst war nicht ernst zu nehmen und erschreckte ihn im Wachzustand kaum. Aber er nahm stets ein lähmendes Gefühl von Furcht oder Hoffnungslosigkeit mit in den Wachzustand hinüber, und sein Nervenkostüm litt zunehmend unter dem Schlafmangel. Er war reizbar und unkonzentriert geworden, regte sich über Kleinigkeiten auf und hatte sich schon einige Schnitzer erlaubt, die anderen Kollegen vielleicht schon eine Abmahnung eingebracht hätten.

Zwei Wochen lang hatte sich er Schlaftabletten verschreiben lassen. Aber das war keine Dauerlösung, schon allein deshalb nicht, weil er keine Lust hatte, Dauergast in Wartezimmern zu werden. Die Wirksamen wie Zolpidem waren alle verschreibungspflichtig. Außerdem fühlte er sich nach der Einnahme dieser Schlaftabletten am nächsten Tag wie gerädert, obwohl sie tatsächlich dafür sorgten, dass er traumlos mindestens zehn Stunden durchschlief.

Am Wochenende wurde es heiß. Willibald war von einem guten Kollegen zum Grillen und Kartenspielen eingeladen worden.

Nach einigen Bierchen lockerten sich Stimmung und Zungen der Männer. Interessiert stellte sich Willibald zu zwei der Kollegen, die sich über Träume unterhielten und dabei so taten, als wären sie Experten, nur weil sie ein oder zwei Youtube-Videos darüber gesehen hatten. Dann entfernte sich einer der beiden, um Platz für ein weiteres Bier und eine Bratwurst zu schaffen.

Möglichst beiläufig erkundigte sich Willibald danach, ob es möglich sei, unangenehme Träume loszuwerden.

„Oh, dafür gibt es viele Möglichkeiten, aber die sicherste und effektivste ist immer noch die, direkt während des Traumes anzusetzen. Dazu musst du dir natürlich bewusst sein, ob du gerade träumst oder wach bist.“

„Wie stelle ich zuverlässig fest, ob ich gerade wach bin?“, wollte Willibald wissen.

„Schau dir den Teller in deiner Hand an. Welche Farbe hat seine Oberfläche?“

„Weiß mit ein paar blauen Mustern.“

„Nun schließe die Augen für ungefähr eine halbe Minute und sieh den Teller vor deinem geistigen Auge. Stell dir vor, dass der Teller grün wäre. Konzentriere dich auf dieses Grün.“

Darin war Willibald gut, sein räumliches Denken war weit überdurchschnittlich ausgeprägt.

„Ja … klappt … und?“ Was wollte der Kollege damit beweisen?

„Öffne die Augen wieder. Welche Farbe hat der Teller nun?“

„Blöde Frage, weiß natürlich.“

„Das war schon der ganze Test“, erklärte sein Gegenüber.

„Du bist jetzt wach. Wäre der Teller nach dem Öffnen deiner Augen immer noch grün und nicht wieder weiß, dann wüsstest du, dass du gerade schläfst. Wenn es dir gelingt, durch Konzentration und Willenskraft deine Umgebung zu beeinflussen, dann träumst du. Am einfachsten geht es mit Farben von Gegenständen um dich herum.“

„Und wie soll das Alpträume verhindern?“, fragte Willibald.

„Wenn du diese Übung jeden Tag mindestens dreimal machst, am besten in aufwühlenden oder beängstigenden Situationen, dann wirst du den Realitätstest verinnerlichen und zunehmend auch in Träumen anwenden. Erkennst du während eines Alptraumes, dass du träumst, kannst du ihn beeinflussen. Du kannst Figuren in deinen Träumen verschwinden oder erscheinen lassen, deine Umgebung und deine Fähigkeiten verändern oder auch bewusst fragen, warum dir diese Traumbilder erschienen sind. Denn irgendeinen Grund muss es doch haben, dass du in letzter Zeit so von der Rolle bist.“

„Danke, das probiere ich mal aus.“

Hoffentlich würde Willibalds Kollege niemandem von seinem Schlafproblem erzählen. Man sollte ihn bloß nicht für ein Mädchen halten.

Gleich am nächsten Morgen nach einer weiteren schlechten Nacht ergab sich die Gelegenheit für den ersten Realitätstest.

„Ich habe schon wieder deine dreckigen Socken im Schlafzimmer gefunden. Ist es denn zu viel verlangt, sie bis zum Wäschekorb zu tragen?“, beschwerte sich Hulda, als er müde und verkatert durch den Flur schlurfte.

Er starrte seine Ehefrau an. Sie trug ein ärmelloses, blaugrünes Kleid, das ihr bis zu den Fesseln reichte.

Dann schloss er seine Augen. Das Kleid wurde rot, knallrot, und aus der angespannten Meckerfratze war ein neckisch grinsendes Gesicht geworden. Er hielt das Bild fest und betrachtete es. Schließlich öffnete er vorsichtig seine Augen. Das Kleid war wieder blaugrün und seine Frau schaute ihn immer noch etwas ungehalten an.

„Schade“, murmelte er.

„Was ist schade?“, wollte sie wissen.

„Ach, nichts.“

„Dann sei doch bitte so lieb und hole mir ein paar Batterien aus dem Keller. Du weißt, dass ich dort ungern heruntergehe.“

„Ich auch“, dachte er sich. Hoffentlich befanden sich keine Menschenknochen an den Wänden.

Obwohl Willibald diese Übungen im Wachzustand mit wachsender Begeisterung ausführte und sich konzentriert die wunderbarsten optischen Veränderungen ausmalte, wurde er weiterhin von unkontrollierbaren, widerwärtigen oder klaustrophobischen Träumen geplagt. Wann würde endlich der Moment kommen, in dem er einen Traum als solchen erkannte und ihm seinen Schrecken nehmen konnte?

Einige Wochen später stand er in der riesigen Werkshalle seiner Firma, in der er schon seit geraumer Zeit als Industriemechaniker angestellt war. Normalerweise konnte er in Ruhe an seinem Arbeitsplatz vor sich hin werkeln und nebenbei interessante Beiträge über Astronomie auf seinem iPhone hören.

Doch heute hatte eine Begehung durch Vertreter aus der Chefetage stattgefunden, die sich Strategien überlegten, wie sie ihren Gewinn maximieren und die Personalausgaben minimieren konnten. Willibald war sich ziemlich sicher, dass kein Einziger von ihnen jemals für längere Zeit selbst mit den Händen körperlich anstrengende Arbeit verrichtet hatte.

Beim Anblick der mit seinem direkten Vorgesetzten plaudernden Männer stieg Wut in ihm auf. Ohne Menschen wie ihn wäre dieses ganze System längst zusammengebrochen, Menschen wie er hatten die teuren Anzüge der selbstgefälligen Fatzken mit ihrem Schweiß finanziert, und der einzige Dank für die jahrzehntelange Treue bestand darin, dass überlegt wurde, seinen Bereich auszulagern oder zu verkaufen.

Es war klar, dass er gerade wach war und arbeitete, aber dies war eine Situation, die ihn aufwühlte. Deshalb war sie wunderbar geeignet, um wieder seine Übung zu absolvieren. Grau war das Jackett des ihm unbekannten Vorstandsmitgliedes, ebenso grau dessen Hose. Willibald stellte sich deutlich vor, wie der gesamte Anzug in ein lächerliches Schweinchenrosa getaucht wurde und dem eitlen Herrn ein Schweineschwänzchen wuchs. Als das Bild stabil und deutlich vor ihm stand, öffnete er seine Augen wieder.

Wie erschrak er aber, als das Vorstandsmitglied in einem rosafarbenen Anzug vor ihm stand. Lächelnd reichte man ihm die Hand.

„Ich möchte mich im Namen des gesamten Vorstandes bei Ihnen für die langjährige gute Zusammenarbeit bedanken und wünsche Ihnen noch einen schönen Feierabend für heute!“

Wie war das möglich? Niemals würde ihm so ein abgehobener Neureicher die Hand schütteln oder sich gar persönlich bei ihm bedanken!

Der Herr im rosa Schweinchenanzug drehte sich um, und Willibald entdeckte ein kleines, gekringeltes Schwänzchen aus seiner teuren Hose hervorlugen.

Dann wurde es ihm schlagartig klar:

Er hatte es geschafft! Er hatte es zum allerersten Mal geschafft, mittels der neuen Realitätstesttechnik seines Kollegen einen Traum als solchen zu erkennen, und zwar mittendrin und ganz bewusst, noch lange vor seinem eigentlichen Ende und dem unausweichlichen Aufwachen.

Und es kam noch besser: Willibald erwachte nicht, er träumte weiter. Sein Wissen hatte ihn nach der Theorie nun auch zum uneingeschränkten Herrscher dieses Traumes gemacht.

Er ließ die Vorstandsmitglieder und den Verräter aus dem Betriebsrat einen nach dem anderen wie Seifenblasen zerplatzen. Plopp! Plopp! Plopp!

Aus der großen Fläche des Schalters wurde ein Videobildschirm. Technomusik dröhnte aus neu entstandenen Lautsprechern.

Willibald wollte noch ein paar junge Damen durch die Tür hereinkommen lassen, doch das ging nicht. Also beschloss er, die Werkshalle zu verlassen und den Tag warm und sonnig werden zu lassen, damit er am Fluss Rad fahren und angeln konnte.

Verblüfft stellte er fest, dass das Tor der Halle nicht mehr an seinem Platz war. Alle Türen waren verschwunden. Er setzte seine Technik der Visualisierung ein, doch so sehr er sich auch konzentrierte, die Türen wollten nicht mehr auftauchen. Immer, wenn er die Augen öffnete, waren sie wieder weg.

Jetzt wurde es ihm zu bunt und er beschloss, den Traum zu beenden. Aber wie?

„Ich will in meinem schönen, warmen Bett aufwachen!“, sagte er beschwörend zu sich selbst. Er presste die Augenlider sehr fest und sehr lange zusammen. Doch er befand sich immer noch in der großen, türlosen Halle. Er war ein Gefangener seines eigenen Traumes.

„Ich will aufwachen!“, rief er. Warum nur hatte er vergessen, seinen Kollegen zu fragen, wie man bewusst einen Traum beenden konnte?

Da kam ihm eine Idee: Er stach sich mit der Ecke des Schraubendrehers in die offene linke Handfläche und heulte vor Pein auf. Die Schmerzwelle ebbte ab. Willibald zählte leise bis drei, dann öffnete er bewusst nur das linke Auge. Er befand sich immer noch in der Halle und hielt immer noch den Schraubendreher in der rechten Hand.

Alles wirkte unheimlich real, keiner seiner Alpträume war bisher so realistisch, logisch korrekt und detailreich gewesen. Selbst der Schmerz in seiner Hand und die nun hervortretenden Blutstropfen konnten nicht echter wirken. Er führte die verletzte Hand dicht vor seine Augen und konnte jede einzelne Linie nachverfolgen.

„Ich will aufwachen!“, schrie er verzweifelt und donnerte mit dem Schraubendreher gegen das Gehäuse eines Schalters, dass es dumpf widerhallte.

Nichts geschah. Wieso konnte er sich nicht einfach wie so oft auf dem Laminatfußboden seiner Wohnung wiederfinden?

Der Ratschlag seines Kollegen war überhaupt nicht hilfreich gewesen, im Gegenteil! Er hatte ihm den schlimmsten Alptraum beschert, den er bislang gehabt hatte. Warum hatte er sich auch dazu überreden lassen, in seiner Einbildungskraft herumzupfuschen, anstatt zu einem Fachmann zu gehen? Willibald hatte sich quasi selbst einer Gehirnwäsche unterzogen, die ihn dazu gebracht hatte, Realität und Traum nun so sehr zu hinterfragen, dass er überhaupt nicht mehr erkennen konnte, was was war.

Gab es überhaupt einen Wachzustand, so wie er ihn zu kennen geglaubt hatte? Wenn er nun diesen Traumzustand mit Gewalt beendete, würde das dazu führen, dass er endgültig erwachte, oder würde es seinen Tod herbeiführen? Er musste Gewissheit haben.

Er stieg die Metalltreppe in der Halle hoch, bis er sich fünfzehn Meter über dem Boden befand. Der Fußboden bestand aus grauem, solidem Beton. Ein Aufprall aus dieser Höhe sollte ausreichen, um ihn entweder zu töten oder erwachen zu lassen.

Es kostete ihn enorme Überwindung, den Schritt ins Leere zu tun. Seine sonst recht schwindelfreien Beine wurden weich und wollten ihm den Dienst versagen. Dann verlor er das Gleichgewicht. Er schloss seine Augen nicht. Rasend schnell näherte sich der Boden. Doch der Aufprall blieb aus. Willibald glitt einfach durch eine Täuschung einer Barriere. Der harte, massive Beton bestand nur optisch, wie eine Projektion. Er beinhaltete keine Kräfte, die sein Gefüge stabilisierten. Wie hatte Willibald dann zuvor darauf stehen und laufen können? Hatte allein sein Glauben an die Festigkeit den Beton bestehen lassen?

Willibald begriff: Der Betonboden war die ganze Zeit über eine Illusion gewesen! Er sah zurück. Das Grau löste sich allmählich auf, der Boden wurde durchscheinend wie eine Seifenblase. Dahinter kam leerer Raum zum Vorschein. Willibald stürzte in diesen leeren Raum. Durch seine antrainierte Willenskraft gelang es ihm, seinen Sturz zu bremsen und stillzustehen. Kein Widerstand, kein Windhauch zeigte an, dass sich noch Luft um ihn herum befand. Er sah sich um, doch er konnte nichts entdecken, was auf das Vorhandensein seiner Arbeitsstätte in der näheren Umgebung schließen ließ. Nur ein paar sich langsam auflösende Schatten in zerfließenden Farben konnte er noch an den Rändern wahrnehmen.

Träumte er immer noch? Oder war das der Tod? Wie viel Zeit war vergangen? Gab es hier überhaupt so etwas wie Zeit?

Er würde sich seine Realität wieder neu erschaffen, zusammensetzen müssen. Stück für Stück. Es wäre besser für ihn gewesen, dachte er sich, nicht auf die Rückgewinnung der Kontrolle hingearbeitet zu haben. Doch wie sollte er noch einem Kollegen böse sein, von dem er sich mittlerweile nicht einmal mehr sicher sein konnte, ob er nicht auch Teil eines langen, sehr langen Traumes war?

Das, was er für die Realität gehalten hatte, war vielleicht ein jahrelanger Traum gewesen, dessen Beginn er verpasst hatte und dessen Ende ungewiss war. Die Illusion einer Außenwelt. Doch um ihn gab es nichts mehr davon.

Schließlich dämmerte ihm, was ihm seine Alpträume die ganze Zeit über hatten mitteilen wollen:

Dass sein ganzes Leben und alles, was er für unerschütterlich und beständig gehalten hatte, niemals real gewesen war. Es hatte sich lediglich um die Einbildung seines Gehirns gehandelt.

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