Читать книгу Leichte Beute - Ruth Broucq - Страница 5

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Wenn ich geglaubt hatte, Robert sei mein erster Besucher, so hatte ich mich gründlich geirrt. Am Tage der Entbindung ließ er sich nicht blicken. Allerdings war ich auch zu erschöpft, um mir darüber ernsthafte Gedanken zu machen. Im Grunde war ich froh, mich erholen und ausschlafen zu können, ohne belästigt zu werden.

Doch auch das war ein Irrtum.

In dem Krankenzimmer ging es rein und raus wie in einem Taubenschlag. Weder viel zu schlafen noch wirklich von den Strapazen zu erholen, war in dem 4-Bett-Zimmer möglich.

Babygeschrei, laute Gespräche, Geklapper und Gepolter, waren unglaublich störend. Durch Türen klappen, rein und raus, entstand zusätzlicher Rummel, es ging zu wie in einem Taubenschlag.

Entweder eine meiner Bettnachbarinnen bekam ihr Baby zum Stillen gebracht, oder Besucher der anderen Wöchnerinnen strömten ins Zimmer und störten die Erholung durch lachen und reden. Aber auch die Schwestern, die Medikamente brachten oder den Blutdruck und die Temperatur messen mussten, brachten Unruhe mit sich. So liebevoll und rücksichtsvoll die Ordenschwestern auch waren, ihr Gewurschtel und Geraschel störte mich. Von erholsamer Ruhe war nichts zu merken.

Hinzu kam noch, dass mein Baby wegen zu geringem Gewicht im Wärmebettchen bleiben musste, und ich deshalb nicht Stillen durfte. Allerdings zeigte mir eine Krankenschwester die Handhabung einer Milchpumpe, denn meine Milchproduktion funktionierte sehr gut. Der Milchfluss lief so heftig, dass ich oft abpumpen musste, weil die Kleine die Muttermilch auf jeden Fall bekommen sollte. Damit hatte ich eine langwierige, nervende Dauerbeschäftigung.

Als es am späten Abend endlich ruhig wurde, und die Nachtschwester ihre Medikamenten- und Kontrollrunde beendet hatte, schlief ich sehr schnell, total erschöpft ein.

Selbst die Frühstückszeit verschlief ich, und wurde erst sanft zum Betten machen, gegen zehn Uhr geweckt. Das Tablett mit dem Frühstück stand noch auf meinem Nachttisch, und ich fiel hungrig darüber her. Aber leider war kein Kaffee dabei, sondern Tee und der war auch noch kalt. Kalter Hagebuttentee, igitt. Ich griff zu der Flasche Wasser. Das tat gut. Zum ersten Mal fand ich Geschmack an Mineralwasser.

Als erste erschien meine Mutter, pünktlich zu Beginn der sonntäglichen Besuchszeit um 15 Uhr.

„Der Vati ist draußen, er kommt gleich mal kurz rein. Du weißt ja, dass er die Krankenhaus-Luft nicht verträgt“, entschuldigte sie ihr alleiniges Erscheinen.

„Wieso, ist die Luft hier dünner als draußen?“, konnte ich mir nicht verkneifen meinen Unmut zu zeigen.

„Ach, Kind, sei doch nicht so negativ. Hab doch mal ein bisschen Verständnis für ihn. Es ist doch schon mal ein Zeichen guten Willens, dass er überhaupt mitgekommen ist. Also sei du jetzt nicht stur“, kritisierte sie mich.

Im Stillen musste ich ihr recht geben. Eigentlich hatte ich gar nicht mit dem Besuch meines Stiefvaters gerechnet. Dass er nun trotzdem mitkam, war für sein ungehobeltes Wesen, und sein sonst so unhöfliches Verhalten, schon mehr als verwunderlich. Andrerseits war ich kotzsauer auf ihn, denn durch ihn drohte mir und meinem Baby, zukünftig ohne Dach über dem Kopf zu sein. Wie konnte meine Mutter da ausgerechnet von mir Verständnis und Nachsicht erwarten?

Ich verzichtete auf weitere Diskussionen über ein unerquickliches Thema, und berichtete den Ablauf der Geburt.

„So schnell ging das? Was hast du ein Glück gehabt! Zu dem Zeitpunkt war ich ja nicht mal bei den Woods, da war das Kind schon da? Donnerwetter“, staunte sie.

„Hab ich dir doch schon vor Monaten gesagt, solche Kleinigkeiten mach ich im Handumdrehen“, prahlte ich voller Stolz.

Robert erschien in Begleitung seiner Eltern, was mich echt erstaunte.

Familie Woods gute Herkunft zeugte von Anstand und gutem Benehmen, das musste ich anerkennend zur Kenntnis nehmen.

Als Robert mich mit einem Kuss begrüßte, ertrank ich in seiner ekelhaften Alkohol- Fahne, die einen Elefanten hätte umwerfen können.

„Puh, bist du noch von gestern besoffen, oder hast du noch gar nicht aufgehört zu saufen? Ist ja widerlich!“, zuckte ich zurück, und schüttelte mich.

„Das stimmt, es ist wirklich unmöglich, er riecht wie ein Schnapsfass. Furchtbar. Deshalb ist es gut, dass er bald zum Bund geht. Da wird man ihm mal zeigen, wo er seine Grenzen zu ziehen hat. Guten Tag Ruth“, stimmte Roberts Mutter mir zu. Ein Wunder, die Vornehme stellte sich auf meine Seite.

Sein Vater nickte nur, äußerte sich nicht dazu, reichte mir die Hand, und sagte lachend: „Guten Tag und meinen herzlichen Glückwunsch. Ein Mädchen also, das ist schön. Wir hatten bisher nur Jungs in der Familie. Können wir denn die Kleine gleich mal sehen? Wie heißt sie denn überhaupt?“

Herr Woods war der Erste der nach dem Namen fragte.

„Ramona“, gab ich erfreut Auskunft.

„Wie bitte? Ramona? Das gefällt mir aber gar nicht. Ich finde Bärbel oder Barbara viel schöner. Ich hätte immer gerne eine Bärbel gehabt“, kritisierte Frau Woods meine Entscheidung mit missbilligender Miene.

„Aber ich nicht!“, widersprach ich mit Nachdruck. „Wir wollen dass unser Kind einen Namen mit dem gleichen Anfangsbuchstaben hat wie wir auch. Und Bärbel fängt bekanntlich nicht mit R an“, verteidigte ich energisch mein Recht auf die Namensgebung.

„Ramona ist doch ein schöner Name“, wagte meine Mutter einzuwenden, was ihr einen bösen Blick der Kritikerin einbrachte.

Beleidigtes Schweigen von der Gnädigen, und die energische, kämpferische Haltung meiner Mutter, war das Ergebnis des kurzen Disputs.

Der Einwand meiner Mutter, und dazu der deutlich sichtbare soziale Unterschied dieser beiden Frauen, würde kaum zu einer Freundschaft führen können, das erahnte ich in diesem Moment schon.

So unterschiedlich die Herkunft unserer Mütter war, so grundverschieden waren die beiden Frauen auch äußerlich. Von der Körpergröße fast gleich, unterschieden sie sich sehr krass in ihrer Erscheinung.

Meine Mutter war klein, mit der groben, stabilen Figur einer einfachen Arbeiterin. Ihre Hände waren derb und fleischig, und von der körnigen Arbeiter-Handwaschpaste rau mit brüchigen, spröden Fingernägeln. In den Hautporen blieb immer restlicher dunkler Schmier zurück, der sich von dem öligen, schmutzigen Schleiferschmiere in der rissigen Haut festsetzte. Die dunkle, braun-gelbe Färbung auf der Innenseite des rechten Zeige-und Mittelfingers, verrieten die starke Raucherin filterloser Zigaretten.

Auch ihre gelblich-graue Haut mit der strengen Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen, zeugte von ständigem Aufenthalt in sauerstoffarmer, stickiger Fabrikluft. Ihr brünettes, glanzloses, stumpfes Haar hatte weder Form noch Schnitt, und der Rest einer alten Dauerwelle, ließ auf seltene fachliche Pflege schließen.

Die billige, geschmacklose Kleidung rundete das Bild der einfachen Lebensweise ab.

Frau Woods wirkte dagegen wie eine feine Porzellan-Puppe. Mit ihrer vornehmen Kaffeehaus-Blässe in dem von teueren Cremes gepflegtem Gesicht, sah ihre helle Haut glatt und geschmeidig aus. Obwohl über dem unproportional kleinen Mund, ihre große Hakennase das Gesicht dominierte, war die vornehme Dame zwar keine Schönheit, aber eine attraktive Erscheinung. Ihr kühler Blick aus den grau-grünen Augen war immer distanziert und wirkte hochnäsig und herablassend. Der gepflegten Blondine sah man deutlich die regelmäßige, fachgerechte Behandlung ihrer Kurzhaarfrisur an. Auch die zarten Hände mit den schönen langen, rosa lackierten Nägeln, ließen auf keinerlei Anstrengung sondern lediglich leichte Büroarbeit schließen. Teure, geschmackvolle Kleidung rundete letztendlich den Eindruck ihrer gutsituierten Lebenslage ab.

Bei aller Liebe zu meiner Mutter, und Respekt vor der Vornehmen, mir war sofort klar, dass ich weder wie die eine noch wie die andere werden wollte. Kein Zierpüppchen, aber auch kein Arbeitspferd.

Ich nahm mir im Stillen vor, darauf zu achten, dass ich mich weder mit niederen Arbeiten belasten und abrackern, noch auf eine Säule der Überheblichkeit, als Dekoration, stellen wollte. Ich würde einen Mittelweg finden, der mir Glück, Wohlstand und Unabhängigkeit brächte. Davon war ich überzeugt.

Das Eintreffen meines Vaters unterbrach die peinliche Situation.

„Tach. Wie geht et? Wo kann ich denn datt Kind sehen?“, war alles was der Bauerntrampel von sich gab. Aber er rettete die betretene Stimmung.

Sofort stimmten alle Anwesenden zu.

„Auf dem Gang links ist das Säuglingszimmer. Die Babys zeigen sie an dem Fenster, hat die Schwester gesagt. Leider kann ich nicht mitgehen, ich darf noch nicht aufstehen“, bedauerte ich.

Gemeinsam gingen meine Besucher hinaus, und ich blieb mit der Erwartung zurück, was sie wohl zu dem Schrumpelchen sagen würden.

„Die ist aber sehr klein“, war die vorwurfsvolle Beurteilung meiner zukünftigen Schwiegermutter. „So, nun wollen wir auch nicht länger stören, dann erhole dich mal gut“, verabschiedete Frau Woods sich auch gleich, und sah ihren Gatten auffordernd an.

Roberts Vater schüttelte mir die Hand, lachte wieder freundlich, und sagte bedauernd: „Tja dann muss ich wohl mit. Ich wünsche auch noch erholsame Tage, und besuch uns bald mit der Kleinen.“

Wenn Blicke hätten töten können, wäre der giftige Blick seiner Ehefrau, wohl des netten Herrn Woods Todesurteil gewesen.

Die Dame war unübersehbar nicht begeistert, von der Einladung ihres Gatten.

Der kurze Höflichkeits-Besuch war beendet, worüber ich allerdings nicht traurig war.

Auch meine Eltern verabschiedeten sich, kurz nachdem die Woods gegangen waren. Meine Mutter meinte: „Kind, wir machen uns auch mal auf den Weg. Der Vati kann ja den Krankenhaus-Geruch sowieso nicht lange vertragen, und wir können den nächsten Bus gerade eben noch erreichen. Ich komme morgen wieder.“

Als Robert etwas sagen wollte, fuhr ich ihm gleich über den Mund: „Wenn du jetzt auch eine Ausrede hast, um vorzeitig abzuhauen, bin ich kotzsauer. Die Besuchszeit ist erst in einer halben Stunde zu Ende. So lange wirst du es wohl noch aushalten?“, knurrte ich verärgert.

„Klar. Mach mal keine Welle. Ich wollte doch noch gar nicht abhauen“, dementierte er, und ich sah ihm an dass er log.

Am Ende der Besuchszeit war ich allerdings froh, wieder alleine zu sein, denn ich hatte die ganze Anstrengung noch nicht ganz verarbeitet.

Der nächste Tag brachte mir die Nachricht, dass ich meine Tochter nach meiner Entlassung noch nicht mitnehmen konnte, weil sie Untergewicht hatte. Die Klinik musste solch leichtgewichtige Säuglinge erst auffüttern, bis sie 2500 Gramm erreicht hatten. Die Kinderärztin erklärte mir, dass ich aber weiterhin meine Milch abpumpen und täglich ins Krankenhaus bringen müsse, um das Kind mit natürlicher Nahrung besser aufpäppeln zu können. Sie versicherte mir allerdings, dass es sich nur um eine kurze Zeit handeln könne, bis Ramona das erforderliche Gewicht erreicht habe, damit die Kleine mit nach Hause dürfte.

Nach Hause? Wohin? Das war ja noch ungewiss. Doch das verschwieg ich natürlich.

Aber deshalb kam diese Nachricht für mich gerade richtig, so konnte ich erst einmal die Lage erkunden, um mich nach einer neuen Wohnmöglichkeit umzusehen.

In Gedanken ging ich schon mal alle räumlichen Verhältnisse meiner Verwandten durch.

Die winzige Zweizimmerwohnung meiner Oma kam nicht in Frage, die bot kaum Platz für eine Person. Oma hatte nicht einmal eine abgeschlossene Wohnung. Sie teilte sich eine Etage mit einer anderen dreiköpfigen Familie. Von insgesamt fünf Räumen, hatte meine Oma lediglich zwei weit auseinander liegende Zimmer, sodass sie immer über den gemeinschaftlichen Treppenflur musste, um in einen ihrer Räume zu gelangen. Außerdem war das Schlafzimmer nicht beheizbar, und die kleine Wohnküche war sehr eng. Außer einem Esstisch mit zwei Stühlen, gab es noch ein schmales Sofa, ein altmodisches Küchenbuffet, und einen Kohleofen. Ein Zweiplatten-Elektrokocher, neben dem kleinen Waschbecken, diente zum kochen. Die Toilette befand sich eine Treppe tiefer im Flur, und wurde auch von ihren Flurnachbarn mitbenutzt.

Also kein Platz für mein Baby und mich.

Tante Jule war zwar eine sehr lustige Frau, und mit deren kleiner Tochter Ingrid verstand ich mich sehr gut, aber ich mochte Tante Jules Mann nicht. Onkel Josef war unfreundlich und geizig, der sonntags sogar den Kuchen versteckte, wenn Verwandte zu Besuch kamen, und denen nur abgestandenen, aufgewärmten Kaffee anbot. Zudem bewohnten die drei nur die Hälfte eines winzigen Fachwerkhauses, in der wirklich jede kleinste Ecke genutzt war, und in dem kaum Platz war, sich um die eigene Achse zu drehen. Also fiel auch diese Behausung als Unterkunft für uns aus.

Bei Tante Klara gab es zwar mehr Zimmer, allerdings auch so viele Personen, dass deren 9 Kinder sich schon zu dritt ein Bett teilten. Auch das Elternschlafzimmer war so voll gestellt, dass man sich an dem schmalen Bett vorbei quetschen musste, so eng war der Durchgang. Nach einer schönen Familienfeier, hatte ich als Kleinkind einmal dort übernachtet, das war mir noch in unangenehmer Erinnerung, weil ich kaum hatte schlafen können. Mit drei älteren Cousinen in einem Doppelbett, war alles andere als bequem gewesen. In dieser Nacht war ich häufig aufgewacht. Tante Klaras Wohnung kam als Zufluchtsort demnach auch nicht in Frage.

Blieb nur Tante Hilde. Ja, das war die einzige Möglichkeit. Ihre Wohnung auf dem Bauernhof, war zwar nicht groß, aber es gab noch das ehemalige Kinderzimmer, meiner erwachsenen Cousine Anne. In der kleinen Kammer, hatte ich in Kindertagen des Öfteren geschlafen, und mich dort sehr wohl gefühlt. Das war die Rettung, dann konnte ich mich um meine Lieblingstante auch ein wenig kümmern, und deren Lebensgefährten, Onkel Hans, entlasten. Ein Lichtblick.

Als ich meinem Freund meine Überlegungen erzählte, ihn um Rat fragte, weil ich mir von ihm Unterstützung erhoffte, wurde ich schwer enttäuscht.

Robert kümmerte mein Problem wenig, er könne sich damit jetzt nicht befassen, ich müsse mir auch schon selbst helfen, war sein ablehnender Kommentar. Robert hatte nur seinen Antritt beim Bund im Kopf. Er schimpfte und fluchte, man habe ihn verarscht. Zur Panzer-Artillerie habe man ihn befohlen, obwohl er sich nur deshalb freiwillig gemeldet hatte, weil er Fallschirmspringer werden wollte. Jetzt müsse er zu einer Waffengattung, die ihm gar nicht gefiel. Der Kerl war so missmutig, dass ihm meine Probleme völlig egal waren. Schöne Stütze! Wir machen das schon, hatte Robert am Anfang gesagt. Das hieß also nun, du machst das schon!

Meiner Mutter war ich offenbar nicht egal. „Natürlich kommst du nach Hause. Mach dir mal keine unnötigen Sorgen“, sagte sie mit felsenfester Stimme. „Der Vati hat schon gefragt, wann du entlassen wirst. Es wird schon alles gut werden.“

Zwar konnte ich noch nicht nachvollziehen, wie das letztendlich gemeint war, denn, dass der Alte sich Gedanken meinetwegen machte, war nicht glaubhaft. Aber zumindest hatte ich vorerst noch ein Dach über dem Kopf, um in Ruhe nach einer Wohnmöglichkeit zu suchen.

Ich sprach meine Überlegungen aus: „Meinst du ich könnte Tante Hilde mal fragen, ob wir vorübergehend zu ihr ziehen können? Wenigstens bis ich eine dauerhafte Bleibe gefunden habe?“, fragte ich meine Mutter.

Ihr Gesicht verdunkelte sich, als sie nach einer beklemmenden Pause leise gequält erwiderte: „Ach das wollte ich dir eigentlich noch nicht sagen, aber die Hilde ist vorgestern beerdigt worden.“

Geschockt fuhr ich hoch, schrie entsetzt auf: „Nein! Sie ist tot? Mutti, das darf doch nicht wahr sein“, und die Tränen schossen mir aus den Augen und liefen mir übers Gesicht.

Die Hilflosigkeit meinem Gefühlsausbruch gegenüber, veranlasste meine Mutter wohl zu der harten Aussage: „War doch besser für sie. Sie war ja nur noch ein Häufchen Elend, aus Haut und Knochen. Sie wäre doch nie wieder auf die Beine gekommen. Den Tumor konnten die Ärzte nicht entfernen. Jetzt ist sie wenigstens von ihren langen Qualen erlöst.“

Noch lange nachdem meine Mutter das Krankenhaus verlassen hatte, konnte ich mich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass meine Lieblingstante, mit gerade 45 Jahren, hatte sterben müssen. Es war das erste Mal, dass mir der Tod so nahe gekommen war. Immer wieder kamen mir die Tränen, lange konnte ich mich nicht beruhigen.

Noch vor dem Einschlafen holte mich die reale Überlegung an mein eigenes Problem ein, dass ich mich wohl an Ämter und Wohlfahrtsverbände würde wenden müssen, um mit meinem Kind eine Unterkunft zu finden. Es war ein qualvoller Abend, bis ich endlich einschlief.

Nach sieben Tagen durfte ich das Krankenhaus verlassen. Robert hatte sich seines Vaters Auto geliehen, um mich abzuholen.

„Schön dass du endlich raus bist, Ruthchen. Nur Scheiße dass es noch hell ist. Ich bin so geil, es wird echt Zeit mal wieder zu ficken. Hoffentlich ist es bald dunkel genug, dass..“

„Spinnst du?“ unterbrach ich ihn barsch. „Ich blute noch wie Sau, schließlich ist die Geburt erst eine Woche her. Ich darf noch nicht poppen, erst in sieben Wochen. Acht Wochen hat eine Frau nach einer Niederkunft Schonzeit. Spinner, denkst nur ans poppen.“, sagte ich verächtlich.

„So ein Mist. Und was mach ich jetzt? In ein paar Tagen muss ich zum Bund. Dann bin ich erst einmal mindestens sechs Wochen weg. In der Grundausbildung gibt es keinen Heimaturlaub. Soll ich ständig wichsen? Wofür hab ich dich denn?“, brummte er sauer.

„Das ist mir genau so egal, wie es dir egal ist, wo wir bleiben“, gab ich ihm Kontra. „Oder hast du dir mal die Mühe gemacht, dich für uns umzusehen? Schließlich ist Ramona auch dein Kind.“

„Was kann ich dafür, dass du so Scheiß Eltern hast. Meine Alten würden mich nicht rauswerfen“, maulte er beleidigt.

Ich lachte frustriert, als ich erklärte: „Kein Wunder, ein Kerl macht die Kinder auch nur, aber er bringt sie nicht mit nach Hause. Möchte nicht wissen, wie besonders deine Mutter reagierte, wenn du ihr dein Kind dalassen wolltest. Ohne Verantwortung, oder ne Beteiligung an der Arbeit, ist es leicht großspurig zu reden.“

Mit der Ausrede, er müsse das Auto zurück geben, setzte Robert mich lediglich vor unserem Haus ab, und fuhr los ohne Angabe, wann ich ihn wiedersähe.

Ich war froh nach Hause zu kommen, was ein seltsames, neues Gefühl für mich war, weil ich noch nie länger, als eine Nacht, woanders verbracht hatte.

Aber es konnte auch an der friedvollen Stimmung, und der Nettigkeit meiner Familie liegen, die sich inzwischen so positiv gedreht hatte. Meine Mutter war plötzlich auf lockere, fröhliche Art redselig, der Alte machte ein freundliches Gesicht, und sogar meine Schwester erkundigte sich nach Ramonas Gewicht, und fragte mich über den Verlauf der Geburt aus. Nur meine Oma war normal wie immer. Ansonsten schienen alle um mein und Ramonas Wohl besorgt zu sein. Fast glaubte ich zu träumen, oder in der falschen Wohnung gelandet zu sein.

Robert sah ich nur ganz kurz, er kam lediglich um sich zu verabschieden, bevor er den Zug nach Idar-Oberstein nehmen musste. Irgendwie berührte mich der Abschied gar nicht, es war mir egal. Zu sehr hatte er mich enttäuscht, weil er mir seinen Egoismus bewiesen hatte, mir klar geworden war, dass ich von ihm sowieso keine Hilfe zu erwarten hatte.

Außer der täglichen Fahrt, zu der Klinik in die Nachbarstadt, um mein Abpumpergebnis abzuliefern, wurde nichts von mir verlangt. Ich konnte mich eine Woche lang erholen. Es gab keinerlei Anstrengungen, was mich zur Faulheit, und Vernachlässigung der wichtigen Wohnungssuche, verleitete.

Dann wurde ich mit einer wundersamen Überraschung konfrontiert.

„Wie ist es denn mit der Kleinen? Wann kannst du sie denn abholen?“, fragte meine Mutter eines Abends unvermittelt.

„Wie abholen? Warum? Ich bin froh dass sie noch dableiben kann. Schließlich weiß ich noch nicht wohin“, reagierte ich erstaunt.

„Unsinn, natürlich hier hin. Der Vati hat auch schon gefragt, wann die Kleine endlich nach Hause darf. Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass wir euch im Stich lassen? Blödsinn!“, sagte sie fest.

Es verschlug mir die Sprache. Am liebsten hätte ich sie umarmt und gedrückt, aber ich ließ es, weil ich ihre Abneigung gegen derartige Gefühlsausbrüche zur Genüge kannte.

Am nächsten Tag ging meine Mutter mit mir einkaufen. Sie kaufte die komplette Baby-Ausstattung, Kleidung, Windeln, sogar ein Babybettchen und den Kinderwagen. Auch Fläschchen und Nahrung, weil mein Milchfluss langsam versiegte. Ich war total sprachlos. Das war allerdings auch Rettung in letzter Sekunde, denn bereits am nächsten Tag offerierte man mir im Krankenhaus, dass Ramona abholbereit sei, ich möge am nächsten Tag Babykleidung mitbringen.

„Morgen ist es endlich soweit? Dann nehme ich mir frei und komme mit“, freute sich meine Mutter, und strahlte übers ganze Gesicht.

Ich konnte ihre Veränderung kaum glauben, denn sehr lange hatte ich sie nicht mehr lachen gesehen. Immer nur mit ernster Miene, die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen zusammen gezogen, und kaum ansprechbar, hatte sie meist nur ablehnende, knappe Antworten gegeben, und nun diese offene, überschwängliche Freude? Unglaublich.

Ich nahm es mit stiller Freude, aber auch mit Skepsis hin, hoffte, dass die fröhliche Stimmung im Hause lange anhalten werde.

Sie rüttelte mich früh wach, warf mich fast aus dem Bett, dass mir die erwartungsvolle Vorfreude meiner Mutter, nun wirklich schon zu viel war, aber ich zwang mich zu guter Miene.

Viel zu früh kamen wir in der Klinik an, sodass wir noch warten mussten. In das Säuglingszimmer durften wir nicht hinein, deshalb nahm die Schwester die Tasche mit der Babykleidung entgegen, und bat uns um Geduld. Nach fast einer Stunde kam sie zurück, und erging sich in langen Erklärungen bezüglich der Ernährung, und den Zeitabständen zwischen den Fütterungen.

Endlich brachte eine andere Ordensschwester meine Tochter, legte sie sorgfältig in den mitgebrachten Kinderwagen, und wünschte uns zum Abschied alles Gute.

Die lange Heimfahrt verschlief die kleine Ramona selig, bis wir nach fünfundvierzig Minuten endlich zu Hause ankamen. Dort wurden wir schon sehnsüchtig von meiner Oma erwartet, die ihre Urenkelin nun zum ersten Mal sah.

Während ich mit dem Säugling umging, als mache ich das nicht zum ersten Mal, tat meine Mutter sich doch etwas schwer mit dem zierlichen Wesen.

„Kann man denn so etwas verlernen, Mutti? Du hast uns doch auch gefüttert und gewickelt, das müsstest du doch eigentlich können“, flachste ich, und übernahm ganz selbstverständlich das Wickeln, weil meine Mutter sich etwas ungeschickt anstellte.

Durch meine Furchtlosigkeit wuchs mein Selbstvertrauen.

Leichte Beute

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