Читать книгу Miryams Geheimnis - Ruth Gogoll - Страница 10

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Ella wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Vielleicht hatte sie sich auch nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht. Aber als Miryam von ihrem Haus gesprochen hatte – auch wenn sie gesagt hatte, es wäre ein großes Haus –, hatte Ella sich nicht gerade dieses Fast-Schloss vorgestellt, in dem sie jetzt angekommen waren.

Geradezu entgeistert blickte sie sich in der Eingangshalle um. Sie saß in einem Rollstuhl, den Miryam besorgt hatte, denn weder konnte Ella ihr rechtes Bein belasten noch ihre rechte Schulter. Das hieß, sie konnte sich auch nicht an Krücken durch die Gegend schwingen.

»Silly? Wo bist du?«, rief Miryam die Treppe hinauf, während sie die Handschuhe, die sie beim Autofahren getragen hatte, abstreifte.

Allein schon diese Treppe hätte den Umfang von Ellas Wohnung gesprengt. Aus dieser Eingangshalle, die man wirklich als nichts anderes als eine Halle bezeichnen konnte, denn sie hatte mindestens die Größe eines luxuriösen Autosalons, schwang sie sich im hinteren Bereich nach oben wie in einer Gemäldegalerie.

Der Eindruck war auf jeden Fall zutreffend, denn es hingen tatsächlich mehrere Gemälde an der weiß gestrichenen Wand hinter der Treppe. Große Gemälde. Und wahrscheinlich sehr teure. Sie sahen nicht aus, als stammten sie aus einem Kaufhaus. Einige davon mussten mindestens zwei mal drei Meter groß sein. So etwas hatte Ella noch nie gesehen.

»Silly«, rief Miryam noch einmal. Sie ging auf die Treppe zu und stellte einen Fuß auf die unterste Stufe, während sie hinaufblickte. »Bist du da oben?«

Endlich rührte sich etwas. Am oberen Rand der Treppe zeigte sich eine Bewegung. Ein junges Mädchen in Ellas Alter trat auf dem Absatz nach vorn und blickte gelangweilt in die Halle hinunter. Sie sagte nichts, sah aber aus, als hätte sie sich nur widerwillig von dem losgerissen, was auch immer sie gerade getan hatte, und fühlte sich von der Aufforderung ihrer großen Schwester ausgesprochen gestört.

»Ich habe jemanden mitgebracht«, erklärte Miryam, ohne sich von der Stimmung ihrer jüngeren Schwester beeinflussen zu lassen. »Das ist Ella Cziebinsky.« Mit einem ausgestreckten Arm wies sie auf Ella, die sich in ihrem Rollstuhl hier unten in der überdimensionalen Halle ziemlich verloren vorkam. »Sie wird jetzt für eine Weile bei uns wohnen.«

Das schien ihre Schwester etwas aus ihrer Lethargie zu reißen, und sie kam langsam die Stufen herunter. Fast wie auf einer Showtreppe setzte sie Schritt vor Schritt, als inszenierte sie einen Auftritt. Immer noch sagte sie nichts, sondern starrte Ella nur an, als versuchte sie, sich darüber klarzuwerden, was zur Hölle dieses exotische Tier in ihr Zuhause getrieben hatte.

Ella hatte den Eindruck, diese Art von Verhalten war Miryam schon gewöhnt, denn sie kümmerte sich nicht darum. »Sie braucht ein bisschen Hilfe«, setzte sie ihre Erklärung fort. »Sie hatte einen Unfall. Deshalb kann sie im Moment weder ihr Bein noch ihren Arm richtig benutzen.«

Endlich hatte Silly ihren Auftritt beendet und trat neben ihre Schwester, die jetzt von der Treppe zurückgetreten war und wieder in der Halle stand.

»Das ist meine Schwester Selina«, stellte Miryam völlig unbeeindruckt von der ablehnenden Haltung, die Selina ausstrahlte, vor, als befänden sie sich auf einem Sektempfang. »Ihr beide werdet jetzt die meiste Zeit miteinander verbringen, denn ich muss ja arbeiten.«

Na, das kann ja heiter werden! dachte Ella. Sie hasst mich. »Guten Tag«, sagte sie, höflich, wie sie war.

Selina starrte sie jedoch nur an und sagte nichts. Und auch das Anstarren hielt nur eine kurze Weile, dann schweifte ihr Blick höchst desinteressiert durch das Riesenfenster an der linken Seite hinaus. In der Tat war es nicht nur ein Fenster, sondern die halbe Wand war aus Glas. So hoch, dass Ella den Eindruck hatte, sie führte bis in den oberen Stock hinauf.

Auch Miryams Blick war mit etwas anderem als Ella beschäftigt. Sie betrachtete nachdenklich die Treppe. »Selbst wenn wir einen Treppenlift hätten, wäre das im Moment wohl nicht machbar«, murmelte sie vor sich hin. Immer noch in Gedanken versunken wanderte ihr Blick zu Ella hinunter. »Dann müssen wir mein Büro nehmen.«

Ungläubig lachte Selina auf. Es klang fast wie ein Prusten. »Dein Büro? Dein heiliges Büro?«

»Es ist nicht heilig«, gab Miryam trocken zurück. »Ich will nur nicht, dass du Sachen daraus entfernst, nach denen ich dann stundenlang suchen muss.«

Auf diese Aussage gab Selina nur ein abschätziges Geräusch von sich. »Sachen, die du gar nicht benutzt«, warf sie ihrer Schwester herausfordernd hin.

»Das spielt keine Rolle.« Miryam sah sie strafend an. »Es sind meine Sachen, nicht deine.«

»Und du denkst, sie«, Selinas dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie Ella nun erneut anstarrte, »tut das nicht?«

Miryams Mundwinkel verzogen sich liebenswürdig, wenn auch etwas herablassend lächelnd. »Nein, ich glaube, sie tut das nicht.« Mit einem aufmunternden Gesichtsausdruck wandte sie sich nun wieder an Ella. »Mein Büro ist hier unten«, erklärte sie. »Das ist einfacher mit dem Rollstuhl. Es hat auch ein angeschlossenes Bad.«

Was auch sonst? dachte Ella. Dieses Haus konnte zehn Bäder haben, und man würde sie trotzdem kaum finden. »Was ist mit Inka?«, fragte sie mit besorgt verzogenem Gesicht. »Ich muss sie abholen.«

»Das mache ich schon.« Miryam nickte ihr zu. »Und Silly kann sich währenddessen schon einmal um Sie kümmern.«

»Ich?« Entsetzt riss Selina die Augen auf.

»Ja, du«, bestätigte Miryam jetzt wieder lässig. »Weil ich nicht hier sein werde. Aber Frau Molitor ist ja bestimmt auch noch da, oder?«

»Dann kann sie sich ja kümmern«, stellte Selina sofort fest und wandte sich schon wieder zur Treppe. »Ich gehe nach oben.«

»Oh nein«, widersprach Miryam befehlend. »Du bleibst da.« Sie begab sich unter der Treppe ein paar Schritte nach hinten. »Frau Molitor?«, rief sie. »Sind Sie hier?«

Es dauerte vielleicht ein oder zwei Minuten, dann hörte Ella Schritte. »Ich wusste nicht, dass Sie nach Hause gekommen sind«, sagte die etwas erstaunte Stimme einer anscheinend älteren Frau. »So früh schon.«

»Ja.« Miryam nickte und kam jetzt wieder zu Ella und Selina zurück. »Ich habe jemanden mitgebracht. Das ist Frau Cziebinsky. Könnten Sie bitte mein Büro für sie als Schlafzimmer herrichten? Sie kann nicht die Treppe hinaufgehen, weil sie sich den Knöchel gebrochen hat.«

»Oh, das tut mir leid«, bedauerte Frau Molitor sofort und kam hinter Miryam auf Ella zu.

»Das ist Frau Molitor, meine Haushälterin«, erklärte Miryam beiläufig in Ellas Richtung, ging aber an ihr vorbei auf die Haustür zu. »Und ich hole jetzt den Hund.«

Zack! war sie draußen, und Ella blieb mit Selina und Frau Molitor allein zurück.

»Herzlich willkommen«, begrüßte Frau Molitor Ella nun freundlich lächelnd. Sie reichte ihr die Hand. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen.«

Zum ersten Mal in diesem Haus empfand Ella so etwas wie Wärme. Sie nahm die Hand mit ihrer linken und lächelte zurück. »Danke. Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache.«

Es schien, als ob Frau Molitors Augenbrauen überrascht nach oben zucken wollten, aber dann blieb es bei dem Versuch. »Das sind keine Umstände«, behauptete sie fast schon vergnügt. »In Frau Marholds Büro steht eine große Couch, auf der sie sogar selbst schon geschlafen hat. Die ist recht bequem.« Sie wies mit einer Hand auf Ellas Fuß. »Was ist Ihnen denn passiert?«

Ella zuckte die Schultern. »Ehrlich gesagt weiß ich das nicht so genau. Ich war mit meinem Roller auf der Straße unterwegs, es hat geregnet, und dann kam ein Auto von hinten und plötzlich lag ich im Graben. Das habe ich gar nicht richtig mitbekommen.«

»Das Auto hat Sie angefahren?« Frau Molitors Augenbrauen zogen sich zusammen.

Wieder zuckte Ella die Achseln, soweit sie das konnte. »Noch nicht einmal das weiß ich ganz genau. Ich kann mich an nichts erinnern.«

Missbilligend schüttelte Frau Molitor den Kopf. »Das heißt, Sie können denjenigen noch nicht einmal zur Verantwortung ziehen?«

»Wohl nicht«, bestätigte Ella. Sie lachte leicht resigniert. »Aber selbst wenn ich das könnte, könnte ich jetzt trotzdem nicht laufen.«

Miryams Haushälterin schaute sie beinah etwas verwundert an. »Sie sind ihm nicht böse?«

»Das würde mir doch auch nicht helfen.« Tief atmete Ella ein und aus. »Was passiert ist, ist passiert. Das kann ich nicht mehr rückgängig machen.«

Wenn Frau Molitor Kinder hatte, dann war das, was sie jetzt zeigte, vermutlich das Lächeln, das ihren Kindern signalisierte, dass sie zufrieden mit ihnen war. »Ich werde das Büro vorbereiten«, kündigte sie an. »Solange kann Selina Ihnen ja den Rest des Hauses zeigen und den Garten.« Sie warf einen auffordernden Blick auf Selina, drehte sich dann um und verschwand wieder unter der Treppe nach hinten.

»Du musst das nicht tun«, sagte Ella sofort. Da Selina in ihrem Alter war, duzte sie sie, ohne darüber nachzudenken. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Frau Molitor Selina im Gegensatz zu ihrer Schwester mit dem Vornamen angesprochen hatte und wahrscheinlich ebenfalls duzte. »Ich kann hier einfach auf Frau Molitor warten.«

»Könntest du«, erwiderte Selina anscheinend ziemlich sauer. Auch sie schien keinen Sinn darin zu sehen, Ella zu siezen. »Aber ich muss das hinterher ausbaden. Nein danke. Dann zeige ich dir lieber das Haus.«

Ehrlich gesagt hätte Ella nicht gedacht, dass Selina das tun würde, jetzt, wo Miryam aus dem Haus war und auch Frau Molitor sich zurückgezogen hatte. Doch obwohl Selina sich wie ein verzogener Teenager benahm, gab es in diesem Haus anscheinend einige Regeln, an die sie sich hielt. An die sie sich gegen ihren Willen halten musste. Das überraschte Ella ziemlich nach dem Auftritt, den Selina eben hier hingelegt hatte. Als wäre sie die Königin von Saba.

»Das Haus ist sehr groß«, sagte sie. »Und ihr lebt hier ganz allein?«

Selina nickte. »Es ist das Haus unserer Eltern. Wir haben es geerbt«, antwortete sie gleichgültig. Sie entfernte sich ein paar Schritte von Ella, drehte sich aber wieder zu ihr um, als sie merkte, dass Ella ihr nicht folgte.

Entschuldigend zuckte Ella die Schultern. Beziehungsweise eine Schulter. »Tut mir leid, aber ich kann den Rollstuhl nicht allein bewegen. Ich habe keine Kraft im rechten Arm.«

»Das heißt, ich muss dich schieben?« Genervt rollte Selina die Augen.

Ella nickte. »Das musst du wohl. Beziehungsweise du musst natürlich nicht, wie ich schon sagte.«

Verärgert atmete Selina fast seufzend aus. »Doch, ich muss. Glaub mir, ich muss.« Widerstrebend kam sie zu Ella zurück und trat hinter ihren Rollstuhl. »Also dann schnallen Sie sich mal an und genießen Sie die Fahrt!«

Im nächsten Moment wünschte Ella sich, sie hätte wirklich Anschnallgurte gehabt. Selina machte eine Art Seifenkistenrennen aus der Fahrt, je schneller, desto besser.

Mit ihrem gesunden Arm hielt Ella sich an der Armlehne des Rollstuhls fest, mit dem anderen musste sie einfach auf ihr Glück hoffen, dass sie nicht in irgendeiner Ecke landen würde, weil Selina den Rollstuhl nicht mehr halten konnte. Dann würde sie sich den Arm wahrscheinlich noch einmal brechen.

Wie ein Pferd, das ein Hindernis verweigert, stemmte Selina plötzlich die Füße in den Boden und hielt an. Dass Ella nicht nach vorn aus dem Rollstuhl flog, war ein reines Wunder. Sie atmete etwas schwer von der Anstrengung, sich nicht nur die ganze Zeit, sondern jetzt zum Schluss sogar noch besonders krampfhaft festhalten zu müssen.

Es schien, als hätte Selina davon überhaupt nichts bemerkt. »Das hier ist das Wohnzimmer, wie du dir vielleicht denken kannst«, erklärte sie, während sie an Ella vorbei auf einen großen Kamin an der Wand zutrat. »Der ist nicht echt, wird mit Gas betrieben.« Ihre Stimme klang gelangweilt bis abschätzig. »Angeblich gemütlich, sagt Miry.«

»Bestimmt gemütlich«, bestätigte Ella. Ihre Stimme klang im Gegensatz zu der von Selina bewundernd.

Nachdem sie sich von der rasenden Fahrt erholt hatte, konnte sie nun endlich ihren Blick durch diesen Raum schweifen lassen, der ihr fast so groß erschien wie die Eingangshalle. Doch im Gegensatz zu der Halle kam man sich hier nicht wie in einem Veranstaltungssaal oder in einer Galerie vor.

Das mit der Galerie stimmte nicht so ganz, denn auch hier hingen Bilder an den Wänden, die wahrscheinlich nicht billig gewesen waren, vorsichtig ausgedrückt. Zwar war Ella keine Kunstkennerin, aber solche Bilder, davon ging sie aus, kaufte man nicht im Dutzend oder als Meterware.

Vor dem Kamin standen mehrere Sessel im altenglischen Stil. Das ganze Zimmer war so eingerichtet, mit Antiquitäten, die vom Preis her auf jeden Fall zu den Bildern an den Wänden passten.

Im Gegensatz zu der lichtdurchfluteten Halle mit der Glaswand war das hier jedoch ein eher schattiger Raum, hauptsächlich in Brauntönen und dunklen Rottönen gehalten, mit einigen helleren Details, damit es nicht eintönig oder bedrückend wirkte. Die Einrichtung war ausgesprochen stimmig, nichts schien zu fehlen und alles schien am richtigen Platz zu sein.

»Hier kann man sich bestimmt wohlfühlen«, sagte Ella leise. »Abends am Kamin . . . mit einem Buch in der Hand . . .«

»Mit einem Buch?« Selinas Kommentar zu Ellas Aussage klang ziemlich entgeistert. »Du liest Bücher?«

Das riss Ella aus ihrer etwas verträumten Stimmung in die Wirklichkeit zurück. »Deine Schwester sagte, du studierst«, entgegnete sie und blickte zu Selina hoch. »Da musst du doch auch Bücher lesen.«

»Aber doch nicht in Papierform.« Herablassend schüttelte Selina den Kopf. »Ich mache das alles auf dem Tablet.«

In Gedanken musste Ella zugeben, dass die Vorstellung, mit einem Tablet vor dem Kamin zu sitzen, nicht ganz so romantisch war und nicht ganz so viel Gemütlichkeit ausstrahlte wie die, mit einem echten Buch vor dem flackernden Feuer zu sitzen und die wechselnden Schattenspiele auf den gedruckten Seiten zu verfolgen, aber zum Schluss war Lesen wohl Lesen.

»Ein Tablet«, sie räusperte sich, »kann ich mir nicht leisten. Ich habe nur ein Handy.«

Erstaunt blickte Selina sie an. Für einen Moment war sie von Ellas Aussage wie stummgeschaltet. »Du kannst dir kein Tablet leisten?«, fragte sie dann ungläubig. Das schien nicht in ihre Welt zu passen. Ein paar Sekunden lang sah sie so aus, als könnte sie sich überhaupt keinen Reim darauf machen. »Aber die sind doch gar nicht teuer.«

Wieder versuchte Ella, die Schultern zu zucken, was aber darin endete, dass eine Schulter hochgezogen wurde, die andere jedoch steif blieb, was ihr für einen kurzen Augenblick eine Silhouette verlieh, als hätte sie einen Buckel. »Teuer ist relativ«, antwortete sie. »Für dich und deine Schwester ist ein Tablet wahrscheinlich tatsächlich nicht teuer. Für mich schon. Ich habe nicht sehr viel Geld.«

Das überstieg offensichtlich Selinas Vorstellungskraft. Sie starrte Ella so an, als fragte sie sich, was für eine Art von Wesen sie war. Ob sie eventuell aus einem anderen Universum stammte. »Ich muss dir noch den Rest des Hauses zeigen«, sagte sie, trat wieder auf Ellas Rollstuhl zu und stellte sich dahinter. »Und den Garten«, fügte sie unzufrieden seufzend hinzu.

Diesmal war die Fahrt nicht ganz so wild, vielleicht hatte Selina Ella beim ersten Mal nur erschrecken wollen. Oder sie hatte einfach nicht darüber nachgedacht, und nun hatte sie keine Lust mehr, die Rollstuhlrennfahrerin zu spielen. Sie schob Ella in den nächsten Raum, der so eine Art Tanzsaal war. Hier konnte man sicherlich gut Partys feiern.

Der nächste Raum war dann Miryams Büro, wo sie auf Frau Molitor und eine junge Frau trafen, die eine Couch in ein Bett verwandelte. Verwundert stellte Ella fest, dass Frau Molitor wohl nicht die einzige Hausangestellte war, und sie fragte sich, wie viele es noch gab. Eine Köchin vielleicht oder sogar einen Butler? Der hätte auf jeden Fall zu diesem Haus gepasst.

»Wir räumen hier noch ein bisschen um, damit Sie sich hier besser mit dem Rollstuhl bewegen können«, erklärte Frau Molitor freundlich lächelnd wie immer.

Ella sah sich um. Auch dieser Raum war ziemlich groß, aber nicht so groß wie das Wohnzimmer oder gar der Tanzsaal, den sie eben schon besichtigt hatte. Es war ein eher funktionaler Raum, und doch hatte er eine persönliche Note. Miryams persönliche Note sicherlich. Die Ella ausgesprochen gut gefiel. Auch sie selbst hätte sich in so einem Büro durchaus wohlgefühlt.

Doch so, wie Miryam immer herumzischte, war sie wahrscheinlich gar nicht so oft hier. Dafür war das Büro allerdings sehr nett eingerichtet.

»Ich werde schon zurechtkommen«, erwiderte Ella mit einem Blick auf Frau Molitor dankbar. »Bitte machen Sie sich nicht zu viel Mühe. Ich bleibe nur so lange wie nötig. Ich hoffe, ich kann bald wieder nach Hause.«

»Schon gut.« Frau Molitor lächelte sie begütigend an. »Das macht keine große Mühe. Wir wollen doch, dass Sie sich hier wohlfühlen.«

Frau Molitor wollte das bestimmt, da war Ella sicher. Selina war es wahrscheinlich egal. Und Miryam? Das war die große Frage.

»Wo seid ihr denn alle?«, erklang da plötzlich eine Stimme von der Halle her.

Im nächsten Moment quietschte es, und ein Wirbelwind kam durch die Tür gefegt, der sich dann an Ellas Beinen fing und sich um sie herumwand. Unaufhörliche hohe Freudenlaute erfüllten das Zimmer.

»Inka!« Ella traten die Tränen in die Augen, als sie sich zu ihrer Hündin hinunterbeugte. »Geht es dir gut, meine Süße?«

Die kleine Hündin schien sich überhaupt nicht mehr beruhigen zu können.

»Ich glaube, jetzt geht es ihr sehr gut«, beantwortete Miryam Ellas Frage von der Tür her. »Auf jeden Fall musste ich nicht nach euch suchen. Sie wusste genau, wo ihr wart.« Sie lächelte leicht.

»Hunde wissen das immer«, ergänzte Frau Molitor das mit einem geradezu mütterlichen Lächeln. »Das ist Ihr Hund?« Trotz der Frageform war das mehr eine Feststellung, als sie Ella nun ansah.

Ella nickte und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. »Ja, das ist mein Hund«, bestätigte sie schluckend. »Ich habe dich so vermisst«, sagte sie leise zu Inka, die sich jetzt langsam nicht mehr wie ein Kreisel um sie drehte.

»Und sie hat Sie wahrscheinlich noch viel mehr vermisst«, meinte Miryam, während sie jetzt auf die kleine Gruppe zutrat. »Obwohl Ihre Nachbarin sie bestimmt sehr gut versorgt hat.«

»Ja, bestimmt.« Dankbar lächelte Ella mit feuchten Augen zu Miryam hoch. »Danke, dass Sie Inka geholt haben.«

»Hatte ich doch versprochen«, entgegnete Miryam wegwerfend. »Sie sind hier schon soweit?« Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen wandte sie sich an Frau Molitor.

»Noch nicht ganz«, antwortete Frau Molitor. »Ich wollte noch ein paar Sachen wegräumen, damit sie dem Rollstuhl nicht im Weg sind.«

Miryam nickte. »Ja, das müssen wir wohl so machen.«

»Ich will wirklich nicht, dass Sie solche Umstände durch mich haben.« Ella entschuldigte sich fast, obwohl sie die Entscheidung hier zu sein ja gar nicht selbst getroffen hatte. »Sie brauchen Ihr Büro doch wahrscheinlich.« Sie saß nach vorn gebeugt im Rollstuhl und streichelte Inka, weil sie sie mit einem Arm nicht auf den Schoß nehmen konnte. Deshalb blickte sie in einer etwas verdrehten Körperhaltung, die fast wie eine sportliche Dehnübung aussah, zu Miryam hoch.

»Ich habe noch ein Büro in der Stadt«, sagte Miryam und lächelte sie geistesabwesend an.

»Dao wird Ihnen beim Anziehen und Waschen helfen«, erklärte Frau Molitor gleich anschließend mit einem Blick auf die junge Frau, die jetzt von der Couch zu ihnen herüberblickte. »Sie hat schon in Thailand Leute betreut. Sie kennt sich damit aus.«

Jetzt erst sah Ella, dass die junge Frau Asiatin war. Thailänderin offenbar. Ella verzog das Gesicht. »Ich hoffe, ich kann das meiste selbst tun.«

»Ich helfe gern.« Dao antwortete ihr mit einer sehr sanften Stimme und lächelte auf diese hintergründige asiatische Art, bei der man nie wusste, was sie bedeutete. Sie kam zu Ella herüber. »Soll ich Bad zeigen?«

»Ja, tun Sie das doch bitte, Dao«, bestätigte Frau Molitor mit einem zustimmenden Nicken. »Selina und ich werden in der Zwischenzeit hier im Büro ein bisschen die Möbel umräumen.«

Selinas wahrscheinlich entsetztes Gesicht sah Ella nicht mehr, weil Dao sie schon ins Bad rollte.

Miryams Geheimnis

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