Читать книгу Miryams Geheimnis - Ruth Gogoll - Страница 11

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Ein bisschen kam Miryam sich so vor, als wäre sie aus ihrem eigenen Haus geflohen, um den Hund zu holen. Aber es war einfach nötig gewesen.

Die Fahrt davor hierher, mit Ella im Auto, so nah bei ihr, aber diesmal nicht bewusstlos, war ihr endlos erschienen. Immer mehr hatte sich eine Spannung zwischen ihnen aufgebaut, die aber – das wusste Miryam sehr gut – eher von ihr ausgegangen war als von Ella.

Sie hatten sich ganz harmlos unterhalten, und doch war es ihr oft so vorgekommen, als enthielte jeder Satz einen Subtext, eine doppelte Bedeutung, die nicht ausgesprochen wurde. Als müsste man zwischen den Zeilen lesen, um den wahren Inhalt des Gesprächs zu erfassen.

Das war absoluter Blödsinn, schalt sie sich, und doch konnte sie sich selbst nicht so ganz davon überzeugen. Hatte sie wirklich alles zweideutig gemeint, was sie gesagt hatte? Hatte Ella alles zweideutig gemeint, was sie geantwortet oder gefragt hatte?

Nein, das war nicht möglich. Diese Frau meinte immer, was sie sagte. Und das galt normalerweise auch für Miryam. Deshalb waren sie beide die ungeeignetsten Kandidatinnen für eine zweideutige Unterhaltung.

Liegt es vielleicht daran, dass ich mir wünsche, die Unterhaltung wäre zweideutig gewesen? fragte sie sich selbst.

Weil sie ihre Augen manchmal schon richtig mit Gewalt von Ella hatte abwenden müssen, wenn sie einmal zu ihr hingeschaut hatte. Glücklicherweise war sie dazu gezwungen gewesen, danach wieder auf die Straße zu schauen, sonst hätte sie sich fast in Ellas Anblick verlieren können.

Sie atmete tief durch. Das lag nur daran, weil Ella so . . . anders war. Sie war eben nicht wie die Frauen, die Miryam sonst so kannte. Privat kannte oder gekannt hatte. Zuerst einmal war sie ein ganzes Stück jünger, und zum Zweiten . . . Ja, zum Zweiten war sie eben anders.

Sie merkte, dass sie sich in Gedanken wiederholte, weil sie zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen konnte. Das war etwas, das sie nicht gewöhnt war und das sie ausgesprochen frustrierte. Es gab für jedes Problem eine Lösung, man musste nur lange genug darüber nachdenken.

Dafür hatte sie jedoch oft nicht die Geduld. Sie war ein ziemlich ungeduldiger Mensch, das hatte sie wohl von ihrem Vater. Eine Lösung, die sich nicht sofort präsentierte, machte sie wütend.

Was war hier die Lösung? Da gab es viele Dinge, die sie berücksichtigen musste. Auch wenn sie das nicht wollte. Eigentlich hätte sie es sich verbieten müssen, überhaupt über Ella nachzudenken.

Aber das konnte sie nicht. Und selbst, wenn sie es gekonnt hätte, sie hätte sich nicht an das Verbot gehalten, das wusste sie jetzt schon. Sie konnte sich gar nicht daran halten, denn auf einmal meldeten sich Gefühle in ihr, die sie schon lange vergessen geglaubt hatte.

Gefühle, das hatte sie schon sehr früh in ihrem Leben gelernt, waren nichts wert und führten zu nichts. Deshalb hatte sie sich darum bemüht, diesen Teil ihres Charakters möglichst zu minimieren. Es gab Ursache und Wirkung, es gab eine Funktion, die ein Mensch oder eine Sache haben konnte, es gab Verträge mit Leistung und Gegenleistung. Das war im Beruflichen genauso wie im Privaten. Gefühle hatten da nichts zu suchen.

Von klein auf hatte ihr Vater sie gerügt, wenn sie welche zeigte. Er hatte keinen Sohn, also war seine älteste Tochter der Ersatz dafür, der zwar nie genügen konnte, aber trotzdem zu funktionieren hatte. Er hatte von ihr Dinge verlangt, die man einem kleinen Kind niemals abverlangen sollte. Eine richtige Kindheit hatte sie eigentlich nie gehabt. Es war immer darum gegangen zu beweisen, dass sie gut genug war. Und sie war nie gut genug gewesen. Weil sie kein Junge war.

Was hatte sie sich angestrengt, zu Hause und schon im Kindergarten, dann in der Schule und im Studium. Auch später noch, solange ihr Vater noch lebte. Aber es hatte nichts genützt.

Niemals hätte ihr Vater ihr das durchgehen lassen, was er Selina durchgehen ließ. Die er allerdings auch nicht ernstnahm. Er betrachtete sie wohl eher als ein unterhaltsames Spielzeug als einen Menschen. Manchmal hätte Miryam sich gewünscht, er hätte sie genauso betrachtet. Denn mit Selina lachte er wenigstens ab und zu. Das hatte er mit Miryam nie getan.

Doch er verbrachte ohnehin nicht viel Zeit mit seinen beiden Töchtern. Selina betete ihn an, und wenn Miryam es richtig betrachtete, hatte sie das wohl auch getan. Bis sie merkte, dass es keinen Sinn hatte. Und doch war es sehr schwer, sich das abzugewöhnen, auch wenn nichts auch nur halbwegs Vergleichbares zurückkam.

Sie hatte die Verantwortung, ein perfektes Kind zu sein, eine perfekte Schülerin, eine perfekte Studentin, eine perfekte Mitarbeiterin im Betrieb, aber Lob gab es dafür nicht. Es war einfach selbstverständlich.

Vielleicht verstand sie deshalb doch ein wenig von dem, wie Ella sich wahrscheinlich fühlen musste. Wie sie das Leben sah. Denn auch sie trug eine hohe Verantwortung, wenn auch auf ganz andere Art. Sie beide wussten, was Verantwortung war.

Ganz im Gegensatz zu Selina, die das noch nie gewusst hatte.

Miryam seufzte ein wenig. Manche Leute fanden es wahrscheinlich schön, eine kleine Schwester zu haben, die sie bemuttern konnten. Miryam nicht unbedingt. Sie fühlte sich nicht zur Mutter geboren.

Zwar war sie es nicht allein gewesen, die nach dem Weggang ihrer Mutter Mutterstelle an Selina hatte vertreten müssen, aber sie hatte es immer anstrengend gefunden. So, wie Miryam von klein auf zur Vernunft gezwungen worden war, war Selina die Verkörperung der Unvernunft.

Und sie konnte nicht behaupten, dass Gegensätze sich anzogen. Das war noch nie ihre Überzeugung gewesen. Man musste vieles gemeinsam haben, um sich zu verstehen.

Das war ja auch das Problem. Wie sollte man so jemanden finden?

Ella war da wirklich ganz anders. Obwohl sie im selben Alter war wie Selina, schien sie wesentlich mehr mit Miryam gemeinsam zu haben als ihre eigene Schwester. Und das bei Lebensumständen, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Selina und Miryam waren im selben Haus aufgewachsen, und doch trennten sie oft Welten.

Bei Ella schien es so, als wäre sie fast wie in einer anderen Welt aufgewachsen, und doch gab es Gemeinsamkeiten, die sich wie eine Brücke von einer Welt zur anderen spannten.

Miryams Geheimnis

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