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1 Bio-psycho-soziale Gesundheit

Im folgenden Kapitel werden grundsätzliche Aspekte des Gesundheits–Krankheitsdiskurses benannt, der Begriff bio-psycho-soziale Gesundheit definiert und ressourcenorientierte Gesundheitsmodelle vorgestellt. Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ werden im alltagssprachlichen Gebrauch als Gegenpole und zur gegenseitigen Abgrenzung gebraucht. In medizinischer Sicht dienen sie ursprünglich der Einordnung in die Kategorien behandlungsbedürftig / nicht behandlungsbedürftig oder PatientIn versus (vs.) Nicht-PatientIn und damit der Indikationsstellung. Krankheit wird z. T. als negativer Pol des positiv bewerteten Zustandes der Gesundheit, als eine Art Normabweichung angesehen. Die Betrachtungsweisen von Gesundheit und Krankheit wandeln sich in Abhängigkeit vom zeitgeschichtlichen Kontext, dem subjektiven Befinden, der sozial und gesellschaftlich vorherrschenden Definition dieser Begriffe sowie der Professionalisierung und Dominanz der ExpertInnen.

Selbstlernaufgabe: Setzen Sie folgenden Satz für sich fort: „Ich bin gesund, wenn…“. Welche Merkmale Ihres persönlichen Gesundheitsverständnisses können Sie für sich festhalten?


Abb. 2: Spannungsfeld zum Begriff Gesundheit

Es sind Spannungsfelder bei der Betrachtung des Gesundheitsbegriffes festzuhalten (Abb. 2). Die erste Spannungslinie besteht zwischen der objektiven Betrachtung von ExpertenInnen und dem subjektiven Befinden des Individuums. Fühlt sich eine Person gesund oder wird sie als gesund in der Außenperspektive eingeschätzt? Die zweite Spannungslinie entsteht zwischen der Betrachtung von Gesundheit als Status, d. h. Zustand, und einer prozessorientierten Betrachtung von Gesundheit, bei der davon ausgegangen wird, dass sich Gesundheit über die gesamte Lebensspanne täglich verändert.

Gesundheit im Spannungsfeld

Ein drittes Spannungsfeld entsteht zwischen der körperlichen sowie der psychischen und sozialen Perspektive. Diese sind durch die jeweiligen wissenschaftlichen Fachdisziplinen geprägt, z. B. durch Medizin, Psychologie, Soziologie, Rechtswissenschaft oder Gesundheitswissenschaften. Die vierte Spannungslinie ist mit der Frage verknüpft, ob die Entstehung von Gesundheit oder Krankheit in den Blick genommen wird.

Selbstlernaufgabe: Setzen Sie folgenden Satz für sich fort: „Ich bin krank, wenn…“. Welche Merkmale Ihres persönlichen Krankheitsverständnisses können Sie für sich festhalten?

1.1 Das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit und Krankheit

Ein bio-psycho-soziales Modell von Gesundheit und Krankheit etabliert sich im Fachdiskurs. In der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung aus dem Jahr 1946 (World Health Organisation [WHO] Europa 1986) wurde Gesundheit definiert als “a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity”.

Darin ist eine deutliche Abkehr von einem rein biomedizinisch orientierten Gesundheitsverständnis zu erkennen. Kritisch kann an dieser begrifflichen Festlegung die darin enthaltene Statusannahme (state) sowie der Anspruch auf Vollständigkeit, wie er im Wort complete enthalten ist, gesehen werden.

Mit dem bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit wurde eine Abkehr vom ausschließlich biomedizinischen Modell mit seinem reduktionistischen Erklärungsmodell eingeleitet (Engel 1976, Wesiack 1988, Franke 2012). Das bio-psycho-soziale Modell geht davon aus, dass Biologisches, Psychisches und Soziales in einer dynamischen Beziehung verbunden sind. Es kann mittlerweile als sehr verbreitet angesehen werden. Die Betrachtung von medizinischen Publikationen zeigt jedoch noch immer eine Dominanz der biologisch-medizinischen Wissenschaft (Hurrelmann / Richter 2016).

Der Mensch als System

Die Wurzeln des bio-psycho-sozialen Modells liegen in der systemtheoretischen Betrachtung des Menschen (Egger 2005). Diese Sichtweise wurde von Engel (1976) begründet, der das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell entwickelt hat. Der Grundgedanke ist dabei, dass die Natur in hierarchisch aufeinander aufbauenden Systemen geordnet ist. Auf jeder Hierarchieebene existiert ein dynamisch organisiertes System mit spezifischen Qualitäten und Beziehungen. Nichts existiert isoliert. Alle Organisationsebenen reagieren vernetzt, und Veränderungen auf einer Systemebene haben immer Auswirkungen auf alle anderen Teilsysteme. Die Person als System mit ihrer Körperlichkeit, ihren organischen Strukturen sowie ihrem Erleben und Verhalten wird als Ganzheit verstanden, die sich aus Subsystemen zusammensetzt, die wiederum hierarchisch aufgebaut sind (Egger 2005). Sowohl mentale als auch körperliche Phänomene werden durch physiologische und physikalisch-chemische Ereignissen erzeugt, sind jedoch nicht auf diese reduzierbar.

Hierarchie im System

Phänomene, die auf der höheren Hierarchieebene existieren, sind auf einer niedrigeren Ebene noch nicht vorhanden. Auf neurobiologischem Niveau können komplexe Erlebens- und Verhaltensweisen nicht erklärt werden. Beispielsweise lässt sich Empathie nicht durch vielfältige nervale, biochemische Erregungsmuster verstehen. Es werden keine adäquaten Erklärungen für die Komplexität der seelischen Phänomene gegeben (Egger 2005). Das bedeutet, dass die Entstehung von Symptomen, die Ätiologie von Erkrankungen sowie die Behandlung von gesundheitlichen Störungen immer sowohl biologisch als auch psychologisch (Egger 2005) zu betrachten sind. Egger definiert Gesundheit wie folgt:

„Im bio-psycho-sozialen Modell bedeutet Gesundheit die ausreichende Kompetenz des Systems „Mensch“, beliebige Störungen auf beliebigen Systemebenen autoregulativ zu bewältigen. Nicht das Fehlen von pathogenen Keimen (Viren, Bakterien etc.) oder das Nichtvorhandensein von Störungen / Auffälligkeiten auf der psycho-sozialen Ebene bedeuten demnach Gesundheit, sondern die Fähigkeit, diese pathogenen Faktoren ausreichend wirksam zu kontrollieren“ (Egger 2005, 5).

In der Erweiterung des Modells von Engel schlägt Egger (2005) bei der Betrachtung von gesundheitlichen Fragestellungen in Diagnostik und Therapie die Untersuchung der biomedizinischen, psychologischen und ökosozialen Ebene vor. Auf der biologischen Ebene werden biomedizinische Daten erhoben und physikalische, medikamentöse oder chirurgische Interventionen eingesetzt.

Diagnostik und Therapie

Bei der psychologischen Betrachtung werden individuelles Erleben und Verhalten sowie der subjektive Lebensstil untersucht. Therapeutisch erfolgen psychologische bzw. ärztliche Beratung, psychophysische Regulationsverfahren oder Psychotherapie. Die ökosoziale Diagnostik nimmt familiäre, beruflich-gesellschaftliche und umweltbezogene Lebensbedingungen in den Blick. Als Behandlungsformen werden PatientInneninformation, die Vermittlung von Hilfe in der Familie, am Arbeitsplatz, bei den zuständigen Behörden und psycho-soziale Beratung und Vereinsangebote vorgeschlagen (Egger 2005).

Selbstlernaufgabe: Übertragen Sie das bio-psycho-soziale Modell nach Egger (2005) auf Ihre eigene gesundheitliche Situation.

In der ICF (International Classification of Function, Disability and Health) hat die WHO (World Health Organization) das bio-psycho-soziale Verständnis erweitert und spezifiziert. Die ICF wurde in Ergänzung der ICD (International Classification of Diseases) entwickelt. Die ICF gehört zu den von der Weltgesundheitsorganisation entwickelten Instrumenten der Klassifikationen von unterschiedlichen Aspekten der Gesundheit.

Funktionelle Gesundheit (ICF)

Die ICD stellt ein Klassifikationssystem für die Einordnung von Störungen der Gesundheit dar. Funktionsfähigkeit und Behinderung, verbunden mit einem Gesundheitsproblem, sind Thema der ICF. Die WHO beschreibt Gesundheit als Wechselwirkung zwischen den Komponenten Aktivitäten, Teilhabe, Umweltfaktoren (gleichbedeutend mit Kontextfaktoren) und personalen Faktoren. Es besteht eine dynamische Wechselbeziehung und durchgängig vielschichtige Interaktion zwischen diesen Komponenten der funktionalen Gesundheit (Abb. 3).

Abb. 3: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF (DIMDI 2005, 23)

Die ICF versteht unter dem Begriff Körperstrukturen die anatomische Basis des menschlichen Körpers, wie z. B. Organe, Muskelskelettsystem. Unter Körperfunktionen werden die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich der mentalen Funktionen) verstanden (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005).

Körperstrukturen und -funktionen können beeinträchtigt werden, so dass diese von der Norm abweichen oder sogar verloren gehen (Begriff der Schädigung) (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005). Mit der Komponente Aktivität wird die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion) durch einen Menschen beschrieben (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005). Partizipation (Teilhabe) beschreibt das Einbezogensein des Menschen in eine Lebenssituation. Sind Aktivitäten beeinträchtigt, kann eine Person Einschränkungen bei der Durchführung einer Handlung haben.

Förder- / Barrierefaktoren

Eingeschränkte Handlungsfähigkeit kann ein Barierrefaktor beim Einbezogensein in eine Lebenssituation darstellen (Beeinträchtigung der Partizipation / Teilhabe). Die Komponente der Umweltfaktoren oder auch Kontextfaktoren beschreibt die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen ihr Dasein führen. Umweltfaktoren können gesundheitsförderlich sein (Förderfaktoren) oder als gesundheitliche Barrieren (Barrierefaktoren) eingeschätzt werden (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005).

Personenbezogene Faktoren werden den Kontextfaktoren zugeordnet. Sie beinhalten Faktoren, die sich auf die betrachtete Person beziehen, wie beispielsweise Alter, Geschlecht, sozialer Status, Lebenserfahrung usw. Diese werden in der ICF nicht klassifiziert (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI). Kontextfaktoren können Förderfaktoren oder Barrieren darstellen. Als Förderfaktoren werden Faktoren in der Umwelt einer Person klassifiziert, welche die Funktionsfähigkeit eines Menschen unterstützen (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005). Zu den Förderfaktoren gehören z. B. die

„Verfügbarkeit relevanter Hilfstechnologie, positive Einstellungen der Menschen zu Behinderung, sowie Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze, die darauf abzielen, alle Menschen mit Gesundheitsproblemen in alle Lebensbereiche einzubeziehen“ (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI 2005, 147).

Als Barrieren bezeichnet die ICF Faktoren in der Umwelt einer Person, welche die Funktionsfähigkeit einschränken, wie zum Beispiel eine unzugängliche materielle Umwelt oder negative Einstellungen zu Menschen mit Gesundheitsproblemen. Barrieren und Förderfaktoren können vorhanden sein oder fehlen.

Sind in einem Betrieb Aufzüge vorhanden, können Menschen mit Schmerzen in den unteren Extremitäten (Körperfunktion) mit oder / ohne Schädigung einer Körperstruktur (wie z. B. des Kniegelenkes) die Aktivität Gehen ausführen und somit ihre Arbeit behalten (Teilhabe).

Die Erfassung von Gesundheitsproblemen unter Bezug auf die ICF wird im Folgenden an Beispielen erläutert.

Herr X. hat heftige Rückenschmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule und kann deshalb nicht mehr alltagsrelevant heben und tragen (Aktivität). Eine differenzierte Untersuchung durch den Arzt (Kontextfaktor) zeigt, dass er eine Schädigung der Bandscheibe hat (Körperstruktur), die jedoch durch physiotherapeutische Maßnahmen zu kompensieren ist. Die Physiotherapie wird von seiner Krankenkasse in ausreichendem Umfang bezahlt (Kontextfaktor). Herr X kann bereits nach kurzer Zeit seine beruflichen und privaten Aufgaben wieder bewältigen. Hinzu kommt, dass er. eine aktive Person ist und auch zu Hause die physiotherapeutischen Aufgaben übt (personale Faktoren).

Selbstlernaufgabe: Wie kann das ICF-Modell der Gesundheit zur Erfassung von gesundheitlichen Problemlagen im betrieblichen Kontext eingesetzt werden? Beleuchten Sie ein selbst gewähltes Fallbeispiel mit der ICF.

1.2 Modelle der Gesundheit

Im folgenden Kapitel werden Modellvorstellungen über die Entstehung und Veränderung von Gesundheit dargelegt. Pathogenetisch ausgerichtete Modelle werden nicht vorgestellt, da im Zentrum dieses Buches die Förderung von Gesundheit steht und nicht die Vermeidung von Krankheit (Prävention) (Kap. 2.1).

Saluto- vs. Pathogenese

Aus pathogenetischer Perspektive wird Gesundheit als Normalzustand betrachtet und Krankheit hingegen als Abweichung von dieser Norm. Es wird nach objektivierbaren Faktoren gesucht, die zu dieser Abweichung beitragen und die es zu vermindern gilt. Die salutogenetische Betrachtungsebene sieht Gesundheit und Krankheit als Pole eines Kontinuums, auf dem sich ein Mensch sein Leben lang und jeden Tag bewegt. Es wird nach Faktoren gesucht, die objektiv und subjektiv dazu beitragen, dass ein Mensch gesund bleibt und sich subjektiv betrachtet wohl fühlt. Um den jeweiligen gesundheitlichen Ist-Stand zu erfassen, werden aus pathogenetischer Sicht Krankheitssymptome erfasst, zu Diagnosen summiert und nach der ICD klassifiziert.

Ein salutogenetischer Blick analysiert gemeinsam mit dem betroffenen Menschen seine Lebensgeschichte, die Einflüsse der eigenen Person und der Lebenswelt auf den Prozess seiner Gesundheit.

1.2.1 Das Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky

Die Frage, wie Gesundheit entsteht, anstatt allein nach den Ursachen von Erkrankungen zu fragen, entspricht der Denkrichtung von Antonovsky / Franke (1997) in seinem Ansatz der Salutogenese. Er ist der Frage nachgegangen, warum manche Menschen trotz großer Belastungen und einschneidender Lebensereignisse gesund bleiben. Für Antonovsky (1979) besitzen Patho- und Salutogenese eine komplementäre Beziehung. Er fordert, dass nicht nur nach den Krankheitsursachen geforscht wird, sondern die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen untersucht werden sollte.

Die zentrale Frage des Autors lautet, welche Faktoren dazu führen, dass eine Person auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Richtung Gesundheit einzuordnen ist. Die Erforschung und Behandlung pathogener Faktoren sollte durch die Suche nach den Ursachenzusammenhängen von Gesundheit ergänzt werden.

Die salutogenetische Orientierung schlägt vor, die Stelle zu suchen, an der sich die jeweilige Person zum jeweiligen Zeitpunkt auf dem Kontinuum von Gesundheit und Krankheit befindet (Antonovsky / Franke 1997). Das zentrale Konstrukt in diesem Modell stellt das Kohärenzsinn / -gefühl (sence of coherence = SOC) dar (Antonovsky 1979, Antonovsky / Franke 1997).

Kohärenzsinn

Antonovsky definiert das Kohärenzgefühl als

„a global orientation that expresses the extent to which one has a pervasive endouring dynamic, feeling of confidence that one’s internal and external environments are predictible and that there is a high probability that things will work out as well as can reasonably be expected“ (Antonovsky 1979, 10).

Der SOC umschreibt eine globale Orientierung, die ausdrückt, inwieweit jemand ein überdauerndes, allgegenwärtiges Vertrauen darauf empfindet, dass die Ereignisse der äußeren und inneren Umwelt vorhersagbar und bewältigbar sind. Zudem bedeutet es, dass die Ressourcen als ausreichend für die Erfüllung der aus den Ereignissen erwachsenden Anforderungen empfunden werden. Dazu gehört auch, dass die Anforderungen als positive Herausforderungen wahrgenommen werden, welche die Investition und das Engagement wert sind (Antonovsky 1979, Antonovsky / Franke 1997). Demnach enthält der Kohärenzsinn kognitive, pragmatische und emotionale Bestimmungsgrößen, nämlich die Verstehbarkeit, die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit (Antonovsky 1979, Antonovsky / Franke 1997).

Verstehbarkeit

Comprehensibility beschreibt die Fähigkeit, die aus der internalen und externalen Umgebung wahrgenommenen Reize als Information einordnen und strukturieren zu können. Comprehensibility beinhaltet ein stabiles Urteilsvermögen bezüglich der Realität. Die zweite Komponente, die Fähigkeit zur Handhabung und Bewältigung (manageability), beinhaltet die Überzeugung, dass die eigenen verfügbaren Ressourcen den zukünftigen Erfordernissen gerecht werden können. Eine Person mit einem hohen Maß an manageability wird sich nicht als Opfer der Ereignisse fühlen.

Handhabbarkeit

Das motivationale Element wird mit dem Teilaspekt der Sinnhaftigkeit eingeführt. Es ist wichtig, dass Lebensbereiche und -ereignisse als sinnhaft erlebt werden, d. h. eine emotionale und kognitive Bedeutung besitzen.

Sinnhaftigkeit

Herausforderungen werden als das Engagement und die Investition wert und somit als sinnvoll betrachtet. Der SOC ist die zentrale koordinierende Kraft im Konzept von Antonovsky (1979, Antonovsky / Franke 1997), die die Wirkung von Stressoren, von Widerstandsquellen und die Verarbeitung der Lebenserfahrung maßgeblich beeinflusst. Ein Mensch ist nicht abhängig von externalen und internalen Widerstandsquellen und der Einwirkung von Stressoren (Abb. 4). Vielmehr beteiligt er sich mittels des Kohärenzsinnes aktiv an der Gewichtung und Bewältigung der Stressoreneinflüsse.

Stressoren

Einwirkungen bzw. Stimuli, deren Ursachen in der externalen und internalen Umwelt liegen, werden durch ihren Grad an Intensität oder die Zeitdauer ihrer Einwirkung zu Stressoren. Auf sie kann ein Mensch nur durch verstärkte Energieaufwendung und nicht automatisiert reagieren. Der Autor unterscheidet endogene und exogene Stressoren von körperlichen und biochemischen Stressoren.

Abb. 4: Das Salutogenese-Modell (nach Antonovsky 1979)

Als exogene Stressoren werden ein Unfall, historische Katastrophen, Gewalterfahrungen, innerpsychische Konflikte, Angst vor Aggression, normative und non-normative Krisen, plötzliche Umweltveränderungen, Konflikte im Sozialgefüge sowie eine Diskrepanz zwischen Zielen und Möglichkeiten genannt. Diese Stressoren führen zu Spannungszuständen, die bei nicht erfolgreicher Bewältigung zu Stress werden können (Kap. 5.1). Biochemische und körperliche Stressoren interagieren mit den individuellen pathogenen Schwachstellen und erhöhen möglicherweise den Stresszustand.

Widerstandsquellen

Erfolgreiches Stressmanagement hat unmittelbar Auswirkungen auf die Positionierung im Kontinuum und stärkt den Kohärenzsinn. Innerhalb des soziokulturellen und historischen Kontextes entwickelt ein Mensch generalisierte Widerstandsquellen gegen Stressoren. Diese sorgen dafür, dass ein Mensch sich als bedeutungsvoll und kohärent erfährt. Zusätzlich bewahren sie den Organismus vor der Einwirkung von Stressoren oder helfen, erzeugte Spannung zu lösen. Als wichtige generalisierte Widerstandsquellen werden u. a. genetische und konstitutionelle Widerstandsquellen, wie z. B. immunologische Abwehrkräfte und das große Anpassungsvermögen des Menschen genannt (Antonovsky 1979, Antonovsky / Franke 1997). Den psycho-sozialen Widerstandsquellen werden materieller Wohlstand, Wissen und Intelligenz, eine stabile Ich-Identität, die Verfügbarkeit flexibler und steuerbarer Bewältigungsstrategien sowie eine präventive Gesundheitseinstellung zugeordnet. Besondere Bedeutung als Widerstandsquellen erhalten soziale Unterstützung, dauerhafte Bindungen und kulturelle Stabilität. Stabile religiöse, philosophische oder magische Weltanschauungen helfen Antworten auf die Sinnfragen des Lebens zu finden.

Spezifische Widerstandsquellen entsprechen den persönlichen Bewältigungsstrategien im Alltag, wie z. B. eine Kopfschmerztablette bei Bedarf, ein Telefongespräch mit einer guten Freundin oder Entspannungstechniken.

Lebenserfahrung

Von Geburt an erleben Menschen Situationen der Herausforderung, der Anspannung, des Stresses und der Entscheidung. Je mehr diese Erfahrungen als konsistent erlebt werden, desto mehr beginnt das Individuum die Welt als kohärent und vorhersagbar zu erleben. Dabei muss es sich um ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Überbelastung und Unterbelastung handeln. Ein starker Kohärenzsinn mobilisiert die verfügbaren generalisierten und spezifischen Widerstandsquellen in der Auseinandersetzung mit Stressoren. Erfolgreiche Bewältigung von Stressoren und Spannung stärkt wiederum den Kohärenzsinn.

1.2.2 Das Konstrukt der gesundheitlichen Schutzfaktoren

Das Salutogenese-Modell hat den gesundheitswissenschaftlichen Diskurs stark beeinflusst und erweitert. In der Weiterentwicklung der salutogenetischen Perspektive sind gesundheitliche Schutzfaktoren für unterschiedliche Altersgruppen herausgearbeitet und überprüft worden.

Schutzfaktoren

Schutzfaktoren sind den Kategorien soziale, wirtschaftliche, psychologische, behaviorale sowie gesellschaftliche Faktoren zuzuordnen (Hurrelmann et al. 2009). Das Konstrukt der gesundheitlichen Protektivfaktoren (Viehhauser 2000) ist ein Begriff, der interne personenbezogene Betrachtungsweisen mit externen auf die Umwelt und Lebensgestaltung bezogenen Aspekten verknüpft (Abb. 5).

Risikofaktoren

Als Risikofaktoren werden alle empirisch gesicherten Faktoren, die die Vorhersage von Krankheiten ermöglichen, bezeichnet:

„Ein Risikofaktor gibt Auskunft über eine potenzielle, sich direkt oder indirekt und in der Regel erst mit zeitlicher Verzögerung manifestierende Gefährdung der Gesundheit, der Entwicklung oder der sozialen und kulturellen Integration bzw. Inklusion“ (Franzkowiak 2018c, 846)).

Risikofaktoren werden in genetische, physiologische und psychische Dispositionen, (z. B. Verengungen der Blutgefäße) behaviorale (z. B. Zigarettenrauchen, Bewegungsmangel) und regionale umweltbezogene Dispositionen (z. B. erhöhte Strahlenbelastung) eingeteilt (Hurrelmann et al. 2009). Risikofaktoren bezeichnen keine linearen Kausalitäten. In der öffentlichen Diskussion werden sie z. T. mit Krankheitsursachen gleichgesetzt. Risikofaktoren werden nicht einzelfallbezogen ermittelt, sondern beschreiben ein Gruppenrisiko. Das bedeutet, dass sie für das Individuum nicht linaer kausal zu sehen sind.

Im Folgenden werden psychologische, behaviorale und gesellschaftliche Schutzfaktoren vorgestellt. Zum Teil wird ein Transfer auf Fragen des betrieblichen Gesundheitsmanagements und der betrieblichen Gesundheitsförderung geleistet.

Hoffnung

In der Schutzfaktorenforschung wurde das Konstrukt Hoffnung bei der Bewältigung lang andauernder Belastungen als bedeutsam beschrieben. Hoffnungsvolle Menschen zeigen eher primär- und tertiärpräventives Gesundheitsverhalten, d. h. sie nehmen an Vorsorgeuntersuchungen teil und halten sich an die medizinischen Empfehlungen (Folkman 2010).

Selbstwert

Personen mit einem hohen Selbstwertgefühl tendieren dazu negative Ereignisse weniger als Bedrohung wahrzunehmen (Bengel / Lyssenko 2012), während ein niedriges Selbstwertgefühl das Risiko für die Entwicklung psychischer Erkrankungen erhöht. Für die Gesundheitsförderung bedeutet dies, dass bei Personen mit niedrigem Selbstwertgefühl Interventionen zu dessen Stärkung von Bedeutung sind (Bengel / Lyssenko 2012).

Unter dem Begriff „Resilienz“ wurde untersucht, welche Schutzfaktoren die Bewältigung altersspezifisch anstehender Entwicklungsaufgaben im Kindesalter unterstützen oder gegen risikoreiche Einflüsse widerstandsfähiger machen (Resch et.al. 1999, Scheithauer / Petermann 1999, Wustmann 2005). „Allgemein versteht man unter Resilienz die Fähigkeit, erlernte Mechanismen zur Bewältigung alterstypischer Aufgaben trotz schwieriger Umstände zu aktivieren“ (Petermann / Schmidt 2006, 119).

Coping

Der Begriff Coping wird als Bewältigung von Stress und kritischen Lebensereignissen definiert (Bengel / Lyssenko 2012). Dabei werden problemorientierte und emotionsbezogene Copingstrategien unterschieden. Erstere umschreibt aktive Lösungsversuche und die Suche nach praktischen Hilfen. Zweitere bezieht sich auf die Bewältigung der durch das Ereignis ausgelösten Emotionen. Dieses Copingverhalten erscheint hilfreich, wenn es sich um subjektiv als unkontrollierbar erlebte Ereignisse handelt (Bengel / Lyssenko 2012). Dazu gehört beispielsweise die Akzeptanz einer Situation, die Wertschätzung der eigenen Kompetenz oder Humor.


Abb. 5: Gesundheitliche Schutzfaktoren (nach Bengel / Lyssenko 2012, Haas 2014, Viehhauser 2000)

Optimismus

Der Schutzfaktor Optimismus bezeichnet ein psychologisches Konstrukt, welches das Verhalten von Menschen beeinflusst. Optimistische Menschen weisen eine Neigung dazu auf, eher positive Ergebnisse zu erwarten. Dies kann zu größerer Handlungsbereitschaft führen. Handlungen werden von positiven Emotionen begleitet. Der Zusammenhang von psychischer und physischer Gesundheit sowie Optimismus gilt in der gesundheitspsychologischen Forschung als evident (Grote et al. 2007, Hoyer 2000). Es besteht die Annahme, dass Optimismus positive Auswirkungen auf das Immunsystem und das Gesundheitsverhalten hat. Optimismus stärkt aktives Bewältigungsverhalten und soziale Unterstützung (Grote et al. 2007). Die Trennschärfe zu den psychologischen Konstrukten Selbstwirksamkeitserwartung und Kontrollüberzeugung ist nicht eindeutig.

Selbstwirksamkeitserwartung

Die sozial-kognitive Theorie der Selbstwirksamkeit von Bandura (1977) besagt, dass Handlungsintentionen von Individuen sich auf Ergebniserwartung und Wirksamkeitserwartungen stützen. Wirksamkeitserwartung, insbesondere Selbstwirksamkeitserwartung, impliziert, dass ein Individuum davon ausgeht, selbst bestimmte Wirkungen zu erzielen. Studien belegen, dass es einen Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeitserwartungen und der positiven Bewältigung von belastenden Lebensereignissen gibt (Benight / Bandura 2004). Menschen mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung empfinden sich als weniger verletzlich und ihre Umwelt als weniger bedrohlich. Sie initiieren bei der Konfrontation mit schwierigen Ereignissen lösungsorientierte Strategien. Damit geht ein höheres Maß an Zutrauen zur eigenen Selbstregulationsfähigkeit sowie der kognitiven und emotionalen Kontrolle einher. Der Schutzfaktor Selbstwirksamkeitserwartung ist neben der sozialen Unterstützung am besten empirisch belegt (Bengel / Lyssenko 2012).

Positive Emotionen

Menschen, die häufig positive Stimmungen und Gefühle erleben, wie z. B. Freude, Stolz, Neugier, Lust und Zufriedenheit, werden als glücklich bezeichnet. Positive Emotionen weisen einen hohen Zusammenhang mit beruflichem Erfolg, erfüllenden Sozialbeziehungen und Gesundheit auf. Dabei zeigt sich deren Regelmäßigkeit und die Relation zu negativem Emotionserleben bedeutsam (Lyubomirsky et al. 2005). Das Erleben positiver Emotionen konnte in empirischen Studien als protektiv nachgewiesen werden (Benge / Lyssenko 2012). Euthyme Tätigkeiten tragen zu mehr Wohlbefinden bei. Genießen wird dabei gleichsam als euthymes Erleben in Reinform bezeichnet (Viehauser 2000). Genuss wird definiert als sinnliche, lustvolle und reflexive Art des positiven Erlebens. Genuss grenzt sich von Sucht durch eine Fähigkeit zur Kontrolle des eigenen Verhaltens ab. Genießen erfordert eine Aufmerksamkeitsfokussierung auf eine sinnliche Erfahrung.

Im betrieblichen Kontext kann mit kleinen Auszeiten und Erinnerungen an emotional positiv besetzte Situationen die Stimmungslage verbessert werden.

Sinn und Bedeutsamkeit

Für eine Erhöhung des Wohlbefindens ist es elementar, dass Menschen den Ereignissen ihres Lebens Sinn zuschreiben können. Menschen benötigen Aktivitäten, Beziehungen und Aspekte in ihrem Alltag, die es wert sind, sich dafür zu engagieren, um ihre Lebensgestaltung danach auszurichten.

Die berufliche Tätigkeit sollte sinnhafte Aspekte beinhalten, die über den rein ökonomischen Aspekt hinausgehen. Mangelnde Sinnhaftigkeit der beruflichen Tätigkeit kann in der Freizeit teilweise durch subjektiv bedeutsame Betätigungen ausgeglichen werden.

Somato-psychische Regulationskompetenz

Das Bild vom eigenen Leib und der Umgang mit ihm ist geprägt durch sitzende Tätigkeiten und Dominanz elektronischer Kommunikation, die Instrumentalisierung des Körpers und die scheinbar umfassende Kontrollierbarkeit des Körpers durch kosmetische Eingriffe sowie durch sportliche Aktivitäten. Die Fähigkeit, psychisches Befinden über körperliche Aktivität sowie körperliches Befinden durch psychische Prozesse zu beeinflussen, ist eine wesentliche Lernaufgabe zur Stärkung gesundheitsförderlicher Ressourcen.

Betriebliche Rahmenbedingungen erschweren die Wahrnehmung des eigenen Körpers teilweise. Das Bewusstsein für die leiblichen Erfahrungen in der Arbeit bietet Ansatzpunkte für Veränderungen der Arbeitsverhältnisse. Dazu gehören ergonomische Optimierungen(z. B. an den Bildschirmarbeitsplätzen), die Verbesserung der Arbeitsumgebung (z. B. Lärm, Temperatur, Raumklima, Gestaltung der Arbeits- und Pausenräume) oder Veränderungen der Arbeitsorganisation (z. B. Arbeitsabläufe, Wechsel von Tätigkeiten, Pausengestaltung) sowie die Wahrnehmung von psycho-sozialen Bedürfnislagen (z. B. Kommunikation).

Aufmerksamkeitsfokussierung

Csikszentmihalyi (2017) beschreibt die Erfahrung, sich ganz auf Tätigkeiten und Situationen zu konzentrieren, mit dem Begriff Flow-Erleben. Die Person weiß jederzeit und ohne nachzudenken, was zu tun ist. Die Beanspruchung der Person ist passend. Das Geschehen wird von einem sicheren Gefühl der Kontrolle begleitet. Die Konzentration auf die Sache erfolgt selbstverständlich. Die Zeit wird vergessen und die Personen gehen ganz in ihrer Tätigkeit auf. Flow-Erleben eröffnet die Möglichkeit des genussvollen Erlebens und kann das Selbstwertgefühl positiv unterstützen.

In Arbeitszusammenhängen kann Flow-Erleben gestärkt werden, wenn Anforderungen und Fähigkeiten im Einklang sind. Unter- und Überforderungen quantitativer und qualitativer Art sind zu vermeiden.

Erholungsfähigkeit

Die Fähigkeit, sich nach Belastungen ausreichend erholen zu können, stellt eine wichtige Ressource dar. Erholung unterstützt die Wiederherstellung von Handlungsvoraussetzungen. In Abhängigkeit von der Art der Belastungen unterscheiden sich die erforderlichen Erholungsmaßnahmen. Dies kann z. B. bedeuten, nach monotonen Tätigkeiten etwas Anregendes zu tun, nach psychischem Stress zur Ruhe zu kommen oder Spannung motorisch abzubauen. Die Sensibilität für Erholungsbedarfe kann aufgrund einer Senkung der Wahrnehmungsschwelle für körperliche Signale bei Stress vermindert sein (Kap. 5.1).

Erholungsmaßnahmen im Arbeitskontext können institutionalisierte Bewegungsmöglichkeiten, erholungsgerechte Pausengestaltung oder Stärken des sozialen Miteinanders darstellen. Tätigkeiten können umgestaltet werden (z. B. Aufgabenwechsel oder die Festlegung eines individuell angemessenen Ausgangsniveaus). Personenbezogene Erholungsmaßnahmen werden dann bedeutsamer, wenn die Tätigkeiten oder Umweltbedingungen sich als nicht veränderbar erweisen. Eine Erholungsbereitschaft muss geschaffen und adäquate Beanspruchungs- und Belastungszyklen hergestellt werden. Eine individualisierte Vorgehensweise ist geboten, um individuell erholsame Aktivitäten herauszufinden.

Körperliche Aktivität

Die Datenlage zeigt, dass körperliche Aktivität die Gesundheit stärkt (Schlicht / Brand 2007, Schlicht et al. 2013). Das Risiko einer koronaren Herzkrankheit sowie an Diabetes zu erkranken wird vermindert. Die Gefahr der Fettleibigkeit wird durch regelmäßige moderate körperliche Aktivität um 50% und das Risiko des Bluthochdruckes um 30% reduziert. Für den Prozess des Älterwerdens ist die Stärkung der Knochenmasse und der Erhalt der motorischen Grundeigenschaften bedeutsam, um den funktionellen Abbau der Organe und des Halte- und Bewegungsapparates zu vermindern. Somit kann die Selbständigkeit von älteren Menschen länger bewahrt werden. Körperliche Aktivität wirkt sich auch auf die psychische Gesundheit aus. Das Erkrankungsrisiko für affektive Störungen wird reduziert. Selbstachtung und psychisches Wohlbefinden werden gefördert (Schlicht / Brand 2007, Schlicht et al. 2013).

Soziale Unterstützung

Sozial isolierte Menschen weisen ein höheres Erkrankungsrisiko auf als Personen mit einem stabilen sozialen Netzwerk. Studien auf psychophysischer Ebene zeigen, dass soziale Unterstützung auch das körperliche Stressniveau senkt (Ditzen / Heinrichs 2007). Dies zeigt sich beispielsweise in einer Senkung des Blutdruckes und der Herzsequenz. Sowohl die tatsächlich erhaltene Hilfe als auch ein soziales Netzwerk im Hintergrund (wahrgenommene Unterstützung) erweisen sich als gesundheitsrelevant. Soziale Unterstützung verringert das Mortalitätsrisiko und stärkt insbesondere die psychische Gesundheit und ein positives Gesundheitsverhalten. Soziale Unterstützung beinhaltet strukturelle Aspekte und eigene Verhaltensanteile (Franzkowiak 2018a). Die Ebene der sozialen Organisationen, in die ein Mensch integriert ist, sowie die quantitative und qualitative Ausprägung von sozialem Beistand und sozialer Anerkennung erweisen sich als Teilaspekte dieses Schutzfaktors. Art, Qualität und Umfang der Sozialbeziehungen sind für die Gesundheit eines Menschen von zentraler Bedeutung. Soziale Bindungen und Netzwerke können einen Menschen vor dem Auftreten von Belastungen schützen, zu positiver Verarbeitung und Toleranzsteigerung beitragen (Franzkowiak 2018a).

Selbstlernaufgabe: Welche gesundheitlichen Schutzfaktoren können im betrieblichen Kontext gestärkt werden?

Bengel, J., Lyssenko, L. (2012): Resilienz und psychologische Schutzfaktoren im Erwachsenenalter: Stand der Forschung zu psychologischen Schutzfaktoren von Gesundheit im Erwachsenenalter. BZgA, Köln

1.2.3 Das Systemische Anforderungs- und Ressourcen (SAR)-Modell

Becker (2006) gelingt mit seinem Systemischen Anforderungs-Ressourcenmodell (SAR-Modell) der Gesundheit eine Verknüpfung der Person-Umwelt-Interaktionen. Die Grundannahme dieses Modells besagt, dass die Gesundheit eines Menschen davon beeinflusst wird, wie es ihm gelingt interne und externe Anforderungen mit Hilfe interner und externer Ressourcen zu bewältigen (Abb. 6).


Abb. 6: Gesundheit als Wechselspiel von Anforderungen und Ressourcen (nach Becker 2006)

Störungen der Gesundheit werden nach Becker als Passungsstörungen zwischen Mensch und Umwelt betrachtet. Die jeweiligen krankheits- bzw. gesundheitsbezogenen Sichtweisen entsprechen subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen, die es abzugleichen gilt. Gesundheit steht in engem Zusammenhang mit der Befriedigung von physiologischen, emotionalen und psychosozialen Bedürfnissen auf der Basis von internen und externen Ressourcen (Becker 2006).

Gesundheit als Bedürfnisbefriedigung

Es stellt sich die Frage, ob die Lebensbereiche ausreichend Ressourcen anbieten, um interne oder externe Anforderungen zu bewältigen. Unter internen Anforderungen werden Bedürfnisse verstanden. Dazu gehören physiologische Bedürfnisse, Explorations- und Selbstaktualisierungsbedürfnisse sowie nach Sicherheit, Orientierung und Kontrolle. Soziale Bedürfnisse nach Liebe, Bindung, Achtung und Wertschätzung werden ebenso den internen Anforderungen zugeordnet (Becker 2006).

Interne und externe Anforderungen

Ziele, Wünsche, Ich-Ideale, Werte, Normen und Regeln wirken zudem als interne Anforderungen. Anforderungen, die von der Umwelt ausgehen, wie z. B. soziale Regeln, Normen, Vorschriften werden als externe Anforderungen (Becker 2006) verstanden. Diese lassen sich unterschiedlichen Lebensbereichen zuordnen (Becker 2006): Ausbildung, Beruf, Arbeit, (Kern)Familie und Partnerschaft, Freundeskreis und Freizeit.

Interne und externe Ressourcen

Externe Ressourcen können in den Lebensbereichen Familie, Soziales Netzwerk, Arbeit, Ausbildung zu finden sein. Um Ressourcen von außen nutzen zu können, benötigen Menschen interne Ressourcen (Becker 2006):

■ Wissen und Intelligenz

■ Soziale Kompetenzen

■ Körperliche Fitness und Attraktivität

■ Persönlichkeitseigenschaften: Extraversion / Offenheit, Verträglichkeit, Gewissen, Kontrolliertheit, emotionale Intelligenz, hohes Selbstwertgefühl

■ Hohe internale Kontrollüberzeugung und Selbstwirksamkeitserwartung

Gesundheit steht in engem Zusammenhang mit der Befriedigung von physiologischen, emotionalen und psycho-sozialen Bedürfnissen auf der Basis von internen und externen Ressourcen.

Selbstlernaufgabe: Wie unterscheidet sich das Salutogenese-Modell von Antonovsky von dem SAR-Modell von Becker? Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede sind feststellbar?

1.3 Auf dem Weg zu einem integrativen und interdisziplinären Gesundheitsverständnis

Zur Entwicklung eines integrativen und interdisziplinären Gesundheitsverständnisses, das disziplinübergreifend konsensfähig ist, definieren Hurrelmann / Richter (2013) acht Leitsätze für eine begriffliche Annäherung:

„Maxime 1: Gesundheit und Krankheit ergeben sich aus einem Wechselspiel von sozialen und personalen Bedingungen, welches das Gesundheitsverhalten prägt“ (Hurrelmann / Richter 2013, 139).

Das Gesundheitsverhalten wird nicht der alleinigen Verantwortung des Individuums zugeschrieben, sondern steht in einer Wechselbeziehung mit der Lebenswelt, der Gesellschaft und der Persönlichkeit des Menschen. Dies erklärt, warum Menschen sich entgegen ihres kognitiven Wissens teilweise nicht gesundheitsorientiert verhalten und gesundheitliche Risiken eingehen.

Für die betriebliche Gesundheitsförderung lässt sich davon ableiten, dass diese Wechselbeziehung in den Blick genommen werden sollte. Das bedeutet, dass sowohl das individuelle Verhalten als auch die Arbeitsverhältnisse in die Betrachtung einbezogen werden müssen.

„Maxime 2: Die sozialen Bedingungen (Gesundheitsverhältnisse) bilden den Möglichkeitsraum für die Entfaltung der personalen Bedingungen für Gesundheit und Krankheit“ (Hurrelmann / Richter 2013, 140).

Soziale Bedingungen ermöglichen oder behindern die Entfaltung von personellen Gesundheitspotentialen oder Defiziten.

Mit der Digitalisierung ist ein hohes Maß an Sitzen an Büroarbeitsplätzen verbunden. Dies sorgt möglicherweise dafür, dass Menschen, die grundsätzlich gerne körperlich aktiv sind, psychisch ermüdet nach Hause kommen und keine Energie mehr zu körperlicher Aktivität aufbringen. Umgekehrt kann eine Berufswahl, die mit körperlicher Aktivität verbunden ist, dafür sorgen, dass sich ein Mensch ausreichend bewegt, obwohl Sport nicht zu seinem Interessenspektrum gehört.

„Maxime 3: Gesundheit ist das Stadium des Gleichgewichts, Krankheit das Stadium des Ungleichgewichts von Risiko- und Schutzfaktoren auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene“ (Hurrelmann / Richter 2013, 141).

Faktoren, die das Risiko für das mögliche Auftreten einer Erkrankung fördern, wie zum Beispiel Rauchen oder Bewegungsmangel stehen in einer Wechselbeziehung mit anderen körperlichen, psychischen und sozialen Schutz- und Risikofaktoren.

So kann Rauchen einerseits zu einem subjektiv wahrgenommenen Entspannungsempfinden führen, da die Person, den Arbeitsplatz verlässt, sich austauscht, um sich gedanklich von belastenden Einflüssen der Arbeit für kurze Zeit zu lösen.

„Maxime 4: Gesundheit und Krankheit als jeweilige Endpunkte von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtsstadien haben eine körperliche, psychische und soziale Dimension“ (Hurrelmann / Richter 2013, 142).

Gesundheit wird als Gleichgewichtsprozess von körperlichen, sozialen und psychischen Faktoren verstanden. Gleichgewichts- oder Ungleichgewichtssituationen auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene beeinflussen sich gegenseitig.

Eine körperliche Einschränkung am Bewegungsapparat kann zu körperlicher Inaktivität führen, die wiederum körperliche, aber auch psychische und soziale Auswirkungen zur Folge hat. Die Wahrscheinlichkeit für eine Zunahme des Körpergewichtes erhöht sich, soziale Kontakte, die über die Teilnahme an sportlichen Aktivitäten gepflegt wurden, gehen zurück und das Selbstwertgefühl wird möglicherweise negativ beeinflusst.

„Maxime 5: Gesundheit ist das Ergebnis einer gelungenen, Krankheit einer nicht gelungenen Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen“ (Hurrelmann / Richter 2013, 143).

Ein Mensch muss sich mit Anforderungen auseinandersetzen, die er sich selbst stellt und mit solchen, die aus der Umwelt an ihn herangetragen werden (Kap. 1.2.3). Eine erfolgreiche Bewältigung stärkt die Gesundheit, während Misserfolge in der Bewältigung von Anforderungen zu Stresserleben (Kap. 5.1.1) führen können.

Eine Person, die hohe Leistungsanforderungen an sich stellt und nicht in der Lage ist diese zu befriedigen, kann dies als Belastung empfinden oder eine resignative Einstellung entwickeln.

Niedrige äußere Anforderungen, d. h. langanhaltende Unterforderung kann eine psychische Fehlbelastung für eine Person darstellen (Kap. 3.3.3).

„Maxime 6: Persönliche Voraussetzung für Gesundheit ist eine körperbewusste, psychisch sensible und umweltorientierte Lebensführung“ (Hurrelmann / Richter 2013, 144).

Erfolgreich bewältigte Anforderungen gehen häufig mit einem Maß an Lebenszufriedenheit und positiven Befinden einher. Besonders bedeutsam bewerten Hurrelmann / Richter (2013) eine positive Einstellung zu den Belastungen des Alltagslebens und eine optimistische Einstellung zur Zukunft sowie ein hohes Maß an Akzeptanz der eigenen Körperlichkeit und der eigenen Person (Kap. 1.2.2).

„Maxime 7: Die Bestimmung der Ausprägungen und Stadien von Gesundheit und Krankheit unterliegt einer subjektiven Bewertung“ (Hurrelmann / Richter 2013, 142).

Das subjektive Erleben des individuellen Gesundheitsprozesses ist nicht deckungsgleich mit objektiv messbaren Parametern oder diagnostizierten gesundheitlichen Störungen. So kann eine Person mit einer diagnostizierten chronischen Erkrankung ein erfülltes Leben führen und sich subjektiv gesund fühlen.

„Maxime 8: Fremd- und Selbsteinschätzung von Gesundheits- und Krankheitsstadien können sich auf allen drei Dimensionen – der körperlichen, der psychischen und der sozialen – voneinander unterscheiden“ (Hurrelmann / Richter 2013, 33.)

Eine Person kann sich in der körperlichen Dimension als sehr krank erleben, auch wenn diese Einschätzung von Gesundheitsexperten nur zum Teil unterstützt wird. Es ist denkbar, dass ein Mensch sich subjektiv sozial beeinträchtigt fühlt, auch wenn dieser alle Aufgaben und Rollen im Leben gut erfüllt und aus der Sicht der im Gesundheitswesen tätigen Personen als gut integriert eingeschätzt wird.

Hurrelmann / Richter (2013) definieren Gesundheit aus interdisziplinärer Perspektive sehr umfassend und integrieren darin die zentralen bio-psycho-sozialen Gesundheitsmodelle wie folgt:

„Gesundheit bezeichnet den Zustand des Wohlbefindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich psychisch und sozial in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist nach diesem Verständnis ein angenehmes und durchaus nicht selbstverständliches Gleichgewichtsstadium von Risiko- und Schutzfaktoren, das zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer erneut in Frage gestellt ist. Gelingt das Gleichgewicht, dann kann dem Leben Freude und Sinn abgewonnen werden, es ist eine produktive Entfaltung der eigenen Kompetenzen und Leistungspotentiale möglich und es steigt die Bereitschaft, sich gesellschaftlich zu integrieren und zu engagieren“ (Hurrelmann / Richter 2013, 147).

Beim Transfer der Definition auf ein Beispiel der Arbeitswelt, könnte demnach ein / e ArbeitnehmerIn als gesund bezeichnet werden, wenn diese sich grundlegend wohl fühlt. Dieses positive Wohlbefinden basiert einerseits auf einer Deckung der beruflichen und privaten Ziele und Möglichkeiten im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten. Ein beruflich kompetenter und zielstrebiger Mensch ist an einem Arbeitsplatz tätig, der Entwicklungsmöglichkeiten und den Einsatz der Kompetenz eröffnet. In der Lebensgestaltung existiert ein Gleichgewicht zwischen Stressoren und Schutzfaktoren. Übertragen auf die Arbeitswelt könnte dies bedeuten, dass auf der einen Seite eine durchaus fordernde berufliche Tätigkeit mit hohem Zeit- und Präzisionsdruck (Stressor), einer hohen Lärmbelastung und einer hohen Anzahl an Überstunden, auf der anderen Seite der Integration in ein gut funktionierendes Team getragen von Wertschätzung und kooperativer Haltung und einem hohen Maß an Selbstbestimmung gegenübersteht. Auf diese Weise ist eine produktive Entfaltung der eigenen Kompetenzen und Leistungspotentiale möglich. Die Person entwickelt eine Bereitschaft und ein hohes Maß an Engagement für den Betrieb.

Becker, P. (2006) : Gesundheit durch Bedürfnisbefriedigung. Hogrefe, Göttingen

Franke, A. (2012) : Modelle von Gesundheit und Krankheit. 3. Aufl. Huber, Bern

Hurrelmann, K., Richter, M. (2013) : Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. 8. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim

Hurrelmann, K., Richter, M. (2013) : Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. 8. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim

Bio-psycho-soziales betriebliches Gesundheitsmanagement für Sozial- und Gesundheitsberufe

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