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Die Nacht im Wald und das, was sich im Wald verbarg

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Die Abenddämmerung hatte eingesetzt. Der dichte Laubwald schien kein Ende nehmen zu wollen. An vielen Stellen waren die Äste so weit in den Schienenbereich hineingewachsen, dass sie die vorbeifahrende Gondel streiften.

Er wurde langsam nervös. Die Sonne war schon fast untergegangen, und jeden Augenblick würde die Dunkelheit hereinbrechen. Dann plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte etwas Ungeheuerliches vor ihm auf: Ein paar hundert Meter voraus erblickte er einen riesigen Statuenkopf, der sogar die höchsten Baumwipfel überragte. Er stellte das Haupt eines Mannes dar. Antilius war überwältigt. Diese Statue musste unfassbar riesig sein. Kurz nach seiner Entdeckung näherte er sich auch schon der von ihm sehnlichst erwarteten Abzweigung. Ein Zug am entsprechenden Hebel an der Schalttafel der Gondel genügte, um auf die abzweigende Schiene zu gelangen. Kurz darauf hielt die Gondel in einer der zahlreichen Parkbuchten, die genauso ausschauten wie die am Bahnhof. Als Antilius dann aus der Gondel ausstieg, stutzte er, weil keine andere Parkschiene besetzt war. Er war wieder ganz allein. Dieses aufkeimende Gefühl von Einsamkeit gefiel ihm überhaupt nicht.

Die monströse Statue war durch den dichten Wald von hier aus nicht zu sehen. Er holte seine Tasche mit dem Zelt darin aus dem Laderaum der Gondel heraus und lief den kurzen, sehr dicht mit Sträuchern bewachsenen Weg zum Platz des Alten Denkmals. Als er es endlich erreichte, eröffnete sich ihm eine surrealistische Kulisse. Die Statue, deren Kopf er bisher als Einziges gesehen hatte, war wirklich unglaublich riesig. Er schätzte, dass sie etwa vierzig Meter oder mehr in die Höhe ragte. Die steinerne Gestalt lagerte ihr Gewicht auf das linke durchgedrückte Bein, während das andere leicht angewinkelt war. Einen Arm stützte sie in die Hüfte. Der andere hielt ein riesiges Schwert.

Wer mochte diese Person gewesen sein? Da Antilius die Statue bis dahin nur von der Seite gesehen hatte, lief er soweit um sie herum, bis er sie direkt von vorne betrachten konnte. Unter ihren Füßen, auf dem riesigen Sockel erblickte er eine stark oxidierte Kupferplatte, auf der 'Der König Arcadiens, der den Frieden brachte.' geschrieben stand.

Antilius runzelte die Stirn. Arcadien? Einen Ort oder eine Stadt mit diesem Namen gab es heute nicht mehr. Die Zeit, als es noch Könige gab, war vermutlich weit über 900 Jahre her. Im Königskrieg wurden unfassbarerweise fast sämtliche Aufzeichnungen und Dokumente, die heute Auskunft über das damalige Zeitgeschehen hätten geben können, vernichtet. Es gab auf ganz Thalantia nur noch wenige Gelehrte, die durch mündliche Überlieferungen noch in der Lage waren, die Zeit der Könige annähernd zu rekonstruieren.

Langsam löste Antilius seinen Blick von der Statue und schaute sich um. Eine wunderschöne runde Brunnenanlage zierte zu Füßen des steinernen Königs den Platz. Sie funktionierte allerdings nicht mehr. Langes lindgrünes Gras wuchs in dem kreisförmigen Becken. Alles war ziemlich verwahrlost. So überwucherten Unkraut und Büsche die Seitenränder des Beckens.

Auf dem runden Platz, der vom Wald eingeschlossen war, standen überall mehrere Bänke und verwitterte Laternen. Genau wie der Brunnen auch, hatte die Natur alles übergrünt und ließ einen nur erahnen, wie es hier ausgesehen haben mochte, als es den Wald noch nicht gegeben hatte. Dies war ein sehr belebter Ort gewesen, doch der einstige Kult um diesen König musste irgendwann abgeebbt sein. Niemand kam mehr hierher.

Antilius baute rasch sein kleines Zelt auf. Er wollte sich schon schlafen legen, da hörte er plötzlich hinter sich ein leises Knacken, das von einem kleinen brechenden Ast ausgelöst wurde. Schnell drehte er sich um und schaute angestrengt in den dunklen Wald. Vielleicht näherte sich ja eines dieser gefräßigen Piktins. Er ging etwas dichter auf den Waldrand zu. Mittlerweile war es zwischen den Bäumen schon ziemlich dunkel geworden. Nur noch wenig war zu erkennen. Besorgt holte er seine kleine Petroleumlampe aus dem Zelt, entzündete sie und leuchtete damit sorgfältig die Stelle ab, aus der das Geräusch gekommen war. Er konnte jedoch nichts Ungewöhnliches ausmachen. Vielleicht war es ja irgendein kleines Tier, das hier lebte, oder es war einfach nur ein vertrockneter Ast, der von einem Baum gefallen war.

Vielleicht.

Die Angst, nachts im Schlaf von diesen Tieren verspeist zu werden, kroch eiskalt in ihm hoch. Aber vermutlich hatte der Alte vom Bahnhof ihm mit der Gruselgeschichte über die Piktins nur Angst machen wollen.

Antilius ging zurück zu seiner Gondel und fischte aus dem Gepäckraum ein kleines Messer heraus – nur zur Sicherheit.

Mittlerweile war es nun fast gänzlich dunkel geworden. Sehnsüchtig blickte er auf die Laternen des Platzes. Sie spendeten wohl schon seit Jahrhunderten kein Licht mehr und würden es auch in dieser Nacht nicht tun. Dann hörte er wieder ein 'Knack' aus dem Wald, nur diesmal lauter. Er erstarrte und horchte. Wieder knackte es, und noch einmal. Und dann vernahm er zu seinem Entsetzen sogar zwei Schrittgeräusche, die er wegen des mit trockenem Laub bedeckten Waldbodens unzweideutig hören konnte. Was immer diese Geräusche verursacht hatte, es war groß.

Antilius begriff, dass sich ihm irgendjemand oder irgendetwas näherte. Hastig griff er wieder nach seiner Petroleumlampe und leuchtete den Waldrand ab.

Nichts war zu entdecken. Doch dann konnte er einen Schatten am Rand seines Lichtkegels ausmachen, der hinter einem breiten Baumstamm verschwand. Er sah so aus, als stamme er von einem Menschen. Oder auch nicht. Auf jeden Fall ging es auf zwei Beinen.

»Wer ist da? Kommen Sie raus!«

Nichts geschah. Absolute Stille. Antilius’ Puls raste. Seine Muskeln spannten sich. »Ich kann Sie sehen, also kommen Sie heraus!« Mit diesem Bluff wollte er den Unbekannten austricksen, denn sehen konnte er praktisch gar nichts.

Nichts rührte sich.

»Vorsicht hinter dir!« Die Stimme, die Antilius warnte, kam von der Seite. Er fuhr ruckartig in Richtung dieser Stimme herum, wobei der Lichtkegel seiner Körperbewegung folgte. Doch bevor er sich vollständig umdrehen konnte, spürte er einen harten Schlag im Genick. Antilius ließ seine Lampe fallen, sackte zusammen und verlor sofort das Bewusstsein. Seinen Angreifer sah er nicht mehr.

Auch sah er nicht, wie das schwarze Wesen, das ihn niedergeschlagen hatte, damit begann, sein Zelt zu durchwühlen. Zwei weitere Gestalten traten in den Lichtkegel der auf dem Boden liegenden Lampe. Und noch eine weitere Gestalt tauchte auf. Aber sie kam nicht wie die anderen aus dem Wald, sondern aus der Luft. Die auf dem Rücken des Geschöpfs gewachsenen Flügel waren voll aufgespannt, als es auf dem Boden mit seinen krallenartigen Füßen landete. Mit abwechselnd zischenden und knackenden Lauten gab es Befehle an die anderen drei. Diese wiederum antworteten in der gleichen Sprache, wobei sie den Befehlsgeber direkt anschauten, um seine Position als Anführer zu respektieren.

Die Wesen intensivierten daraufhin ihre Zeltdurchsuchung, und eines hastete zur Gondel, in der Antilius sein Gepäck hatte liegen lassen. Es stieß den Laderaum der Gondel auf und zerrte wild alle darin befindlichen Sachen heraus. Der Anführer hingegen rührte sich nicht und beobachtete mit seinen großen, gelben Augen, die hervorragend in der Dunkelheit sehen konnten, das Treiben seiner Untergebenen.

»Verschwindet oder ich werde euch grillen!« Diese Drohung stieß die gleiche Stimme aus, die Antilius zuvor vor dem Angriff aus dem Hinterhalt vergeblich gewarnt hatte. Die geflügelten Wesen schreckten auf, schauten sich verängstigt um, konnten aber trotz ihres sehr guten Sehvermögens nichts erkennen.

»Feuer! Feuer! Lauft um Euer Leben!«, schrie die Stimme aus der Dunkelheit.

Daraufhin brach Panik bei den Dieben aus. Der eine, der gerade dabei war, die Gondel leer zu räumen, rannte zurück in den Wald, wobei er alles nur irgend möglich Tragbare, das er gefunden hatte mitnahm. Der Anführer breitete wieder seine großen, mit einer dunklen Haut bespannten Flügel aus und hob mit kräftigen Schlägen ab. Die beiden, die das Zelt durchwühlt hatten, taten es ihm gleich.

Ein Feuer gab es aber nicht.

»Ha! Feiglinge, elende Feiglinge!«, triumphierte die Stimme.

Danach wurde es eine Weile still. Die Diebe waren verschwunden, und Antilius hatte immer noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt.

»He du! Aufwachen! Wach auf, na los!«

Doch Antilius hörte die Stimme nicht. Der Schlag ins Genick hatte ihn in eine lang anhaltende Ohnmacht gestürzt.

Etwa eine Mondstunde später kam Antilius endlich wieder zu sich.

Ihm war furchtbar übel. Sein Nacken schmerzte und sein Kopf fühlte sich an, als ob er jeden Moment platzen würde. Er wollte aufstehen und zu der Gondel laufen, um nachzusehen, ob dort etwas gestohlen worden war. Als er jedoch auf beiden Beinen stand, befiel ihn ein heftiger Schwindelanfall. Er taumelte und schaffte es gerade noch, sich an einer der überwucherten Bänke festzuhalten und sich zu setzen.

Er beschloss, sich in sein Zelt zu verkriechen und sich hinzulegen. Als er sich dann stöhnend vor Schmerzen auf den Rücken legte, horchte er noch einmal, ob sich draußen etwas bewegte.

Irgendwann schlief er ein. Es war aber nur ein leichter und unruhiger Schlaf.

In der frühen Morgendämmerung erwachte er. Er setzte sich in seinem Zelt auf und stellte erleichtert fest, dass er sich schon viel besser fühlte. Er lief hinüber zum Gondelstellplatz. Schon aus einiger Entfernung konnte er sehen, dass die Ladeluke seiner Gondel offen stand. Als er sein Gefährt erreichte, bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Alles war verschwunden. Seine komplette Ausrüstung. Seine Kleidung, sein Proviant, alles.

Er seufzte. Er fühlte sich aber noch zu schwach, um sich aufzuregen oder zu fluchen. Was sollte er jetzt machen? Ohne Ausrüstung wäre seine Reise unter Umständen völlig sinnlos.

»He du! Wo bist du? Komm her zu mir!«

Antilius erschrak und wandte sich in Richtung des Denkmalplatzes, um zu sehen, woher die Stimme kam.

»Na los! Komm her zu mir!«

Antilius hielt es für besser, nicht zu antworten. Vielleicht rief da derjenige, der ihn niedergeschlagen hatte. Geduckt schlich er am Wegesrand zurück zum Platz.

»Hallo! Ich kann dich doch sehen. Na los, komm her!«

Antilius schwieg weiter. Hinter einem Busch versteckt, versuchte er, den Fremden ausfindig zu machen. Er konnte aber wieder niemanden sehen.

»Hier bin ich! Hier gegenüber! In dem Laub. Hierher!«

Jetzt konnte Antilius genau ausfindig machen, dass die Stimme irgendwo von dem Rand des Platzes neben einer der Bänke kam. Er kam vorsichtig aus seinem Versteck hervor und lief hinüber zu der Bank, von der die Stimme zu kommen schien.

»Hierher!«

Antilius kniete neben der Bank nieder und sah aber immer noch niemanden.

»Direkt vor deiner Nase. Hier bin ich!«

Dann bemerkte er etwas. Etwas im Laub. Es war aus Metall. Und aus Glas. Er schob mit seiner Hand die Blätter zur Seite und zum Vorschein kam ... ein Spiegel. Ein kleiner rechteckiger Handspiegel mit einem Griff an der Unterseite, der gegen einen moosbewachsenen Stein gelehnt war.

»Es wäre schön, wenn du den Spiegel mal in die Hand nehmen würdest. Dann kann ich dich sehen und du mich.«

Antilius starrte den Spiegel mit weit geöffnetem Mund an. Zunächst glaubte er an irgendeinen Trick. Eine Illusion. Vielleicht hatte ihn der Schlag von letzter Nacht härter getroffen als geglaubt. Aber dem war nicht so.

»Nun mach schon!«, forderte ihn die Stimme ungeduldig auf.

Vorsichtig streckte Antilius eine Hand nach dem Spiegel aus. Er berührte den schnörkellosen Griff, zögerte noch einmal und umschloss ihn dann fest.

Eigentlich erwartete er, in dem Spiegel sein eigenes Gesicht zu sehen, aber was sich ihm jetzt bot, ließ ihn die Luft anhalten. Antilius konnte durch das Spiegelglas hindurchsehen wie durch ein Fenster. Hinter dem Glas stand ein schmächtiger Mann mit braunen Haaren und abgewetzter Kleidung. Er befand sich in einem kleinen Zimmer mit nur einem einzigen Fenster. An der rechten Seite stand ein kleines Bett. An der gegenüberliegenden Seite ein einfacher alter Holztisch mit einem noch einfacheren Stuhl.

»Was ... Wer ...«, Antilius brachte keinen vollständigen Satz heraus. Er war völlig perplex.

Der Mann hinter dem Spiegelglas nickte verständnisvoll: »Schon gut. Ich verstehe schon. Glaube mir, du bist nicht der Erste, dem die Kinnlade herunterklappt. Stell dir vor, einmal ist jemand sogar schon in Ohnmacht gefallen, weil er dachte, ich wäre so eine Art böser Kobold, aber das mit der Ohnmacht hast du ja schon hinter dir, nicht wahr? Ich hoffe, du bist kein Wiederholungstäter.« Der Mann lächelte augenzwinkernd. »Gilbert.«

»Was?«

»Gilbert. Das ist mein Name. Und du bist ...«

»Antilius. Wie ... wie bist du in den Spiegel geraten?«

Gilberts Miene wurde ernster. »Du glaubst doch wohl nicht, du wärst der Erste, der mich so etwas fragt? Es ist eine lange Geschichte, die dich nur langweilen würde«, sagte Gilbert.

»Wie du willst.« Antilius schaute noch einmal genauer in das Bild, das der Spiegel ihm bot. Gilbert trat sogar ein Stück zur Seite, damit er sein Zimmer genauer betrachten konnte. Hinter dem Fenster von Gilberts Zimmer strahlte ein hellblauer Himmel, der am Horizont auf eine gigantische Wildblumenwiese traf.

»Ich weiß, es ist nicht gerade eine Luxusherberge, aber man kann es sich halt nicht immer aussuchen.«

»Ist dies hier so eine Art Kommunikationsinstrument, über das wir uns sehen und sprechen können?«, wollte er wissen.

»Nein. Das ist es nicht. Ich bin nicht irgendwo anders und spreche mit dir. Nein, ich bin hier in diesem Spiegel gefangen. Dies ist ein Gefängnis für jedwede Art von Lebensform, die es auf Thalantia gibt.«

»Das verstehe ich nicht. Und... und wie siehst du mich?«

»Ich habe hier auch einen Spiegel. Er hängt an der Wand und ich sehe dich im Wald stehen. Hinter dir erhebt sich diese entsetzlich protzige Statue, deren Bildhauer wohl so wenig Talent gehabt haben muss, sodass er seine Hände mit seine Füßen verwechselte.«

»Was heißt, du bist im Spiegel gefangen?«

»Ich wurde zur Strafe hierher verbannt, obwohl ich nicht einmal einen Prozess bekommen habe. Du kannst dir das nicht vorstellen, aber das ist die schlimmste Strafe, die es auf der Siebeninselwelt gibt. Ich kann hier nicht einmal etwas essen und verhungere trotzdem nicht. Diese Strafe wird heute gar nicht mehr angewendet, weil es keine Spiegel mehr gibt, soweit ich weiß. Aber niemand, den ich bisher getroffen habe, weiß, wie ich hier wieder rauskommen kann.«

»Dein Zimmer hat keine Tür«, bemerkte Antilius.

»Genau! Praktisch, nicht wahr? So ist es mir unmöglich, jemals zu entkommen«, sagte Gilbert zynisch.

»Warum kannst du nicht einfach durch das Fenster steigen?«

»Ja, das könnte ich machen, aber ich tue es nicht, weil es nämlich dort draußen nichts gibt.«

»Aber ich sehe doch Gras und die Sonne!«

»Das ist nur ein Konstrukt meiner Fantasie. Dort draußen könnte auch genauso gut ein höllischer Schneesturm treiben. Nein, da ist nichts. Und wenn ich versuchen würde, in das Nichts zu gehen, dann werde ich auch zu Nichts. Verstehst du?«

»Na ja, nicht vollkommen. Das ist wirklich alles sehr verwunderlich.« Antilius machte eine Pause. »Man hat dich also aufgrund eines Verbrechens in dieses ... dieses Gefängnis gesperrt?«

Gilbert wurde laut: »Es kommt darauf an, wie man Verbrechen definiert. Ich bin mir sicher, dass du es auch nicht als Verbrechen bezeichnen würdest. Ganz im Gegenteil.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass ich hier zu Unrecht eingesperrt bin! Bitte, nimm mir das nicht übel, aber ich habe jetzt wirklich keine Lust mehr, darüber zu sprechen.«

»Na schön. Darf ich dann wenigstens fragen, wie dieser Spiegel hierher gekommen ist?«

»Mein alter Meister hat mich hier einfach in den Dreck geschmissen. Mit dem habe ich noch eine Rechnung offen.«

Antilius runzelte die Stirn. »Dein alter Meister?«

Gilbert zog sich den einzigen Stuhl in seinem Zimmer heran und setzte sich. »Zu meiner Bestrafung gehört es ebenfalls, dass ich, oder besser gesagt mein Spiegel, an eine ausgewählte Person geschickt werde. Diese Person ist dann mein Meister, wenn sie es denn sein will. Du glaubst ja gar nicht, wie viele Verrückte es da draußen gibt.

Mein letzter Meister war wohl meiner überdrüssig geworden, was im Übrigen auf Gegenseitigkeit beruhte, sodass er sich meiner Präsenz entledigte. Seit mehr als neunzig Tagen liege ich nun schon hier. Diese Einsamkeit ist einfach schrecklich. Aber jetzt bist du ja da. Du bist mein neuer Meister.«

»Was? Ich bin gar nichts! Soll ich dich etwa die ganze Zeit mit mir herumschleppen?«

Gilbert stand von seinem Stuhl auf und ging näher an den Spiegel heran. »He, denk mal bitte daran, wer diese Gorgens vertrieben hat! Wenn ich sie nicht verscheucht hätte, dann hättest du mehr als nur Kopfschmerzen.«

»Gorgens? Sind das die, die mich ausgeraubt haben?«

Gilbert nickte. »Ich wollte dich ja noch warnen, aber da war es schon zu spät. Die Sachen, die sie dir gestohlen haben, wirst du wohl nie wieder sehen. Tut mir Leid.«

»Also du warst die Stimme aus dem Nichts.« Antilius überlegte. »Nun, dann muss ich mich wohl bedanken, dass du versucht hast, mir zu helfen. Wenn du willst, dann nehme ich dich mit in die Stadt und dort könnte ich dich ja an jemanden ...«

»Nein! Nein!«, rief Gilbert. »Bitte! Gib mich nicht wieder her! Kann ich nicht bei dir bleiben? Ich werde dir bestimmt auch keinen Ärger machen. Aber bitte gib den Spiegel nicht jemand anderem und lass ihn und damit auch mich nicht hier im Wald. Bitte tu das nicht.«

In diesem Augenblick sah Antilius etwas sehr Deutliches in Gilberts Augen. Wenn er es in Worte hätte fassen müssen, wäre der wohl passende Ausdruck Verzweiflung gewesen.

Unangenehme Stille folgte.

»Also gut, ich werde dich mit mir nehmen. Mir sind ja ohnehin alle anderen Sachen gestohlen worden.«

Gilberts Gesichtszüge entspannten sich sichtlich. »Wunderbar! Du wirst sehen, ich kann dir eine große Hilfe sein. Und jetzt erzähle mir, was du hier auf Truchten machst. Du bist nicht von hier, stimmt’s?«

»Sieht man mir das denn so deutlich an?«

Gilbert nickte eifrig.

»Ich bin auf der Suche nach einem Sternenbeobachter, namens Brelius Vandanten. Er ließ mir vor einigen Tagen einen Brief zukommen, in dem er andeutete, dass etwas Schreckliches passiert sei. Er bräuchte dringend meine Hilfe und ich sollte mich so schnell wie möglich zu ihm begeben.« Antilius hielt es zu diesem Zeitpunkt noch für ratsam, Gilbert nichts über seinen Gedächtnisverlust und das Wissen von Brelius um diesen zu erzählen. »Er kannte meinen Namen und wusste auch, wo ich wohne. Mir kam die Sache zwar ziemlich merkwürdig vor, aber ich entschloss mich, ihn aufzusuchen. Also packte ich meine Ausrüstung zusammen und reiste hierher. Aber nun ist alles weg, und wo dieser Brelius genau wohnt, weiß ich auch noch nicht.«

Gilbert machte ein nachdenkliches Gesicht. »Brelius Vandanten. Diesen Namen kenne ich in der Tat! Eigentlich kennt ihn fast jeder in Fara-Tindu, denn er war ein recht eigenartiger Mann. Ich habe allerdings lange nichts mehr von ihm gehört. Ich war allerdings auch lange nicht mehr in der Stadt. Aber keine Sorge. Ich kenne jemanden, der uns helfen könnte, ihn zu finden. Sein Name ist Pais Ismendahl. Wenn uns jemand helfen kann, dann er.«

»Na, dann wollen wir keine Zeit verlieren. Ich packe noch schnell das Zelt zusammen, und dann brechen wir auf.«

»In Ordnung, Meister.«

»Gilbert, du musst mich nicht Meister nennen. Antilius reicht völlig aus.«

Ob sich Gilbert daran halten würde, war mehr als fraglich.

Verlorenend

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