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Fara-Tindu
ОглавлениеDie Fahrt nach Fara-Tindu bot Antilius viel Zeit, sich mit Gilbert zu unterhalten.
»Wen, meintest du, Gilbert, können wir nach dem Aufenthaltsort von Brelius befragen?«
Gilberts Spiegel stand auf einer kleinen Ablage in der Gondel, die durch den endlos scheinenden Wald rauschte.
»Wir sollten zunächst Pais Ismendahl aufsuchen. Er ist einer der wenigen Gelehrten hier. Er stammt aus dem Haus Kellron, welches in den Ahnenländern liegt.«
»Die Ahnenländer? Ich habe gehört, dass es unmöglich sei, die Ahnenländer zu verlassen oder zu betreten.«
»Das ist richtig. Die Ahnenländer sind eine eigene kleine Insel, die einmal ein Teil von Truchten gewesen sein soll. Heute sind die Ahnenländer vom Rest dieser Inselwelt durch eine gigantische Felsschlucht getrennt, die keiner passieren darf – und kann. Um diese Schlucht ranken sich viele Mythen. Die Erde dort soll vergiftet sein. Ein unheimlicher Ort, um den sogar die Wolken am Himmel einen Bogen machen. Pais aber hat es geschafft. Er floh.«
»Warum?«, wollte Antilius wissen.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte er einfach nur nicht länger auf der Insel eingesperrt sein und rauskommen.«
Gilbert pausierte kurz und Antilius glaubte, durch den Spiegel einen Schatten auf Gilberts Gesicht sehen zu können, der ihm sagte, dass Gilbert gerade an etwas anderes dachte, vielleicht an eine andere Version der Geschichte von Pais Ismendahl.
Kurz darauf erreichten die beiden das alte Stadttor von Fara-Tindu. Früher hatte ein schweres gusseisernes Gitter herabgelassen werden können, sodass die Stadt ungebetene Besucher fernhalten konnte.
Eingerahmt war das Tor von zwei verfallenen Wachtürmen, die je auf einem Steinsockel gebaut waren. Das Holz, aus denen sie bestanden, war allerdings schon ziemlich morsch, obwohl es sich auch um das Jahrhunderte überdauernde Immerfestholz handelte. Antilius folgerte aus seinen Beobachtungen, dass Fara-Tindu in der Vergangenheit eine riesige Festung gewesen sein musste oder ein andersartiger strategisch wichtiger Ort.
»Hat hier ein Krieg stattgefunden?«, fragte Antilius, während sich die Amedium-Gondel dem offenen Tor näherte.
»Es war der Ort, an dem der lange und so genannte Fünf-Königs-Krieg beendet wurde. Ein jahrelanger Krieg. Aber das ist schon ziemlich lange her. So genau weiß ich es auch nicht. Aber wer weiß schon wirklich etwas Genaues über den Königs-Krieg?«
»Also deshalb gleicht die ganze Stadt eher einer Festung.«
»Ja. Die gesamte Stadt ist von einer Steinmauer umgeben, die allerdings schon halb zerfallen ist, weil ihre Architekten damals unter dem extremen Zeitdruck schlampig gearbeitet haben.«
So abstoßend Antilius das äußere Gesicht der Stadt empfand, so überrascht war er, als sich ihm ihr idyllisches Innere präsentierte.
Die Gondel durchquerte langsam eine lange Gasse, deren Seiten spielerisch gebaute Fachwerkhäuser säumten. Zahlreiche Händler boten ihre Waren am Straßenrand an. Gemüse, Obst, Bier, Kleidung, Schmuck - alles Mögliche wurde verkauft. Kaufwillige gab es genug. Es herrschte reger Betrieb.
Antilius konnte in dem Gewimmel Menschen ausmachen, und er erkannte viele Sortaner, die Haif zum Verwechseln ähnlich sahen. Doch es gab noch andere Spezies, die Antilius noch nie zuvor gesehen hatte. Manche sahen aus wie ein wandelndes Stück Holz, andere eher wie entfernte Verwandte von Vögeln, wieder andere so wie er, nur mit kleinen Unterschieden wie zum Beispiel grünlicher Haut.
Die Tatsache, dass hier derart viele unterschiedliche Wesen dicht gedrängt nebeneinander lebten, erschreckte ihn ein wenig. In seiner Heimat gab es nichts Vergleichbares. Andere Wesen kannte man dort vornehmlich aus Büchern oder von Geschichten. Truchten war in dieser Hinsicht einzigartig.
Der anfängliche Schreck wurde aber schnell durch die aufsteigende Faszination verdrängt.
Die Gondel verlangsamte ihre Geschwindigkeit und parkte in einem Gondelstellplatz, der sich in einem kleinen Hof befand, mitten zwischen den Häusern. Obwohl die rostfreie Amedium-Bahn schon hunderte Jahre alt war und auch sehr lange Zeit wohl nicht mehr verwendet wurde, hatte niemand in dieser Zeit die Schienen, die in die Stadt führten, demontiert.
Antilius sprang aus seinem Gefährt und lugte noch etwas verunsichert um die Ecke, um das Treiben auf der Verkaufsstraße zu beobachten.
»He! Würdest du mich vielleicht mitnehmen? Ich habe keine Lust, hier alleine zu bleiben und auf den Nächsten zu warten, der meinen Spiegel raubt!« Gilbert schrie so laut, dass einige Passanten stehen blieben und verwundert zur Gondel herüberschauten.
»Ja, ja. Ich habe dich nicht vergessen«, grummelte Antilius zurück. »Kein Grund, hier so herumzubrüllen.«
Antilius nahm den Spiegel aus der Gondel und steckte ihn sich kurzentschlossen in die Hosentasche.
»Halt! Stopp! Was machst du denn da?«, protestierte Gilbert.
Antilius hielt in seiner Bewegung inne. »Was ist jetzt schon wieder nicht in Ordnung?«
»Du kannst mich doch nicht so einfach wegstecken. Ich will auch sehen, was du siehst! So kann ich dir doch nicht helfen!«
Antilius zog den Spiegel wieder aus der Tasche und grübelte, wie er Gilberts Wunsch am besten nachkommen konnte. Dann schaute er auf seinen Gürtel herab und hatte eine Idee. Er steckte einfach den Spiegel mit seinem Griff nach unten in seinen Gürtel, sodass Gilbert nun nichts mehr entgehen konnte und er einen komfortablen Ausblick genießen konnte, wenn auch nicht auf Augenhöhe.
»Ja. So ist es schon viel besser«, bestätigte er.
»Also, wo müssen wir jetzt hin?«, fragte Antilius ungeduldig.
»Um diese Uhrzeit speist Pais für gewöhnlich im Wirtshaus Goldtrank. Es ist das einzige Wirtshaus, das seine Leibspeise zubereiten kann: rohen Tintenfisch! Er wird extra für ihn von der Küste hierher geliefert.«
»Köstlich«, murmelte Antilius angeekelt.
Er bemühte sich daraufhin krampfhaft, das Bild eines rohen Tintenfisches mit seinen glibbrigen Tentakeln auf einem Teller aus seinem Kopf zu verdrängen, während er zum Wirtshaus schlenderte.
Zufällig, ohne dass er selbst es bemerkte, lief ein Gorgen an ihm vorbei. Es handelte sich nicht um einen derjenigen, die ihn überfallen hatten. Antilius erkannte das Geschöpf nicht als Gorgen, weil er während des Überfalls letzte Nacht keine Gelegenheit bekommen hatte, einen zu betrachten.
Gilbert aber erkannte sofort, um welche Rasse es sich handelte und ließ es sich nicht nehmen, sich einen Spaß daraus zu machen.
»Feuer!«, schrie er aus Leibeskräften.
Alle Passanten in Antilius’ Nähe blieben abrupt stehen und schauten sich verschreckt um, konnten jedoch das vermeintliche Feuer nicht ausmachen. Natürlich gab es keinen Brand, aber Gilbert wollte dem Gorgen einen Schrecken einjagen, wohl wissend über dessen angeborene Urangst vor Flammen. Während der Gorgen in Panik seine Flügel aufriss und so schnell er konnte davonflog, registrierten die anderen Leute schnell, dass es kein Feuer gab und setzten kopfschüttelnd oder auf den verdutzten Antilius schimpfend ihren Weg fort.
»Was sollte das?«, fragte er, ebenso schockiert wie böse.
»Ich wollte dem Gorgen nur einen kleinen Schrecken einjagen. Das sind Mistviecher! Die haben es nicht anders verdient. Ist mir doch gelungen, findest du nicht? Wenn diese Gorgens nicht eine derart ausgeprägte Phobie vor Feuer hätten, wäre ich gestern nicht in der Lage gewesen, sie zu verscheuchen.«
»War das etwa einer der Diebe?«, wollte Antilius wissen und schaute dabei dem davonfliegenden Gorgen hinterher.«
»Nein, der ist harmlos. Bedenke, dass, wer sich in Fara-Tindu aufhält, keine Verbrechen begangen hat. Dafür sorgt die Stadtwache. Frage nicht, wie oder warum. Es ist so.«
»Dann hättest du dir diesen Unsinn ja auch sparen können. Sieh doch nur, wie mich alle jetzt anschauen. Die denken doch jetzt, dass ich ein Verrückter bin.«
»Nun sieh das mal nicht so eng. Das war doch nur ein harmloser Spaß«, beschwichtigte Gilbert.
Doch Antilius’ Sorge schien berechtigt gewesen zu sein. Aus dem Getümmel trat plötzlich eine große Gestalt in grauer Uniform mit einem polierten silbernen Brustschild heraus, um ihn abzufangen.
Ein scharfer angsteinflößender Blick fiel auf ihn herab und fixierte ihn. Es war eine der Stadtwachen.
»Na toll«, murmelte Antilius.
Die Wache blieb ein paar Zentimeter vor ihm stehen und baute sich vor ihm auf, um sich noch ein wenig größer zu machen, obwohl dies völlig unnötig war, denn sie war ohnehin etwa drei Köpfe größer als er.
»Bei der Ehre unserer heiligen Stadt Fara-Tindu! Was sollte dieses Geschrei?« Die Stimme der Wache war äußerst tief und durchdringend, sodass Antilius kurz zusammenzuckte.
»Ich ... ich war das nicht! Mein Freund hier dachte, er könne sich einen kleinen Spaß erlauben«, sagte Antilius mit zittriger Stimme und zeigte dabei auf seinen Spiegel, der immer noch in seinen Hosengürtel geklemmt war. Die Augen der Wache folgten ungläubig seinem Fingerzeig. Doch in diesem Moment schien die Sonne so unglücklich auf die Spiegeloberfläche, dass das Licht vom Glas reflektiert wurde, und man das Innere nicht sehen konnte. Danach schaute die Wache Antilius wieder ins Gesicht, mit einem noch düstereren Blick als zuvor. Er war überrascht, dass es diesbezüglich noch eine Steigerung gab.
»Aber sicher. Dein kleiner Spiegel hat herumgebrüllt.«
»Ja. Glauben Sie mir etwa nicht?«
»Jetzt hör mir mal ganz genau zu, du armer Irrer. Wenn du noch einmal auf die Idee kommst, Ärger zu machen, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass du nie wieder einen Ton von dir geben kannst. Hast du mich verstanden?«, knurrte die Wache gefährlich ruhig und durchbohrte Antilius mit ihren Augen. Für einen verrückten Augenblick dachte Antilius, er könne kleine Dampfwölkchen aus den großen Nasenlöchern seines wütenden Gegenübers strömen sehen.
In Anbetracht dieser überzeugenden Drohung hielt er es für angebracht, nicht darauf zu bestehen, dass in Wahrheit Gilbert für den Schlamassel verantwortlich war. Und so nickte er nur brav und piepste: »Es kommt nicht wieder vor. Ich verspreche es. Es tut mir Leid.«
»Ja, mir auch«, sprach der Wachmann und riss Antilius den Spiegel aus seinem Gürtel, warf ihn auf den Boden und trat mit zwei kräftigen Fußtritten darauf.
Antilius war entsetzt, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Er stand nur wie gelähmt da, mit weit aufgerissenen Augen.
Die Wache verabschiedete sich dann mit einem höhnischen Grinsen und verschwand ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war wieder in der Menge der Passanten.
Als Antilius überzeugt war, dass er unbeobachtet war, bückte er sich hastig, um nach dem Spiegel zu schauen. Er erwartete einen Scherbenhaufen, aber er wurde wieder überrascht. Das Spiegelglas war weder zerbrochen, noch hatte es den kleinsten Kratzer abbekommen. Durch das völlig unversehrte Glas konnte er Gilbert sehen, der in etwas größerem Abstand als sonst zur Spiegelwand stand und einen perfekt reuigen Blick aufgelegt hatte. Antilius’ Schrecken wandelte sich erst langsam aber dann immer schneller in brodelnde Wut um. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, zischte er Gilbert an.
»Es tut mir wirklich Leid. Ich hatte ja keine Ahnung, dass hier ein Ordnungshüter sein Unwesen treibt. Hätte ich das gewusst, hätte ich niemals so etwas getan.
Am besten wir vergessen das Ganze und gehen weiter nach Pais suchen. He, ich habe eine Idee: Wenn wir im Wirtshaus angekommen sind, dann solltest du dir dort einen blauen Bergquell bestellen. Ein wunderbares Getränk, das dich nach dem kleinen Schrecken ganz sicher wieder eine wenig beruhigen wird, und dann kannst du diesen dummen Vorfall ganz einfach vergessen.«
»Ich habe eine bessere Idee: Ich werde nach Pais suchen und lasse dich einfach hier liegen. Was hältst du davon?«, fauchte Antilius wütend.
Gilbert sah plötzlich sehr besorgt, ja ängstlich aus. »Also, ehrlich gesagt, halte ich davon nicht besonders viel. Ich entschuldige mich nochmals. Mehr kann ich nicht tun, als dir zu versprechen, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Ich wollte diesem dummen Gorgen einfach eine kleine Lektion erteilen. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen.«
Daraufhin entspannte sich Antilius wieder und atmete ein paar Mal tief durch. »Es ist meine Schuld«, sagte er resigniert. »Ich hätte erst gar nicht hierher kommen dürfen. Ich war auf dieses Land völlig unvorbereitet. Deswegen ist alles schief gelaufen.«
»Ach was! Hier ist alles für dich vielleicht ungewohnt, aber das waren nur ein paar Startschwierigkeiten. Es wird dir schon noch gefallen, warte nur ab«, sagte Gilbert, obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob dies auch der Wahrheit entsprechen würde.
Er legte eine Pause ein, die Antilius zum Nachdenken nutzte.
»Komm, gehen wir! Es ist nicht mehr weit bis zum Wirtshaus. Dort kannst du dich ausruhen.«
Antilius atmete noch einmal tief ein. »Also schön«, seufzte er und stand auf, wobei er sich den Spiegel wieder in den Gürtel steckte.
»Ach, eines noch, Meister.«
»Was denn?«
»Du hast die Wache mit 'Sie' angeredet. Auf Bétha, dort wo du herkommst, mag das so üblich sein, aber auf den meisten anderen Inselwelten ist 'Ihr' und 'Euch' gebräuchlicher. Wenn du dich daran hältst, merkt auch keiner sofort, dass du nicht von hier bist.«
»Gut, das werde ich mir merken.«
Wenig später erreichte Antilius endlich das Wirtshaus.
Weil heute ein angenehm warmer und sonniger Tag war, bediente das Personal auch außerhalb des Hauses, vor dem ein paar bescheidene Tische und Stühle aufgestellt waren. Es herrschte Hochbetrieb. Das Wirtshaus hatte einen guten Ruf in der Stadt. Antilius stellte sich an die Seite der vollbesetzten Tische.
»Also, wie sieht dieser Pais aus?«, fragte er Gilbert.
»Na ja ... äh, braune Haare, ... ein Bart, glaube ich. Oder hatte er keinen Bart? Äh ...«
Antilius fasste sich kopfschüttelnd an die Stirn: »Geht es vielleicht noch etwas genauer?«
»Gilbert!«, Die Stimme kam irgendwo aus der Menge der Gäste. Antilius bemühte sich herauszufinden, woher genau.
Kurz darauf stand ein Mann von seinem Platz auf und rannte regelrecht auf ihn zu.
»Gilbert! Alter Freund!«, Der Mann hatte einen Vollbart und braune, kurze Haare, die allerdings schon ins Graue übergingen.
»Das ist Pais!«, rief Gilbert aufgeregt.
Antilius zog den Spiegel aus seinem Gürtel und gab ihn Pais Ismendahl in die Hand, der überglücklich schien, Gilbert wiederzusehen.
»Pais, du erinnerst dich noch an mich?«
»Aber ja! Du hast schließlich noch Spielschulden bei mir, wenn ich mich recht erinnere.«
»Oh … äh, das weißt du noch? Ich muss schon sagen, dein Gedächtnis ist noch in Höchstform«, sagte Gilbert mit einem gekünstelten Lächeln.
Pais lachte laut. »Ich freue mich, dich wiederzusehen. Du meine Güte, das muss ja schon Jahre her sein, als wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
»Jahre?«, wiederholte Antilius ungläubig. Er wunderte sich darüber, wie alt Gilbert schon sein musste. Er sah kaum älter aus als Antilius selbst. Und Antilius schätzte sich selbst auf Anfang dreißig. Sein genaues eigenes Alter kannte er aber nicht.
»Wie ich sehe, hast du einen neuen Meister gefunden?«, stellte Pais fest, wobei er Gilberts neuen Meister von oben bis unten genau musterte.
»Mein Name ist Antilius, und ich bin nicht Gilberts Meister. Wohl eher bin ich ein Opfer seiner üblen Späße.«
Pais lachte wieder laut und kräftig. »Ja, ich glaube, ich weiß, was du meinst. Nun, Gilberts Freunde sind auch meine Freunde. Mein Name ist Pais Ismendahl, aber das hat dir Gilbert sicher schon verraten.
Kommt! Setzen wir uns doch.«
»Also ich ...« Antilius kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn schon war Pais zurück zu seinem Tisch gestürmt, den er sich zuvor mit zwei merkwürdigen Wesen mit grauer Haut und weißen Haaren geteilt hatte. Sie waren viel kleiner und schmächtiger als Pais. Diesen Vorteil nutze dieser für sich aus und verscheuchte die beiden mit wilden Handbewegungen. Die schüchternen Grauhäutigen verließen ihren Platz ohne Proteste.
»Setz dich!«
Antilius zögerte, weil es ihm unangenehm war, dass wegen ihm zwei Gäste vertrieben wurden.
»Na los! Setz dich! Gilbert kannst du auf den Tisch stellen«, wiederholte Pais und warf beiläufig die beiden Teller der Vertriebenen in einen nahe gelegenen Busch.
Dann kam Antilius der Aufforderung nach. Pais nahm den Spiegel und lehnte ihn an einen auf dem Tisch stehenden Krug. Auf diese Weise konnte Gilbert seine ‚Tischnachbarn’ von einer komfortablen Position aus sehen.
»Antilius, willst du auch eine Kleinigkeit essen? Die Gerichte hier sind wirklich ganz ausgezeichnet. Ich komme fast jeden Tag hierher, nicht zuletzt wegen dem süchtig machenden Grünwein. Ich könnte dieses Gesöff den ganzen Tag über trinken. Der Wirt hat sogar schon in Erwägung gezogen, mir Hausverbot zu erteilen, damit die anderen Gäste auch mal von dem Wein probieren können.« Pais lachte wieder abschließend herzhaft und begann, seinen rohen Tintenfisch weiter zu speisen.
»Also? Wie sieht es aus? Soll ich dir das Gleiche bestellen?«, fragte er mampfend.
»Ich glaube, ich habe schon gegessen«, sagte er gedämpft.
»Schade! Du weißt nicht, was dir entgeht, mein Freund. Sie schmecken viel besser, als sie aussehen.«
»Ich möchte es lieber gar nicht wissen.«
»Wie du meinst. Dann erzählt mal! Was führt euch nach Fara-Tindu?«
»Ach, wir sind nur hier, um ordentlich einen draufzumachen«, erwiderte Gilbert fröhlich. Doch damit fing er sich von seinem Meister einen warnenden Blick ein, was ihn dazu veranlasste, zunächst zu schweigen.
»Ich komme von der Vierten Inselwelt und bin hier, um nach einem Sternenbeobachter zu suchen. Ich habe erfahren, dass er hier in der Nähe leben soll.«
»Ah! Du meinst sicherlich den alten Brelius«, sagte Pais, ohne dabei seinen Blick von seinem schleimigen Mittagessen zu lösen.
»Genau! Kennt Ihr ihn?«
»Und ob! Sehr gut sogar. Wir haben früher in unserer Freizeit Riesenglühwürmchen gezüchtet. Wenn wir sie abends, wenn es dunkel wurde, ihre einstudierten Formationen fliegen ließen, war das die Attraktion auf der gesamten Inselwelt.«
»Wo ist er?«, fragte Antilius ungeduldig.
»Das weiß ich nicht.« Pais hatte es geschafft, seine Mahlzeit in Rekordzeit aufzuessen und schob nach einem kleinen Rülpser seinen Teller ein Stück von sich. »Er ist vor einiger Zeit einfach verschwunden. Niemand hat ihn gesehen oder weiß, wo er hingegangen ist. Nicht einmal mir hat er etwas erzählt. Allerdings ist mir aufgefallen, dass er, als ich ihn zuletzt gesehen habe, irgendwie geistesabwesend und manchmal verstört wirkte. Er war tatsächlich die meiste Zeit damit beschäftigt, den Himmel zu erkunden. Und wenn er ausnahmsweise mal nicht durch sein Fernrohr schaute, dann kümmerte er sich um die Glühwürmchenzucht. Seine einzige Freude, die er zuletzt hatte. Sag, Antilius, warum suchst du nach ihm?«
»Er hat mir einen Brief geschickt, in dem geschrieben stand, dass er umgehend meine Hilfe benötige. Er schrieb, er hätte einen furchtbaren Fehler begangen. Und er schrieb, ich wäre der Einzige, der ihm helfen könne, weil ich ‚Die Augen’ hätte.«
»Die Augen?« Pais untersuchte Antilius’ Augen, konnte aber außer einer intensiven Braunfärbung der Iris nichts Besonderes ausfindig machen. »Warum hat er gerade dir geschrieben. Kanntet ihr euch?«
»Nein. Brelius war mir bis dahin auch unbekannt. Ich vermute, dass er recherchiert hat und so auf meinen Namen gestoßen ist. Es gibt nur sehr, sehr wenige Sternenbeobachter auf Thalantia.«
Pais machte ein nachdenkliches Gesicht: »Das ist wirklich sehr seltsam. Brelius war ein Eigenbrötler. Er hat nie jemand anderen um Hilfe gebeten. Es muss wirklich etwas Schreckliches passiert sein.«
»Der Brief könnte ja etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben«, sagte Gilbert.
»Möglich.«
»Das sollten wir unbedingt herausfinden. Ich weiß, wo Brelius lebte und gleichzeitig arbeitete. Vielleicht finden wir bei ihm zuhause ein paar Antworten.«
»Ihr habt Zugang zu seinem Heim? Können wir denn da so einfach hinein spazieren?«
»Ja, das können wir. Mach dir darum mal keine Sorgen, Antilius. Und du kannst du zu mir sagen«, beruhigte ihn Pais.
Er stand auf, streckte sich und sprach: »Ich denke, wir sollten keine Zeit verlieren. Je eher wir herausfinden, was geschehen ist, desto besser.«
»Wie weit ist es denn?«
»Nicht weit. Brelius wohnt auf dem kleinen Wurmhügel am Rande der Stadt. Und um deine Frage vorwegzunehmen: Er wird deshalb Wurmhügel genannt, weil wir dort regelmäßig nachts unsere Riesenglühwürmchen schwirren ließen und sie für das Publikum ihre Runden drehten.«
Antilius schnappte sich wieder den Spiegel und steckte sich ihn in den Gürtel, währenddessen Pais schon vorauseilte.
»Habe ich es dir nicht gesagt? Ich finde jemanden, der uns zu Brelius führen kann. Jetzt sag bloß nicht mehr, dass ich für dich nicht nützlich sei«, bohrte Gilbert.
»Ja, du bist ganz nützlich«, presste Antilius immer noch ein wenig ärgerlich hervor.
»Ganz nützlich?«
»Entschuldige. Ja, danke, dass du mir hilfst! Du bist mir eine große Hilfe.«
»Keine Ursache, Meister«, sagte Gilbert zufrieden.