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Das Buch des Vaters

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»Grabt!«, befahl Ancrus ungeduldig.

Er stand an einen großen Findling gelehnt und versuchte, sein rechtes Bein zu entlasten. Es hatte ihm schon früher nach längerem Gehen Schmerzen bereitet, doch heute war es besonders schlimm. Nur durfte er es sich vor den anderen Gorgens nicht anmerken lassen. Ganz besonders heute nicht.

»Warum dauert das so lange? Macht schneller!«, rief er.

Ancrus wusste zwar, dass die sieben Gorgens, die unter seinem Befehl emsig schaufelten, nicht noch schneller arbeiten konnten, aber er wollte sie ständig auf Trab halten, damit sie keine Gelegenheit bekamen, inne zu halten und den Erfolg ihrer geheimen Mission in Frage zu stellen oder sich der Gefahr, der sie sich aussetzten, bewusst zu werden.

Ancrus selbst half ihnen nicht beim Graben. Dafür war er zu alt, und außerdem hatte er das Kommando. Er sagte den anderen, was zu tun sei, und dafür waren die Gorgens dankbar, denn das, was Ancrus ihnen versprach, war nicht weniger als eine Zukunft für ihr Volk.

Nach der großen Schlacht an der Barriere von Valheel vor ein paar Wochen, drohte dem Volk der Gorgens der Untergang, dessen war sich Ancrus absolut sicher. Tausende von seinesgleichen fielen auf die falschen Versprechen des Despoten Koros Cusuar herein und stürzten sich in einen Kampf, in dem es nichts zu gewinnen gab. Der Großteil derer, die ihm gefolgt waren, fand den Tod. Und viele von denen, die überlebt hatten, weil sie dem Inferno noch rechtzeitig entfliehen konnten, kehrten nicht mehr nach Gorgonia, ihrer Heimat, zurück. Teils aus Scham, teils aus Selbstaufgabe.

Die Geschichte wiederholt sich immerzu, dachte Ancrus betrübt.

Er hatte versucht, seine Artgenossen vor dem Tod zu bewahren. Er war einer der wenigen, der Koros durchschaut hatte. Aber die Verzweiflung der meisten anderen war einfach zu groß. Das Volk von Gorgonia hatte nie eine faire Chance erhalten, eine eigenständige und unabhängige Gesellschaft zu bilden, mit Stolz und Selbstbewusstsein. Immerzu wurde ihr Volk unterdrückt, missbraucht, bekriegt, ausgebeutet und vor allem anderen verachtet.

Oft hatte Ancrus darüber nachgedacht, was die Ursachen dafür waren. Sicher, die Gorgens waren kein Volk, das besonders intelligent war. Sie hatten nie bedeutende Erfindungen gemacht. Sie bevorzugten den Stillstand, aber nicht den Fortschritt. Sie waren keine Dichter oder Poeten, keine großen Architekten, sie waren ein einfaches Volk. Naiv ja, aber nicht dumm. Aber war Naivität der Grund für ihr Scheitern?

Wenn es nur Gorgens auf Thalantia geben würde, so dachte Ancrus manchmal, dann wäre ihre Vision einer zufriedenen Gesellschaft mit Gorgens, die ein erfülltes Leben führten, vermutlich wahr geworden. Denn stets waren es andere Völker, die aus Gier, Hass und Machtstreben das Volk der Gorgens für ihre niederen Zwecke missbrauchten. Eigenschaften, die den Gorgens im Wesentlichen fremd waren. Aus diesem Grunde nannte Ancrus auch alle Nicht-Gorgens auf Thalantia nur die Niederen.

Koros hatte die desolate Lage, in der sich die Gorgens befanden, ausgenutzt und versprach ihnen raschen Wohlstand und auch Macht. Seine verheißungsvollen Versprechen waren zu verlockend, um abgelehnt zu werden, obwohl die Gorgens es doch besser hätten wissen müssen. Sie hatten es einfach verlernt, mit Selbstvertrauen zu leben und eigene Entscheidungen zu treffen. Auch wenn niemand offen darüber redete, fühlten sich die Gorgens anderen gegenüber unterlegen. Viele von ihnen lebten in Armut, litten Hunger und verließen ihre Heimat Gorgonia. Nicht wenige wurden zu Dieben. So wie Feuerwind, der Antilius nach seiner Ankunft auf Truchten ausgeraubt hatte und später sein Leben an der Barriere von Valheel verlor. Dieser Gorgen war es auch, von dem Ancrus vor dessen Tod von der Existenz des Flüsternden Buches erfuhr. Das Buch, das Koros in seinem Palast stets aufbewahrte, und dort auch zurückgelassen hatte, als er in die Schlacht gezogen war. Kein anderer noch lebender Gorgen hätte gewusst, was es mit dem Flüsternden Buch auf sich hatte. Niemand wusste es - bis auf Ancrus.

Es hieß, dass Ancrus nicht nur der älteste noch lebende Gorgen sei, sondern auch, dass er der älteste Gorgen überhaupt sei, den es jemals gegeben hatte. Und vielleicht stimmte das sogar. Ancrus war in jeder Hinsicht etwas Besonderes. Er war größer als die meisten anderen Gorgens. Auch sein Kopf war schmaler und größer. Seine Augen waren leuchtend grün. Sein für Gorgens typisch pechschwarzer Körper war von dutzenden graugefärbten Narben übersät, die er sich in zahllosen Gefechten zugezogen hatte, bevor er zu der Einsicht gelangte, dass das Kämpfen keine Lösung für seine Probleme war. Sein rechter Flügel (alle Gorgens hatten Flügel wie bei Fledermäusen) war halb verkrüppelt, sodass er höchstens noch ein paar Meter weit damit fliegen konnte, und das auch nur unter größter Anstrengung.

Ancrus war gezeichnet.

»Seid ihr schon auf etwas gestoßen?«, fragte er seine Arbeiter.

»Noch nicht«, antwortete einer von ihnen. »Seid Ihr sicher, dass wir an der richtigen Stelle graben?«

Ancrus schaute hinüber zum Meer, denn an dessen Küste befanden sie sich.

Dann sah er hinter sich, nach Süden. In der Ferne erblickte er die Zinnen der Beobachtungstürme und den Wehrgang am oberen Teil der Ringmauer, welche den Palast des einstigen Herrschers Koros Cusuar umschloss.

In dem heute verlassenen Bau hatten Ancrus und sein Gefolge noch am gestrigen Tage nach dem Flüsternden Buch gesucht, das Koros dort zurückgelassen hatte. Aber das Buch war nicht mehr dort. Jemand anderes war ihnen zuvorgekommen. Ancrus war wieder einmal zu spät gekommen. Alles, was im Palast nicht niet- und nagelfest war, war bereits gestohlen worden. Die Nachricht, dass Koros nicht mehr am Leben war, hatte sich offensichtlich schnell herumgesprochen.

Ancrus sah wieder auf das Loch, das er in den Boden an der nördlichen Küste von Truchten graben ließ.

»Er ist hier. Der Höhleneingang ist hier. Die Spuren, denen wir gefolgt sind, haben uns hierher geführt«, sagte er. Er musste sich beherrschen, seine wahren Gefühle den anderen gegenüber nicht zu offenbaren, denn nichts fürchtete er mehr, als jenen Höhleneingang freizulegen.

Die Gorgens machten eine kurze Pause und hielten inne. Offenbar hatten sie bemerkt, dass Ancrus besorgt zu sein schien. Ein Beben in seiner sonst so festen und tiefen Stimme hatte sie misstrauisch gemacht. Ancrus fluchte innerlich. Er wollte ihnen keine Angst machen und doch hatte seine eigene ihn verraten.

»Was ist in dieser Höhle?«, fragte ein anderer im Namen seiner Kollegen.

Ancrus wurde wütend: »Das Buch ist dort unten. Das wisst ihr doch! Was glaubt ihr wohl, wonach wir hier suchen? Dummköpfe!«

»Ja, aber wie ist es dort hineingelangt? Erst sagtet Ihr, das Buch sei im Palast. Das war es aber nicht. Und jetzt sagt Ihr, es sei in einer Höhle«, bemerkte ein dritter Gorgen.

Ancrus wurde noch wütender. Er überlegte kurz, was er antworten sollte, denn er wollte keine Meuterei riskieren. Sollte er sie belügen? Hatten sie das verdient? Noch mehr Lügen?

Die sieben Gorgens regten sich keinen Millimeter und fixierten Ancrus mit ihren Blicken. Ohne eine plausible Antwort würden sie nicht weitergraben.

»Also gut«, gab Ancrus nach. »Ihr werdet es sowieso erfahren.«

Er ging ein paar Schritte mit gesenktem Kopf. Dann blieb er stehen, vermied es aber, den anderen ins Gesicht zu sehen. »Hier unter uns befindet sich nicht nur eine Höhle, sondern ein ganzes Höhlensystem, das sich über mehrere Quadratkilometer erstreckt.«

Den Gorgens schwante Übles.

»Es ist das Reich der Totengräber«, sagte Ancrus.

»Die Totengräber?«, entfuhr es einem Gorgen. »Dann sollten wir zusehen, dass wir hier schnell wegkommen! Die Totengräber sind Bestien! Ich will nicht gefressen werden! Ich werde nicht weitergraben.«

»Schweig!«, schrie Ancrus. »Seid doch nicht immer so furchtsam! Glaubt nicht jeden Unsinn, den man sich erzählt!«

Ancrus kannte die Geschichten, die über die Totengräber erzählt wurden. Es seien gepanzerte Wesen, die fast blind waren und angeblich von Hummertieren abstammten. Nur mit dem Unterschied, dass sie viel größer als jene Gattung waren, sprechen konnten und recht intelligent waren. Ihr Höhlensystem verlief entlang der Küste. Es gab mehrere unterirdische Zugänge zum Meer, aus dem sie sich vornehmlich ernährten.

Aber manchmal, so wurde es erzählt, wenn ihr Hunger übermächtig wurde, dann kamen sie des Nachts aus ihren Höhlen an die Oberfläche und holten sich ein Opfer und entführten es in ihr unterirdisches Reich, um es dort zu fressen. Wegen dieser Legende trugen sie ihren Namen.

»Aber das sind die Totengräber!«, rief der Gorgen, der sich zum Unmut von Ancrus zum Wortführer des Widerstands erhob. »Egal ob die Geschichten über sie wahr sind oder nicht, die Totengräber sind real, und kein vernünftiger Mann würde sich freiwillig in ihr Reich begeben. Das wäre glatter Selbstmord!«

»Ich habe auch nie behauptet, dass unsere Suche nach dem Buch ungefährlich sein würde«, erwiderte Ancrus wahrheitsgetreu.

»Wieso sollten gerade die Totengräber sich das Buch geholt haben? Was sollten sie damit anfangen?«

Ancrus sah den aufgebrachten Gorgen ernst an. »Ein jeder, der mit seinem Leben unzufrieden ist und sich zu Höherem bestimmt fühlt, will das Buch haben, sobald er von dessen Existenz gehört hat. Das Buch soll die gesammelte Weisheit Thalantias in sich tragen, und deshalb kann sich niemand seiner Anziehungskraft entziehen. Viele hatten es schon besessen. Aber niemand konnte es wirklich verstehen.

Die Totengräber haben auf ihre Gelegenheit gewartet: Als sich alle Aufmerksamkeit auf die Barriere von Valheel richtete, schlugen sie zu und holten sich das Buch. Von dem Buch versprechen sie sich Anleitungen dafür, wie ihr Volk eines Tages wieder an der Oberfläche leben könnte. Gleichberechtigt mit anderen. Sie hoffen, sich nicht mehr unter der Erde verstecken zu müssen. Die Totengräber hassen sich für das, was sie sind. Sie verabscheuen ihre animalischen Instinkte.

Ihr solltet sie bemitleiden, nicht fürchten. Letztlich bin wahrscheinlich ich der Grund dafür, dass sie überhaupt nach dem Buch gesucht haben.

Ich bin mir absolut sicher, dass sie es sind, die es jetzt haben. Und da wir nun die Einzigen sind, die das wissen, sind wir im Vorteil.«

»Warum seid Ihr der Grund? Und woher wisst Ihr soviel über die Totengräber?«

Die Gorgens warteten gespannt auf eine Antwort.

»Weil ich schon einmal bei ihnen war«, sagte Ancrus und zeigte auf den zugeschütteten Höhleneingang. »Ich war in ihrem Reich. Es war vor über vierzig Jahren, als sie mich entführten.«

Die anderen Gorgens waren entsetzt. »Dann sind die Geschichten über die Totengräber also wahr. Sie entführen Unschuldige, um sie zu verspeisen«, rief einer.

Ancrus nickte nur stumm.

»Aber wenn Ihr dort wart, wie seid Ihr entkommen?«, fragte der Wortführer des Widerstands.

»Ich bin nicht geflohen. Sie haben mich gehen lassen. Weil sie nicht das sind, wofür ihr sie haltet.«

Ancrus erntete nur verständnislose Blicke. »Wie ich euch bereits sagte, mögen die Totengräber nicht das, was sie sind. Das Meer ist eigentlich ihre Hauptnahrungsquelle. Aber manchmal, da entwickeln sie diesen besonderen Hunger.« Ancrus sah in den Gesichtern der anderen Abscheu und Furcht.

»Ja, es ist grausam«, sagte er. »Es ist ein uralter Instinkt, von dem die Totengräber alle paar Jahre übermannt werden. Sie hassen sich dafür, das kann ich euch versichern. Sie würden alles tun, um sich von diesem Trieb zu befreien. Alles.

Als sie mich entführten, da hatten sie ihn wieder, diesen entsetzlichen Hunger. Ich war ihr auserwähltes Opfer. Sie entführten mich am helllichten Tage und brachten mich tief, tief in ihr unterirdisches Reich.« Ancrus erschauerte sichtlich bei dieser Erinnerung.

»Sie hielten mich zunächst tagelang gefangen. Ich bemerkte schnell, dass die Totengräber heftig miteinander stritten. Offenbar gab es einige, die dagegen waren, mich zu ihrem Festmahl zu machen. Sie wollten sich nicht ihrer Fresslust hingeben. Sie argumentierten, dass meine Tötung all ihre Bemühungen, ihren Trieb unter Kontrolle zu bringen, zunichte machen würde. Schon damals reichte ihre innere Zerrissenheit über ihren animalischen Instinkt tief.

Viele von ihnen glaubten, dass sie nie wieder an der Oberfläche leben könnten, wenn sie wieder in ihre alten Verhaltensmuster zurückfielen.

Schließlich holten sie mich aus meinem Gefängnis und brachten mich in eine riesige Höhle, in der es von Totengräbern nur so wimmelte. Ich kann euch versichern, dass dies das Furchterregendste war, das ich je erlebt habe.«

»Was geschah dann?«, wurde Ancrus angsterfüllt gefragt.

»Die Totengräber beschlossen, mich sprechen zu lassen. Sie hatten sich darauf geeinigt, mir eine faire Chance zu geben, mein Leben zu retten. Sie erklärten mir, dass sie mir eine Frage stellen würden. Wenn meine Antwort sie mehrheitlich davon überzeugen sollte, dass ich es nicht verdient hatte zu sterben, dann würden sie mich gehen lassen. Wenn nicht, würden sie mich fressen.

Sie taten damit etwas, das sie bei ihren früheren Beutezügen stets vermieden hatten. Nämlich ihrer Beute ein Gesicht und einen Namen zu geben.

Ihr versteht jetzt hoffentlich, dass sich mörderische Bestien nicht so verhalten würden«, sagte Ancrus und musterte die Runde von Gorgens. Keiner sagte etwas. Sie rätselten nur, wie Ancrus es geschafft hatte, unversehrt das Reich der Totengräber zu verlassen.

»Welche Frage stellten sie Euch?«

»Sie fragten mich, ob ich an etwas glauben würde, das meinem Leben einen Sinn gibt.

Da ich ihrem Versprechen, mich eventuell gehen zu lassen, keinen Glauben geschenkt habe, erzählte ich ihnen wahrhaftig, an was ich glaubte.

Ich erzählte ihnen vom Vater.«

Ein Raunen ging durch die Runde der Gorgens.

»Aber es ist doch verboten, mit anderen über den Vater zu sprechen!«, schallte es Ancrus empört entgegen.

»Das weiß ich. Aber ich dachte, mein Tod wäre schon beschlossene Sache. Also offenbarte ich mich ihnen. Was hättet ihr denn getan, im Angesicht des Todes?«

Die Gorgens senkten beschämt ihren Blick. Wenn sie sich in seine Situation hineinversetzten, dann hätten sie wohl auch vom Vater gesprochen, an welchen sie genauso fest glaubten wie Ancrus selbst. Im Gegensatz zu Ancrus war aber der Vater für die meisten Gorgens eher so etwas wie eine religiöse Figur.

Ancrus bemühte sich, nicht ärgerlich über die Nachfrage zu sein. »Ich erzählte ihnen also das, was man euch und was man mir von klein auf erzählt hat. Ich erzählte ihnen, wie der Vater am Anbeginn der Zeit aus der Erde aufgestiegen ist, und wie er später die Gorgens erschuf. Ich erklärte ihnen, dass wir seine Kinder sind.

Zuerst waren die Totengräber nicht sonderlich von meinen Erzählungen beeindruckt, da im Prinzip jedes Volk an ein höheres Wesen oder an eine höhere Macht glaubt. Aber dann berichtete ich ihnen von dem Buch, das der Vater schrieb, als es für ihn an der Zeit war, zu schlafen.

Damit wir, die Gorgens, ohne den Vater unbehelligt und beschützt weiterleben konnten, schrieb er all sein Wissen über die großen und kleinen Geheimnisse Thalantias in dieses Buch hinein. Und als er es beendete, gab er dem Buch eine Seele.

Aber als der Vater dann schlief, wurde das Buch gestohlen und fand nie wieder zurück zu den Gorgens. Seine Existenz geriet unter unserem Volk in Vergessenheit.

Die Niederen, also auch jene, die das Buch unrechtmäßig unserem Volk gestohlen hatten, nennen dieses Buch das Flüsternde Buch. Sie tun das, weil sie keine Ahnung haben, womit sie es zu tun haben.

Wir Gorgens aber, wir nennen es das Buch des Vaters.«

Fassungslosigkeit machte sich unter den anderen Gorgens breit. Diese legte sich aber wieder schnell, als sie die Tragweite des Berichts von Ancrus begriffen.

»Ihr sagt, dass das Flüsternde Buch in Wirklichkeit das Buch des Vaters ist. Ein Buch, das ein Erbe unseres Vaters und Schöpfers ist. Es ist unser Buch?«, fragte einer.

Ancrus war sichtlich erfreut über die letzten zwei Worte.

»Du sagst es! Es ist unser Buch«, sprach er und zeigte stolz auf den einen Gorgen.

»Es gehört uns! Der Vater hat es nur für uns geschrieben, und das erzählte ich den Totengräbern an jenem dunklen Tage vor über vierzig Jahren.

Und dann sprach ich zu ihnen die wahrsten Worte, die ich je gesprochen hatte.

Ich sagte, dass ich es im Angesicht des Todes bereuen würde, nicht alles mir Mögliche getan zu haben, um das Buch des Vaters zu finden und den Gorgens zurückzugeben. Ich sagte, dass unser Volk nun endgültig dazu verdammt sei, im Dunkeln zu leben, ohne Ehre und ohne Würde, da ich der Letzte war, der nach dem Buch des Vaters gesucht hatte.

Jene Worte, meine Freunde, brachten schließlich den Wendepunkt. Ich war für sie ein vorgehaltener Spiegel, in dem sie ihre eigene traurige Existenz wiedererkannten. Sie sahen in mir keine Beute mehr, sondern einen Bruder im Geiste. Und so ließen sie mich ziehen. Auch wenn einige protestierten, so kehrte ich doch unversehrt aus ihrem stillen Reich zurück an die Oberfläche und schwor, niemandem etwas von meinen Erlebnissen zu berichten. Bis zum heutigen Tage.«

Die Gorgens murmelten nachdenklich und berieten sich untereinander knapp, bis der Anführer des Widerstands fragte: »Aber wenn die Totengräber wirklich im Besitz des Buchs des Vaters sind, wie wollt Ihr sie überzeugen, es Euch zu überlassen?«

»Das lasst ihr meine Sorge sein. Ihr müsst nichts weiter tun, als diesen Höhleneingang freizulegen. Um den Rest kümmere ich mich, auch wenn ich euch nicht versprechen kann, dass es ungefährlich ist.

Ich kann euch nur die einzigartige Möglichkeit bieten, unserem Volk wieder das zurückzugeben, was unser verehrter Vater uns einst geschenkt hat: Stolz und Ehre.«

Ancrus sprach diese Worte wieder mit seiner so tiefen und festen Stimme, die man von ihm gewohnt war.

Die Gorgens tauschten Blicke aus. Dann begann einer wieder mit dem Graben, und es dauerte nicht lange, bis die anderem seinem Beispiel folgten.

Ancrus atmete erleichtert auf. Er hatte es geschafft, die sich anbahnende Rebellion seiner Arbeiter zu verhindern. Es war die richtige Entscheidung, sie über die Wahrheit in Kenntnis zu setzen. Und er war froh, dass ihn niemand danach fragte, wie er mit dem Buch des Vaters die Ehre seines Volkes wiederherstellen wollte. Denn über diese Herausforderung hatte sich Ancrus noch keine Gedanken gemacht. Wie auch? Woher sollte er wissen, wie man das Buch des Vaters liest? Das Buch, das sich in den vergangenen Jahrhunderten so weit von seinen rechtmäßigen Besitzern entfernt hatte.

Das werde ich schon noch herausfinden, wenn ich es erst einmal in meinen Händen halte, dachte Ancrus, als einer seiner Arbeiter rief: »Ich bin durch! Ihr hattet Recht. Hier ist ein Eingang!«

»Wir sind unserem Ziel nahe. Heute wird der Tag sein, an dem das Buch des Vaters wieder mit seinen rechtmäßigen Eigentümern wiedervereint wird. Unsere Tage des Leidens sind bald vorüber«, sagte er, und er glaubte an das, was er sagte.

Genauso wie die Totengräber bereit gewesen wären, alles zu tun, um ihren animalischen Beuteinstinkt loszuwerden, so war Ancrus bereit, alles zu tun, um das Buch das Vaters zu bekommen.

Alles.

Verlorenend Band II

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