Читать книгу Verlorenend Band II - S. G. Felix - Страница 6
Arcanum
Оглавление»Ist es noch weit?«, wollte Haif wissen, dessen Magen während des Fußmarsches bedenklich laut zu knurren begonnen hatte.
»Bist du etwa schon erschöpft?«, fragte ihn Pais mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Sie hatten schon einen Großteil der Strecke zur großen Stadt der Insel der Ahnenländer hinter sich gebracht, aber das wollte er dem Sortaner noch nicht verraten, weil er sein überraschtes Gesicht sehen wollte, wenn er die Stadt der Ahnen erblicken würde.
»Also, eigentlich habe ich ja nichts gegen lange Fußmärsche. Aber mir hat niemand gesagt, dass wir fast die ganze Zeit bergauf gehen müssen«, sagte Haif, wobei er zwischen den beiden Sätzen mehrmals Luft holen musste.
»Nun übertreibe mal nicht. Wir machen hier keine Bergbesteigung«, erwiderte Pais.
Haif blieb stehen, um zu verschnaufen, und Pais tat es ihm gleich. Er konnte sich trotz Haifs Neigung zur Übertreibung gut vorstellen, dass es für den Sortaner mit seinen kurzen Beinen anstrengender war, bergauf zu laufen als für einen Menschen.
Die Präfektin und Antilius waren schon weiter oben auf dem langgestreckten Hang, dessen Neigung zwar wirklich nicht steil, aber auch nicht ohne Kraftanstrengung zu bewältigen war.
»Also ich finde die Steigung schon ziemlich groß«, sagte Haif trotzig. »Und wenn das hier kein Berg und kein Hügel ist, was ist es dann? Der Hang ist mit Gras bewachsen. Überall liegen Steine verstreut. Was ist das hier?«
Pais grinste stolz. »Das hier, mein pelziger Freund, ist kein Berg, sondern ein Vulkan.«
»Wie bitte? Ich höre wohl nicht recht!«
»Keine Sorge. Der Vulkan ist schon seit Jahrmillionen erloschen und längst von der Natur übergrünt. Wir sind hier auf der äußeren Flanke seines Kegels, der am obersten Kraterrand einen Durchmesser von etwa 900 Metern hat.«
Haif sah Pais verwirrt an: »Ja, aber wo ist dann die Stadt der Ahnen?«
»Haif!«, rief Antilius vom Kraterrand herunter, den er soeben mit der Präfektin
erreicht hatte. »Das musst du dir ansehen! Komm schnell!«
Haif warf Pais nochmals einen fragenden Blick zu.
»Geh schon!«, sagte dieser nur.
Jetzt hatte Haif die Neugier gepackt. Schnaufend hechtete er die letzten Meter zum höchsten Punkt des Kraters. Pais folgte ihm voller Vorfreude auf den bevorstehenden Anblick.
Als sie ihn erreicht hatten, verschlug es dem Sortaner den Atem. Sie blickten auf das Innere des kegelförmigen Kraters, dessen Hang innen trichterförmig etwa dreihundert Meter tief reichte. Der gesamte innere Kraterhang war in zwölf künstlich angelegte Terrassen abgestuft. Und jede Terrasse, von der höchsten nur wenige Meter unter ihnen bis zur niedrigsten im Inneren waren, war mit unzähligen verschieden großen Häusern bebaut. Sie waren verstreut zwischen großzügigen Gärten mit Bäumen und Sträuchern, Parkanlagen, Marktplätzen, Feldern und einem gigantischen Aquädukt, dessen fließendes Wasser sich seinen Weg durch unzählige Kanäle, kleinere Becken, künstliche Wasserfälle und imposante Brücken über sämtliche Terrassen bahnte.
Überall waren Menschen zu sehen, die in dem gigantischen Konstrukt so winzig wie Ameisen wirkten.
Ganz unten im Krater hatte sich ein kleiner See gebildet, aus dessen Mitte ein kleiner Lavadom hervorragte, einer Kuppel aus erstarrter Lava. Und auf dieser Kuppel, vom tiefsten Punkt des Kraterinneren, ragte ein säulenförmiger, schmaler Turm empor. Es war der größte Turm, den Antilius, Gilbert und Haif je gesehen hatten. Dreihundert Meter reichte er in die Höhe, sodass seine Zinne etwa auf einer Höhe mit dem oberen Kraterrand lag, auf dem sie sich gerade befanden. Eine filigrane Steinbogenbrücke verband die Turmspitze in der Mitte mit dem äußeren Rand.
»So etwas Riesiges habe ich noch nie gesehen!«, rief Haif aufgeregt.
»Niemand, der nicht hier geboren wurde, hat die Stadt der Ahnen je gesehen«, merkte die Präfektin sichtlich stolz an.
»Ich hatte ganz vergessen, wie schön sie ist«, sagte Pais sichtlich gerührt. Nie hätte er gedacht, nach so vielen Jahren wieder hierher zurückzukehren.
Die Gruppe, angeführt von der Präfektin, lief ein Stück auf dem Kraterrand entlang bis zur Steinbrücke.
»Wir werden die Stadt der Ahnen betreten, indem wir über die Brücke und dann durch den Turm im Zentrum nach unten gehen werden. Direkt unter dem Turm in einem unterirdischen Raum unter dem See befindet sich die Pinakothek«, sagte die Präfektin und eilte zügigen Schrittes voran.
Sie überquerten die Brücke. Antilius und Haif drehten ständig ihre Köpfe von der einen zur anderen Seite, so viel gab es zu sehen. Sie wussten gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollten.
»Unglaublich!«, staunte Antilius. »Einfach unglaublich! Wieso wurde die Stadt so aufwendig mitten in einem Krater errichtet, Präfektin?«
»Die Absicht war, die Stadt der Ahnen als eine Art Festung zu bauen. Außerdem kann man trotz der Nähe zum Meer die Stadt hinter dem Vulkankegel von seewärts aus nicht sehen. Da schien dieser Ort hier genau richtig zu sein, um sich vor unerwünschten Blicken zu schützen.«
»Ein gutes Versteck. Ein wirklich gutes Versteck. Die Menschen sind gar nicht so dumm«, sagte Haif anerkennend.
»Na, wenn das von dir kommt, muss das ja ein besonderes Lob sein«, stichelte Gilbert aus seinem Spiegelgefängnis.
»Ja, ja. Mach du nur deine Witze, Gilbert«, sagte Haif verärgert. »Im Gegensatz zu den Menschen und anderen Völkern ist es uns Sortanern immer gelungen, sich aus Schwierigkeiten oder aus kriegerischen Auseinandersetzungen herauszuhalten.«
»Ja, genau. Ihr Sortaner haltet euch doch aus allem heraus, was mit Stress oder Anstrengung zu tun hat«, sagte Gilbert.
»Das ist nicht wahr! Wenn es so wäre, dann wäre ich ja wohl kaum hier.«
»Ausnahmen bestätigen die Regel.«
Haif wollte dieser Frechheit etwas entgegensetzen, aber Pais hielt ihn zurück und sagte zu Haif: »Er kann einem richtig auf die Nerven gehen, nicht wahr? Daran musst du dich gewöhnen. Glaub mir Haif, alles andere schadet deiner Gesundheit. Ich spreche da aus Erfahrung.«
Mittlerweile hatten sie die Turmspitze erreicht. Eine Wache öffnete ihnen eine hölzerne Tür. Sie durchquerten sie und schritten eine unendlich lang scheinende Wendeltreppe hinab. Als sie unten angekommen waren, fanden sie sich im Freien wieder, auf dem Lavadom. Von hier unten sahen die bebauten Terrassen um sie herum noch majestätischer aus als vorher.
Die Präfektin ging bis zum Ufer des kleinen Sees und machte vor einer in den Boden eingelassenen Luke halt. Sie ging in die Knie und klopfte mehrmals dagegen.
»Hinter dieser Luke ist die Pinakothek?«, fragte Antilius.
»Ja, sie liegt viele Meter unter dem See in einer Höhle, die wohl zu aktiven Zeiten des Vulkans auf natürlichem Wege entstanden ist. Die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur sind dort konstant. Damit herrschen ideale Bedingungen für die Gemälde«, erklärte die Präfektin.
Die Luke wurde unter lautem Knarzen von innen geöffnet. Eine hagere und ungewöhnlich blasse Gestalt steckte die Nase heraus. Es war ein alter Mann mit schütterem weißen Haar und trüben Augen.
»Ich glaube, der kommt nicht oft an die frische Luft«, flüsterte Gilbert Antilius zu.
»Präfektin!«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Ich fühle mich geehrt, Euch hier wieder begrüßen zu dürfen.« Dann entdeckte er die Neuankömmlinge und sah sie irritiert an, wobei er mehrmals die Augen zusammenkniff. »Was sind das für Leute?«
Die Präfektin stellte jeden ihrer Begleiter kurz vor. Antilius als letzten.
»Antilius...«, wiederholte der alte Mann, der sich zuvor knapp als Avest Dremor vorstellte. »Was für ein ungewöhnlicher Name. Äußerst ungewöhnlich.«
»Dürfen wir nun eintreten?«, fragte die Präfektin.
»Gewiss,« sagte Avest und machte Platz für die Besucher.
Haif wollte gleich als zweiter hinter der Präfektin die Stufen hinter der Bodenluke hinabsteigen, als er von Avest zurückgehalten wurde.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Aber ich kann nicht alle hereinlassen. Nur zwei der Fremden dürfen herein. Ihr dürft bestimmen, wer.«
»Avest, ist das jetzt denn wirklich notwendig?«, fragte die Präfektin.
»Es ist mein Verantwortungsbereich. Ich habe in diesem Gewölbe mehr Zeit verbracht als am Tageslicht. Ich möchte nicht, dass etwas zu Schaden kommt. Und zu viele Stimmen könnten die heilige Ruhe dieses Ortes stören.«
»Ist schon gut«, sagte Pais. »Antilius und ich werden gehen.«
»Und ich darf nicht mit? Das ist unfair!«, sagte Haif und machte einen Schmollmund.
»Es ist mir wirklich sehr unangenehm«, entschuldigte sich die Präfektin. »Avest kann manchmal sehr... eigen sein«, sagte sie und warf dem alten Mann einen finsteren Blick zu.
»Also schön, dann bleibe ich eben hier. Mit mir kann man es ja machen.«
»Jetzt stell dich nicht so an, Haif. Lass das mal uns Erwachsene machen«, stichelte wieder Gilbert aus seinem Spiegel.
»Du darfst auch nicht mit, Gilbert«, sagte Pais.
»Was? Wieso das denn?«
»Zu viele Stimmen stören die heilige Ruhe dieses Ortes, schon vergessen? Und wenn eine Stimme diesen Ort stören kann, dann mit absoluter Sicherheit deine.«
»Sehr witzig.«
Antilius nahm den Spiegel aus seiner Brusttasche und gab ihn Haif. »Ich verspreche, dass wir euch alles erzählen werden, wenn wir wieder zurückkommen. Würdest du solange auf Gilberts Spiegel aufpassen?«
Widerwillig nahm Haif den Spiegel und nickte knapp. Dann sah er zu Gilbert hinein. »Komm ja nicht auf die Idee, wieder irgendwas Dummes zu sagen! Ich habe nämlich gerade ziemlich schlechte Laune und möchte mich nicht mit dir unterhalten, verstanden?«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte Gilbert. »Und pass du auf, dass du mir nicht den Spiegel vollhaarst!«
»Na, wie ich sehe, versteht ihr euch beide ganz prächtig. Bis später dann«, sagte Pais schadenfroh und schob Antilius zur offenen Bodenluke, hinter der sie schließlich beide verschwanden.
Eine lange in den Fels gehauene Treppe führte sie direkt in die unterirdische Pinakothek.
Es war zu dunkel, um die Ausmaße der Höhle zu erfassen.
Die Präfektin, Antilius und Pais blieben am unteren Treppenende stehen und warteten, bis Avest mehrere Öllampen entzündete, die in dem Raum an den Wänden verteilt waren.
Die Höhle mit ihren schwarzen Wänden aus erkaltetem Lavagestein entpuppte sich als nicht besonders groß. Die Wände waren begradigt und abgeschliffen worden, damit die Gemälde ordnungsgemäß aufgehängt werden konnten.
Etwa zwei Dutzend dieser Bilder waren hier. Die meisten waren eher klein und zeigten nur nichtssagende Porträts und Landschaftsaufnahmen, die theoretisch jeden Ort auf Thalantia hätten darstellen können.
Nur zwei Bilder fielen aus der Reihe. Eines zu ihrer Linken hatte eine Größe von etwa vier mal fünf Metern. Das andere war so kolossal, dass es die gesamte rechte Höhlenwand für sich beanspruchte. Antilius schätzte seine Größe auf sechzehn mal acht Meter.
Es war zwar noch immer alles andere als hell, aber es reichte aus, um alle Details auf den Bildern erkennen zu können. Zu viel Licht würde den Werken schaden, meinte Avest.
Die Präfektin ging zum linken kleineren Gemälde. »Würdet Ihr unseren Gästen etwas über dieses Bild erzählen, Avest?«
Der räusperte sich. »Ich weiß, dass ich das nicht erwähnen brauche, aber ich muss darum bitten, auf keinen Fall, ich wiederhole, auf gar keinen Fall eines der Bilder zu berühren. Als sie gefunden wurden, waren nicht wenige in sehr schlechtem Zustand. Insbesondere die beiden großen Gemälde waren beinahe zerstört. Es dauerte Jahrzehnte, sie zu restaurieren.«
»Wir werden nichts anfassen,« sagte Pais.
Antilius betrachtete fasziniert das Bild. Auch wenn es nicht offensichtlich war, was es darstellte, so ahnte er es doch sofort.
»Dieses Bild wurde zwar nach dem großen Krieg vor annähernd tausend Jahren gefertigt, es zeigt jedoch eine Begebenheit unmittelbar vor dem Konflikt«, sagte Avest. »Im Vordergrund am unteren Bildrand seht Ihr die Dächer und Zinnen einiger Häuser und Türme, welche wohl den Stadtrand der damaligen Hauptstadt des Königreichs Truchten darstellen sollen. Bewohner strömen aus ihren Häusern ins Freie. Es sind Largonen. Alle wollen sehen, was dort vom Himmel gekommen ist.«
»Es ist ein gleißendes Licht, das über der Erde schwebt. Was soll das sein? Ein Komet?«, fragte Pais.
»Nein. Das ist Ilbétha«, antwortete Antilius. »Oder irre ich mich?«
»Ihr irrt Euch nicht«, sagte die Präfektin.
»Das soll Ilbétha sein? So soll sie aussehen? Wie eine gottgleiche Lichtgestalt?«, zweifelte Pais.
»Ihr wahres Aussehen kennt niemand. Es heißt, dass Ilbétha sich in einer uns unbekannten Weise verschleiert hat, damit niemand ihr wahres Antlitz sehen konnte«, sagte Avest. »Dies hier ist nur eine Interpretation. Es dient lediglich zur Veranschaulichung, was an jenem Tage in der fernen Vergangenheit auf Thalantia geschehen ist. Ilbéthas Ankunft war der Wendepunkt für unsere Welt. Dieser Tag markierte das Ende des alten Thalantia, das von technologischem Fortschritt geprägt war. Und es war der Anfang von dem Thalantia, das wir heute kennen. Eine Gottheit ist sie definitiv nicht. Es gibt kein Volk auf unserer Welt, das jemals seine Gebete zu ihr gerichtet hätte. Sie war Wirklichkeit, davon bin ich überzeugt.
»Was wisst Ihr über Ilbétha?«, fragte Antilius.
»Ich kann Euch über Ilbétha kaum mehr erzählen, als es die Präfektin sicher schon getan hat. Sie besaß etwas, das so einzigartig und machtvoll war, dass Wesen aus Welten, die wir uns kaum vorstellen können, hierher kamen, um es zu bekommen.
Ich erinnere mich an einen Satz, der von einem Zeitzeugen stammen soll. Er sagte, dass Ilbétha das Wunderschönste, aber zugleich auch das Furchterregendste gewesen sein soll, das Thalantia jemals widerfahren war. Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren, aber Eines halte ich für gewiss: Ilbétha war ein Geschöpf, dessen Fähigkeiten alles überstiegen, was wir kennen.
Aber Ilbétha ist nicht mehr. Also werden wir ihr Geheimnis nie erfahren.«
Wieder musste Antilius an die Worte des Orakels in Verlorenend denken, wonach Ilbétha noch irgendwo auf Thalantia sein musste. Nur ob sie noch lebendig war oder nicht, schien für das Orakel keine Rolle gespielt zu haben. Ihre Macht, worin diese auch immer bestehen oder bestanden haben mag, war für Thalantia eine große Gefahr, sollte es dem Dunkelträumer gelingen, zurückzukommen.
Auch jetzt entschied sich Antilius, die mahnenden Worte des Orakels zu beherzigen und nichts von diesem Wissen mit jemandem zu teilen. Je weniger Personen davon wussten, desto besser. Diejenigen, die noch von ihrer Existenz Kenntnis hatten, hielten sie für tot. Und vielleicht stimmte das sogar. Dabei wollte es Antilius vorerst belassen.
Avest ging zur gegenüberliegenden Höhlenwand voraus, zum riesigen Bild. Wie es schien, stellte es mehrere Situationen und Orte dar. Am linken Bildrand war ein kleines Dorf zu sehen, das vollkommen in Flammen stand. Darüber kreisten saurierähnliche Flugvögel, die enorm groß gewesen sein mussten, glaubte man den vorgegebenen Proportionen des Bildes.
Weiter rechts folgte eine schier unüberschaubare Szene, in der sich Menschen auf riesigen katapultartigen Gerüsten und mobilen Verteidigungstürmen gegen eine Armee von Wesen zu Wehr setzten, deren Andersartigkeit wohl schwer in Worte zu fassen war. Manche waren nur als vernebelte Silhouetten skizziert, andere hatten eine humanoide Gestalt, waren jedoch keine Menschen oder andere Bewohner Thalantias.
Diese Szene stellte nur eine von zahllosen anderen Kriegsschauplätzen dar, die es zu jener Zeit gab.
Darüber hinaus gab es noch so viel mehr zu sehen, dass Pais und Antilius Tage gebraucht hätten, um alles zu erfassen und zu interpretieren. Zwei Dinge jedoch fielen ihnen vor allem anderen auf: Aus einem dunklen Wald im Hintergrund ragten riesige Köpfe heraus. Ob es lebendige Riesen oder Statuen waren, das war nicht möglich zu erkennen, und auch Avest wusste auf Nachfrage hin keine eindeutige Antwort darauf.
Und dann war dort noch ein See ganz oben im Bild, weit in der Ferne, aus dem ein riesiges, schlangenartiges Wesen emporragte, das in Flammen stand. Eine Szene, ebenso bizarr wie unheimlich.
Antilius lenkte seinen Blick auf die Mitte des Bildes und erkannte sofort, um wen es sich bei der dort in den Vordergrund gestellten Figur handelte.
»Das ist er. Das ist der Dunkelträumer«, sagte die Präfektin.
Zu sehen war ein humanoides Wesen, das gänzlich aus einer Art Kristall zu bestehen schien. Einem lebenden, wandelnden Fluorit mit Armen und Beinen gleich, war es überwiegend hellgrün mit Anteilen von violett. Es sah aus wie ein mit einem Fluorit-Mineral überzogener Mensch, dachte Antilius.
»Der Dunkelträumer ist, soweit wir das wissen, ein kristallines Wesen, das vom Volk der Uwore abstammt«, erklärte Avest. Die Uwore waren eine treibende Kraft im Kampf um Ilbétha. Es heißt, sie seien unsterblich, was ich jedoch bezweifle. Allerdings gelang es angeblich nicht, einen von ihnen zu töten.«
»Was hält er da in seiner Hand?«, fragte Pais und bezog sich damit auf einen langen gezackten Kristallstab, den der Dunkelträumer angriffslustig gen Himmel reckte.
»Das ist der Speer des Uwor. Die kristallinen Speere wuchsen ihm aus seinem Rücken. Wenn er sie zum Kampf benötigte, brach er einen aus seinem Rücken ab und durchbohrte seine Gegner damit.«
»Wie sonderbar«, murmelte Pais.
Erst jetzt erkannte Antilius, dass auf der Szenerie, die er eben betrachtet hatte, mehrere dieser Uwore zu sehen waren.
»Die Uwore waren maßgeblich für die weitgehende Zerstörung der Städte, Königreiche und aller damaligen Errungenschaften der Thalantianer verantwortlich.
Nachdem bekannt wurde, dass Ilbétha verschieden war, war es für Thalantia bereits zu spät. Denn fast alles war vernichtet worden. Die Uwore und die meisten anderen Geschöpfe von jenseits Thalantias kehrten in ihre Heimatwelten zurück.
Einige blieben und hielten sich verborgen.
Und ein Uwor, den wir als Dunkelträumer bezeichnen, blieb auch zurück.« Avest ging zum rechten Teil des riesigen Bildes. »Die Szene hier zeigt die Verbannung des Dunkelträumers.«
Die letzte und zugleich auch füllendste Szene des Bildes zeigte den Dunkelträumer umringt von einer Kette von Menschen, Sortanern, Largonen und anderen Bewohnern Thalantias, darunter einige, deren Völker heute als ausgestorben gelten. Die meisten davon waren jedoch Menschen. Sie hielten sich an den Händen. Über ihren Köpfen schien sich eine Art Energiefeld gebildet zu haben, in der Farbe ähnlich einem nächtlichen Polarlicht. Der Dunkelträumer in der Mitte stand gekrümmt mit den kristallinen Händen an die Ohren gepresst und geschlossenen Augen da und schien furchtbare Qualen zu erleiden.
»Was geschieht da genau? Und wer sind diese Leute, die den Dunkelträumer eingekreist haben?«, wollte Antilius wissen.
»Dies ist eine Gruppe von speziell befähigten und ausgebildeten Auserwählten, die gemeinsam eine mentale Kraft erzeugen konnten, gegen die der Dunkelträumer nichts ausrichten konnte. Auf dem Bild hier öffnen sie gerade den Eingang zu einem Tunnel durch unser Raumzeit-Gefüge, um den Uwor schließlich bis ans andere Ende des Universums zu schleudern«, erklärte Avest.
Antilius runzelte die Stirn, während er konzentriert das Gemälde studierte. »Irgendetwas stimmt nicht«, sagte er.
»So? Was denn? Habt Ihr einen Fehler auf dem Gemälde erkannt?«, fragte die Präfektin.
»Ich meine nicht das Bild selbst. Warum ausgerechnet der Dunkelträumer? Es gab auch noch andere Wesen, die geblieben sind. Warum sind diese nicht auch verbannt worden? Was machte den Dunkelträumer so gefährlich, wo doch schon alles vernichtet und Ilbétha verstorben war, wie Ihr sagtet? Welche Macht hätte er als einzig übriggebliebener Uwor noch entfalten können?« Antilius machte eine Pause, bevor er die letzte abschließende Frage stellte: »Was unterscheidet den Dunkelträumer von den anderen Wesen, die über unsere Welt herfielen?«
»Wie schon gesagt, stammt das meiste Wissen, über das wir heute verfügen, nur aus fragmentarischen Überlieferungen«, sagte die Präfektin resigniert. »Und deshalb habe ich auch nicht auf jede Frage und jede Ungereimtheit eine Antwort.
Aber ich glaube, dass die Verbannung des Dunkelträumers eine Konsequenz eines Plans war, den unsere Vorfahren nach dem Krieg in die Tat umsetzten.
Es war der sogenannte Obliviscimus-Plan.«
»Ein 'Wir-vergessen-Plan?«, übersetzte Pais.
»Ja, so könnte man es auch bezeichnen. Die Zerstörung auf Thalantia und das Entsetzen darüber waren so groß, dass man beschloss, alles, was an diese schreckliche Zeit erinnern könnte, zu vernichten, soweit dies möglich war. Die Überlebenden aller Völker schworen sich, ihren Kindern und Kindeskindern niemals etwas über Ilbétha, die fremden Invasoren und den Krieg zu erzählen. Niemals sollte etwas an diese Zeit erinnern können. Die Furcht, dass die Invasoren noch einmal zurückkehren und unsere Welt unterjochen würden, war so groß, dass man jedwede Verbindung zu den Ereignissen von damals kappte. Sogar die damals gesprochene Sprache wurde aufgegeben und durch eine neue ersetzt. Denn Ihr müsst verstehen: Man wusste nicht, warum Ilbétha ausgerechnet auf Thalantia gestrandet war. Und wir wissen es bis heute nicht. Dennoch wurde lange nach einer plausiblen Erklärung gesucht. Man kam zu dem Glauben, dass unsere Welt eine Art spirituelles Zentrum unseres Universums sei, das bei anderen Wesen Begehrlichkeiten weckte.
Deshalb sollte es nichts mehr geben, das Fremde auf Thalantia und seine Verlockungen, gleich welcher Art sie auch sein mochten, aufmerksam machte.
Der Obliviscimus-Plan bedeutete aber auch, dass man die technischen Errungenschaften jener Zeit aufgab und wieder ein konventionelles Leben begann. Ohne Maschinen. Nur ein paar Dinge blieben bis heute bestehen. So wie die Einschienen-Bahn. Es gab damals nicht genügend Arbeitskräfte, die sie hätten demontieren können. Und so wurde sie eine ganze Zeitlang vergessen und blieb unbeachtet in den Wäldern. Ein paar Jahrhunderte später entdeckte man sie wieder und rätselte über ihre Herkunft. Aber es gab niemanden mehr, der die Technik dahinter verstand. Und das Interesse, diese Technik zu erlernen, war durch die neue Lebensphilosophie, die im Fortschritt mehr Gefahren als Vorteile sah, auf Thalantia kaum vorhanden.«
»Es ist nachvollziehbar, dass unsere Vorfahren damals so gehandelt haben«, sagte Pais anerkennend. »Es hat ja immerhin rund ein Jahrtausend lang funktioniert. Auch wenn diese Vorgehensweise keine Garantie dafür ist, dass Thalantia noch einmal von den Fremden überrannt wird.«
»Sie mussten irgendetwas tun, um sich vor dieser Gefahr zu schützen, sei sie nun real oder eingebildet gewesen. Auf den ersten Blick scheint es zwar wenig klug zu sein, alles vergessen zu lassen. Aber wahrscheinlich wollte man die Thalantianer auch vor sich selbst beschützen. Ich denke, man wollte nicht riskieren, dass einer von ihnen jene Mächte, die damals am Werke gewesen waren, wiederentdeckt und zum Schlechten verwenden konnte«, sagte Antilius. »Aber... wie kam es denn zur Verbannung des Dunkelträumers?«
»Ich erzählte Euch ja, dass sich einige Wesen, die nicht nach dem Krieg in ihre Welten zurückkehrten, auf Thalantia verstecken mussten. Denn zur Verwirklichung des Obliviscimus-Plan gehörte auch, dass all jene, die keine Thalantianer waren, verfolgt und getötet wurden. Eine ganze Generation war mit dieser verachtenswerten Hetzjagd beschäftigt. Verachtenswert sage ich deshalb, weil es bei dieser Jagd keine Rolle spielte, ob sich der Gejagte ergab oder nicht. Einigen gelang es, sich vor der auf Rache sinnenden Meute zu verstecken. Unsere Vorfahren aber besaßen weder die Mittel noch die Kraft, alle zu verfolgen und zu finden. Und so konnten einige überleben. Bis heute. Es ist völlig unklar, wie viele es heute noch gibt, geschweige denn, wo sie sich befinden. Immer wieder flammen Gerüchte auf über merkwürdige Beobachtungen hier und dort. Aber die nimmt niemand wirklich ernst. Ganz selten kam es in der jüngeren Vergangenheit vor, dass die Existenz eines dieser Wesen offenbar wurde. So wie bei den Sandlingen oder den Spähern. Da aber heutzutage niemand mehr deren Herkunft erklären kann, blieben sie für die meisten nicht mehr als eine Kuriosität, die unsere Welt zu bieten hat.
Der Dunkelträumer jedoch floh nicht, und er kehrte auch nicht in seine Heimatwelt zurück. Nach dem, was wir überliefert bekommen haben, war jener Uwor eine treibende Kraft im Krieg gewesen und zettelte auch lange nach dessen Ende Konflikte an, um die Herrschaft über Thalantia zu erlangen. Dazu scharte er Anhänger um sich und organisierte Anschläge auf Siedlungen, um seine Gegner einzuschüchtern. Wie es hieß, verwendete er auch finsteren Zauber, um Unschuldige in den Wahnsinn zu treiben.
Er war das letzte große Übel, das übriggeblieben war. Aber niemandem gelang es, ihn zu töten oder gefangen zu nehmen, da seine Kräfte die der Thalantianer bei Weitem überstiegen.
Schließlich machten sich unsere Vorfahren das Wissen und die übernatürlichen Mächte, die auf Thalantia eingeschleppt worden waren, zunutze und entwickelten in geheimer Arbeit eine mentale Technik, die einen Tunnel in der Raumzeit öffnete, durch die sie den Dunkelträumer weit weg schicken konnten.
Es heißt, er wäre bis an das Ende unseres Universums verbannt worden. Dieses Ereignis seht Ihr hier vor Euch«, sagte die Präfektin und deutete auf das Gemälde.
»Nur die Begabtesten eines jeden Volkes unseres Planeten waren auserwählt, um dieses schwierige Vorhaben durchzuführen.
Aber bevor der Dunkelträumer verschwand, schwor er, eines Tages zurückzukehren und sich an allen zu rächen. Er werde dann noch mächtiger sein als zuvor und ganz Thalantia vernichten, hieß es. Von diesem Gedanken der Rache war er besessen.«
»Ich verstehe«, sagte Pais. »Und wie es scheint, ist es ihm fast gelungen. Zweimal sogar.«
»Richtig. Vor etwa 630 Jahren erschufen die hier auf unserer Welt versteckt lebenden Späher, welche die Rückkehr des Dunkelträumers herbeisehnen, einen Transzendenten. Eine Art spirituellen Führer, der ihn wieder in unsere Welt lotsen würde. Damals gab es aber noch den Geheimbund, der das Wissen um die Gefährlichkeit des Dunkelträumers und die Wahrheit über den Krieg der Invasoren bewahrte. Die Mitglieder dieses Bundes handelten schnell und sperrten die Macht des Transzendenten in ein Portal ein, das von den Spähern als Durchgang für den Dunkelträumer in unsere Welt gedacht war. Der Geheimbund demontierte es und versteckte die Teile. Den Spähern war vorerst das Handwerk gelegt. Bis schließlich, 600 Jahre später, Koros vor wenigen Tagen die Portalstücke fand und wieder zusammenfügte.
Koros ist zwar jetzt besiegt, aber die Macht der Transzendenz ist befreit und liegt nun in der Hand der Späher.
Das, was der Dunkelträumer jetzt noch braucht, um zurückzukehren, ist ein geeigneter Kandidat, der diese Macht in sich aufnimmt, zum neuen Transzendenten wird und ihn zurückholt.
Und er benötigt noch etwas: Das Avionium, dessen Energie in großen Mengen in den Bergen gespeichert war, die den Ort des missglückten zweiten Versuchs, einen Tunnel zum Dunkelträumer aufzubauen, umgaben. Als das Portal in sich zusammenfiel und sich ein schwarzes Loch bildete, wurde alle Energie des Avioniums aufgezehrt. Ohne das Avionium aber kann kein neuer Zugang zum Dunkelträumer geschaffen werden.«
Pais kratzte sich nachdenklich am Kinn, eine Geste, die er in den letzten Tagen häufiger machte. »Gibt es denn noch mehr von diesem Avionium auf Thalantia außer auf den Ahnenländern?«
»Keines, von dem wir wüssten. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht noch welches gibt, oder dass die Späher einen Ersatz für das Avionium beschaffen können.«
»Dann wissen wir auch nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt. Vermutlich mehr als tausend Jahre sind jetzt vergangen. Ist die Gefahr wirklich so groß, und steht uns die Rückkehr des Dunkelträumers wirklich schon so bald bevor?«, fragte wieder Pais.
»Die Gefahr ist größer denn je«, sagte Antilius überraschend. »Ich habe dem Dunkelträumer in die Augen geblickt. Er ist erwacht. Die Macht der Transzendenz ist befreit. Alles, was noch fehlt, ist ein geeigneter Führer als Transzendenter und genügend Energie aus dem Avionium für seine Rückkehr. Er war seinem Ziel noch nie so nahe wie jetzt. Möglich, dass es noch Jahre dauert. Möglich ist es aber auch, dass seine Rückkehr unmittelbar bevorsteht.« Antilius konzentrierte seinen Blick auf die rechte untere Ecke des riesigen Gemäldes, in der ganz klein ein wichtiges Detail zu erkennen war. Er zeigte darauf: »Und das hier wird darüber entscheiden, wann es soweit sein wird.«
Alle betrachteten sie den winzigen Bildausschnitt.
»Ein Buch?«, rätselte Pais.
»Es ist das Flüsternde Buch«, sagte Antilius mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Zorn in seiner Stimme.
»Ihr wisst vom Flüsternden Buch?«, stieß die Präfektin erstaunt aus.
»Ja, ich habe es gesehen. Ich habe es sogar in meinen Händen gehalten. Koros benutzte dieses Buch, bevor er zum Transzendenten wurde. Es sagte ihm, was er tun solle. Er war diesem Buch bedingungslos hörig. Er sagte auch, dass in diesem Buch alles über mich geschrieben stehen würde. Alles, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Und noch viel mehr.«
»Ich habe befürchtet, dass dieses Buch immer noch existiert«, seufzte die Präfektin.
»Ich verstehe nicht«, begann Pais, der mit Stirnrunzeln das kleine Buch auf dem Gemälde fest im Blick hielt. »Was hat dieses Buch mit unserem Problem zu tun?Was hat es damit auf sich?«
Mit einem Blick bedeutete die Präfektin, dass Avest die Erklärung übernehmen sollte.
»Das Flüsternde Buch ist nicht irgendein Buch. Es besitzt einen eigenen Willen. Genauso wie bei den Spähern ist es sein Wille, den Dunkelträumer zurück nach Thalantia zu holen. Während die körperlosen Späher die Macht der Transzendenz bewahren, ist es die Aufgabe des Flüsternden Buches, eine geeignete Person zu finden, welche durch eben jene Macht zum Transzendenten wird. Hat das Buch jemanden gefunden, manipuliert und belügt es ihn, damit derjenige glaubt, er selbst würde zu einem mächtigen Wesen werden. Über den Dunkelträumer, der durch den Transzendenten zurückgeholt werden soll, verliert es kein Wort.«
»Wer hat dieses Buch geschrieben?«
Avest schüttelte enttäuscht den Kopf: » Das wissen wir leider nicht. Aber wir glauben, dass dieses Buch nicht auf normalem Wege entstanden ist. Wenn es noch existiert, dann wird es weiter versuchen, einen neuen Transzendenten zu finden. Die Späher vermögen dies nicht zu tun. Wenn wir das Flüsternde Buch finden und vernichten würden, wäre die Gefahr durch den Dunkelträumer gebannt. Denn ohne Transzendenten kann er nicht zurück. Antilius, wisst Ihr, wo Koros das Buch zuletzt aufbewahrte?«
»An der Barriere von Valheel hatte er es nicht bei sich. Da bin ich mir ganz sicher, denn ich konnte für einen Moment seine Gedanken lesen. Er muss es in seinem Anwesen zurückgelassen haben. Aber selbst wenn es so ist, wie ich vermute, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass es noch dort ist. Das Buch ist nämlich listig. Es hat vermutlich schon längst einen neuen Besitzer gefunden.«
»Falls dem so ist, dann kann es nicht weit gekommen sein. Wir müssen sofort aufbrechen und nach dem Buch suchen«, sagte Pais, und Antilius stimmte zu.
»Einen Moment noch«, unterbrach die Präfektin die Aufbruchstimmung. »Für Antilius habe ich einen andere Aufgabe angedacht, die mindestens ebenso bedeutsam ist.«
Antilius bekam eine Gänsehaut. Ganz gleich, was die Präfektin im Sinn hatte, es würde ihm nicht gefallen. »Was meint Ihr?«
»Das Buch zu finden hat Priorität. Doch möchte ich Pais mit dieser Aufgabe betrauen. Er kennt sich auf Truchten bestens aus und kann nach dem Buch suchen, ohne zu viel Aufmerksamkeit zu erregen.«
Pais nickte: »Ich werde mich darum kümmern.«
»Da Ihr aber, Antilius, offenbar über Begabungen verfügt, die sich unserem Verständnis entziehen, und ohne die wir jetzt wohl nicht mehr hier stehen und dieses Gespräch führen würden, halte ich es für wichtiger, dass Ihr mehr über den Dunkelträumer herausfindet.«
»Warum? Was kann wichtiger sein, als das Flüsternde Buch zu finden und zu vernichten? Warum soll ich jetzt Nachforschungen über den Dunkelträumer anstellen?«
»Weil es etwas gibt, das Euch und den Dunkelträumer verbindet. Ihr habt ihm in die Augen geblickt an der Barriere von Valheel. Ihr habt das Schwarze Loch geschlossen, das uns beinahe alle vernichtet hätte. Wenn Ihr mehr über diesen Uwor erfahren würdet, dann könntet Ihr vielleicht auch herausfinden, wie man ihn vernichten kann, für den Fall, dass er doch zurückkehren sollte.
Oder anders ausgedrückt: Wir brauchen einen Plan B, falls das Flüsternde Buch nicht auffindbar ist.«
»Ihr habt wohl recht«, gestand Antilius nach einer kurzen Bedenkzeit. »Und wo soll ich mit meiner Suche anfangen?«
»Ihr werdet nach Arbrit reisen.«
»Arbrit, die zweite Inselwelt? Ist das nicht der Ort, auf dem die riesigen schwimmenden Immerfestbäume wachsen?«, unterbrach Pais und sah Antilius begeistert an. »Du Glückspilz! Ich wollte schon immer einmal die Urwälder von Arbrit besuchen. Arbrit beherbergt eines der wohl beeindruckendsten Naturwunder Thalantias! Ich wünschte, ich könnte dich begleiten, aber ich werde mich um das Flüsternde Buch kümmern müssen.«
»Ich hoffe, Ihr werdet einen Moment der Ruhe haben, um die Wälder der Riesenbäume genießen zu können«, sagte die Präfektin zu Antilius.
»Aber ich werde wohl kaum diesen Ausflug machen, um die Natur zu bestaunen. Was erwartet mich dort?«
»Einer unserer besten Forscher geht dort gerade einer Spur nach, die bei Eurer Mission hilfreich sein könnte. Es gibt niemanden, der mehr über die Vergangenheit unserer Welt weiß als er. Sein Name ist Tirl. Er gehört zum Volk der Arboraner.«
»Noch nie von denen gehört.«
»Das überrascht mich nicht. Die Arboraner leben sehr zurückgezogen in den Wäldern.«
»Und Ihr steht mit ihm in Kontakt? Ich dachte, die Ahnenländer hätten sich nach außen hin vollkommen abgeschottet?«
»Und das sollen auch weiter alle so denken. Wir wären ja töricht, wenn wir uns nicht über die Geschehnisse außerhalb unseres kleinen Eilandes informieren würden. Wie sonst hätten wir uns auf den Angriff von Koros an der Barriere vorbereiten können?«, erklärte Avest.
»Und was erforscht dieser Tirl?«, fragte Antilius, der am liebsten sofort aufbrechen würde, weil ihm dieses unterirdische Gemäuer zunehmend unheimlich war.
»Er entdeckte etwas in einem See mitten im Wald. Sein Wasser soll ungewöhnlich klar sein. Wie es den Anschein hat, befindet sich in diesem See eine versunkene Stadt. Eine Stadt, die aus der Zeit des großen Krieges stammen könnte. Einheimische berichteten ihm, dass sie schon des öfteren Stimmen und Wehklagen an jenem Ort gehört haben wollen. Tirl glaubt, dass in diesem See noch Wesen leben könnten, die von jener Zeit vor tausend Jahren berichten können, weil sie sie selbst erlebt haben.«
»Und wie soll mir das dabei weiterhelfen, etwas über den Dunkelträumer zu erfahren?«
Die Präfektin nickte Avest zu. Dieser ging zu einer Vitrine und holte eine kleine Holzschachtel heraus. Er drückte sie Antilius ungeöffnet in die Hand und bedeutete ihm, hineinzuschauen.
Antilius öffnete zögerlich den Deckel und holte ein faustgroßes Stück Kristall heraus.
»Dies hat Tirl vor einiger Zeit in der Nähe des Sees gefunden. Er brachte es zu uns, damit wir seinen Ursprung analysieren konnten«, sagte Avest, der den Kristall in Antilius' Händen wachsam im Blick behielt.
»Er fühlt sich ganz warm an. Stammt er vom Dunkelträumer?«
»Er gehörte auf jeden Fall einem Uwor. Ob er vom Dunkelträumer selbst stammt, können wir nicht sagen. Seid vorsichtig damit! Es ist nicht nur das größte, sondern zugleich auch das einzige Fossil, das diese Wärme abstrahlt«, sagte Avest nervös.
Aber Antilius hörte gar nicht mehr zu. Er war von diesem Stück Kristall fasziniert und konnte seinen Blick nicht abwenden. Es war das erste Mal, dass er ein Stück Geschichte berühren konnte. Und diese Berührung löste in ihm etwas aus, das ihm ungewohnt, aber nicht fremd erschien. Es war so, als ob dieser Überrest eines Uwors eine Erinnerung in ihm auslösen wollte. Doch seine innere Blockade, die er sich nicht erklären konnte, verhinderte jegliche Reminiszenz. Er fluchte deshalb innerlich. Aber zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er endlich den richtigen Weg einschlagen würde, wenn er der Spur des Dunkelträumers folgen würde.
Die Präfektin bemerkte Antilius' geistige Abwesenheit und wollte ihn wieder auf seine zukünftige Aufgabe lenken. Sie bedeutete Avest, fortzufahren.
»Tirl sagte, dass es an diesem See noch mehr Bruchstücke dieses Kristalls geben würde. Dieser hier ist das größte, das er gefunden hat. Er ist sich absolut sicher, dass wir an jenem Ort mehr über die Uwore und über den Dunkelträumer erfahren können als jemals zuvor. Mit ein wenig Glück hat er das bereits getan, wenn Antilius ankommt. Den Kristall werdet Ihr mitnehmen und Tirl zurückgeben, damit er weiß, dass er Euch trauen kann.«
Antilius riss sich aus seinen Gedanken los. Er legte den Kristall wieder zurück in das Kästchen, schloss den Deckel und seufzte. »Ich hoffe inständig, dass ich endlich mehr erfahren kann.
Wie schätzt Ihr diesen Tirl ein? Kann man ihm wirklich trauen?«
»Er ist brillant und absolut loyal. Aber er ist auch ein wenig sonderbar. Doch das werdet Ihr schon selbst herausfinden«, sagte die Präfektin und lächelte dabei ganz kurz.
»Ich hoffe, dass ich noch genug Zeit habe. Die Reise nach Arbrit mit einem Schiff dauert wenigstens acht Tage, günstige Windverhältnisse vorausgesetzt.«
»Eure Reise werdet Ihr nicht mit einem Schiff antreten. Wir haben da ein... anderes Transportmittel, mit dem es deutlich schneller gehen wird.«
»Was ist es?«
»Ich werde es Euch zeigen, wenn Ihr bereit seid, aufzubrechen. Wenn es noch etwas gibt, das Ihr vorher erledigen wollt, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, es zu tun.«
»Ich habe alles, was ich benötige«, sagte Antilius. Da musste er auch nicht lange überlegen, denn er besaß nichts mehr von dem, das er nach Truchten mitgebracht hatte. In der Herberge hier auf den Ahnenländern waren er und seine Gefährten mit neuer Kleidung und ein paar Utensilien, wie Feldflaschen, Messern und anderen Dingen für die kommenden Tage ausgestattet worden.
Antilius besaß daher nichts Eigenes mehr, bis auf eine Ausnahme. Es war ein kleiner Gegenstand, der in ein Leinentuch eingewickelt war, und den er in Verlorenend erhielt, kurz bevor er jenen unerklärlichen Ort verlassen musste. Bestimmt ein halbes Dutzend mal in den vergangenen Tagen war er versucht gewesen, das Tuch zu entfalten und sich den Inhalt anzusehen, aber das kleine Mädchen, von dem er das mysteriöse Etwas erhalten hatte, sagte, er dürfe es nur enthüllen, wenn er sie wiedersehen würde. Und deshalb wagte er nicht, hineinzusehen. Er ahnte, dass dieser Gegenstand eine hohe Bedeutung hatte, die er sich heute noch nicht im Entferntesten vorstellen konnte, selbst wenn er ihn sich ansehen würde. Jener Gegenstand würde sein Schicksal entscheiden, wenn er am Ziel seiner langen Reise war.
Wo immer dies auch sein mochte.