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Aufbruch ins Unbekannte

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Während sich Haif vor dem Eingang zur Pinakothek mit zunehmendem Missmut die Beine in den Bauch stand, war man sich im Inneren mittlerweile über die weitere Vorgehensweise einig.

Pais und Antilius wurde zum ersten Mal im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt, womit sie es zu tun hatten, und was geschehen würde, wenn der Dunkelträumer zurückkehren würde. Obwohl die Präfektin und Avest ihnen alles, was sie über die ferne Vergangenheit wussten, wahrheitsgemäß erzählt hatten, so wurde Antilius das Gefühl nicht los, dass nicht zuletzt durch die Lückenhaftigkeit des überlieferten Wissens etwas Entscheidendes in der Geschichte fehlte.

Auch Pais schien denselben Gedanken zu haben. Mehrfach fragte er nach, ob dies auch wirklich alles gewesen sei, was man heute an Informationen besaß. Auch er konnte nicht recht glauben, dass sich alles so abgespielt hatte, wie es die letzten Bewahrer dieses Geheimnisses zu glauben wussten.

Geschichte wird von Siegern geschrieben, heißt es. Das ist eine der wenigen Konstanten, gegen die man nichts ausrichten konnte. Man würde nie die volle Wahrheit erfahren, und sei es auch nur aufgrund das Weglassens von bestimmten Ereignissen. In diesem Falle hatten es die Vorfahren geschafft, die Geschichte totzuschweigen und nur das, was wenige Auserwählte wissen sollten, weitergegeben.

Antilius war sich dieses Problems wohl mehr bewusst als die Präfektin oder Avest. Denn er war der Einzige, der Verlorenend betreten und es wieder mit düsteren Informationen verlassen hatte. Wenn es wirklich wahr wäre, dass sich Ilbétha noch irgendwo auf Thalantia befand - lebendig - dann wäre die Bedrohung durch den Dunkelträumer noch größer, als irgendjemand sich hätte vorstellen können. Denn Ilbéthas Macht war in den falschen Händen eine gefährliche Waffe, das jedenfalls vermutete er.

Dieses Wissen lastete schwer auf ihm, aber er zwang sich, dieses Geheimnis nicht preiszugeben, denn er wusste nicht, ob er den Hütern der geheimen Geschichte vollkommen trauen konnte. Auch wusste er nicht, ob die unbegreifliche Anziehungskraft Ilbéthas nicht wieder eine Katastrophe auslösen würde, sollte sich das Gerücht herumsprechen, dass sie noch am Leben war.

Es war besser, wenn niemand davon erfahren würde, auch seine Freunde nicht.

Pais und er machten sich gerade daran, die unterirdische Pinakothek wieder zu verlassen, als Antilius eine hölzerne Bodenplatte auffiel, die nicht mehr als zwei Quadratmeter groß war und mit dem Steinboden eine ebene Fläche bildete.

»Was ist das? Gibt es darunter noch einen Raum?«

Avest schüttelte den Kopf. »Nein, aber vor vielen Jahren glaubte man, dass unter dieser Höhle noch eine Kammer wäre. Man meißelte sich ein paar Meter weit in die Tiefe und stieß tatsächlich auf eine Hohlkammer. Sie war jedoch mit Geröll zugeschüttet. Man konnte es unmöglich sprengen oder herausholen. Welche Funktion diese Kammer einmal gehabt hat, darüber können wir nur spekulieren.«

»Eines der vielen Geheimnisse, die wohl für immer ungeklärt bleiben«, bemerkte Pais mit einem Ansatz von Vorwurf in seiner Stimme. Denn er hatte sich letztlich wesentlich mehr erhofft, als ein Bild und ein Stück Kristall präsentiert zu bekommen.

Sie verließen schließlich den Raum. Antilius hielt am Treppenaufgang noch einmal kurz inne und drehte sich auf dem Absatz um. Irgendetwas an diesem Gemälde hatte er übersehen. Irgendein Detail. Etwas Wichtiges. Doch er konnte es nicht finden.

Er würde irgendwann noch einmal zurückkommen, um sich in Ruhe das Bild genauer anzusehen.

Mit einem unguten Gefühl wandte er sich ab und folgte den anderen nach draußen.

Wie versprochen erfuhren Haif und Gilbert von ihren Gefährten alles, was sie in der Pinakothek gesehen hatten. Als Antilius erklärte, dass er nach Arbrit reisen müsse, reagierte Haif überhaupt nicht erfreut.

»Ach wie schade! Gerade wenn es spannend wird, müssen wir uns trennen. Und was soll ich jetzt machen?«, sagte er und gab Antilius den Spiegel zurück.

»Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen«, wollte Antilius den pelzigen Sortaner aufmuntern. »Du kannst dich entscheiden, ob du mit mir und Gilbert nach Arbrit reisen möchtest, oder ob du mit Pais auf die Suche nach dem Flüsternden Buch gehst.

Er kann doch mit mir kommen, oder Präfektin?«

»Einen Gefährten könnt Ihr mitnehmen.«

»Da hörst du es. Und? Mit wem möchtest du mitgehen?«

Haif hatte nicht damit gerechnet, vor die Wahl gestellt zu werden. Er machte ein nachdenkliches Gesicht und überlegte intensiv. »Also entweder in eine unbekannte Welt mit gigantischen Bäumen reisen oder nach einem verrückt gewordenen Buch suchen. Ich weiß nicht. Ach, ich hasse diese Konflikte!«

»Ihr müsst Euch nicht sofort entscheiden«, beruhigte ihn die Präfektin. Wir werden Antilius zum Abreisepunkt begleiten, solange könnt Ihr es Euch noch überlegen. Dort oben ist es. Seht Ihr?« Sie zeigte zur dritten Terrasse des inneren Vulkanhangs. Vom untersten Punkt des Vulkans aus, an dem sie sich befanden, konnte man dort oben nur eine große unbebaute Fläche erahnen.

»Von dort aus soll ich aufbrechen?«, fragte Antilius verdutzt. »Was ist dort? Womit werde ich reisen, Präfektin?«

»Das werdet Ihr mit eigenen Augen sehen müssen, sonst würdet Ihr es mir nicht glauben.«

Antilius hatte zwar eine Ahnung, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass die Bewohner der Ahnenländer in der Lage waren, Fluggeräte zu bauen. Doch was sonst sollte auf der freien Fläche sein?

Während sie den Aufstieg zur dritten Terrasse bewältigten und dabei zwangsläufig durch die Wohngebiete gingen und an kleineren Handwerksbetrieben und Gaststätten vorbeikamen, fiel den Besuchern vor allem Eines auf: Nämlich, dass die Stadt der Ahnen offensichtlich bevölkerungsarm war. Auf den Straßen und Gassen herrschte gähnende Leere. Auf einem Marktplatz, den sie passierten, waren nur verstreut einige Menschen zu sehen. Überhaupt schien die Stadt der Ahnen ausschließlich von Menschen bewohnt zu sein und das auch nur äußerst spärlich.

Auf Nachfrage hin erklärte die Präfektin, dass die totale Isolierung der Ahnenländer vom Rest der Welt dazu geführt habe, dass die Einwohnerzahl mit der Zeit immer weiter schrumpfte. Man habe viele Versuche unternommen, etwas dagegen zu unternehmen, bisher jedoch erfolglos.

»Vielleicht solltet Ihr anfangen, darüber nachzudenken, die Isolation aufzuheben«, schlug Haif vor. »Der Grund für die Abspaltung der Ahnenländer liegt ja weit in der Vergangenheit. Und wenn ich das richtig verstanden habe, dann gibt es jetzt hier außer der Pinakothek nichts mehr, was diesen Zustand weiterhin rechtfertigt.«

»Das wäre eine große Veränderung. Eines Tages wird es vielleicht sogar möglich sein. Früher, vor dem großen Krieg, da lebten alle Völker Thalantias mehr oder weniger zusammen und gleichberechtigt unter der Führung der fünf Königshäuser. Heute hat sich jedes Volk sein eigenes Refugium geschaffen, und man redet nicht mehr so viel miteinander, wie es damals selbstverständlich war. Und wenn man nicht miteinander redet, versteht man sich auch nicht mehr. Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass unsere Vorfahren, und zwar die aller Völker, nach dem Krieg beschlossen, ihre ganze Kultur zu opfern, um ein neues Leben zu beginnen.

Heute besteht Thalantia nur aus verstreuten Provinzen und einigen Städten, jede mit ihren eigenen Regeln und Interessen.

Die Art, wie wir heute leben, ist eine direkte Konsequenz der folgenschweren Entscheidung unserer Vorfahren. Wir sind dadurch zwar bis heute von weiterem großen Unheil verschont geblieben, aber wir haben auch unsere Identität verloren.«

Die Präfektin machte für einen Moment Halt, weil sie von einem Gedanken erfasst wurde, den sie bis zum heutigen Tage nie gewagt hätte, laut auszusprechen. Doch jetzt tat sie es.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde. Ganz besonders nicht in unserer jetzigen Situation. Aber als ich von Euren Erlebnissen erfahren habe, Antilius, da hatte ich erstmals das Gefühl, dass wir die Chance haben, die letzte große Bedrohung für unsere Welt vernichten zu können. Mit Eurer Hilfe. Dass wir mit der Vergangenheit endgültig abschließen und eines Tages wieder so vereint leben zu können wie unsere Vorfahren.«

Antilius räusperte sich verlegen. »Ich weiß das Vertrauen, das Ihr in mich setzt, zu schätzen. Aber von mir ganz allein wird wohl kaum die ganze Zukunft abhängen können. Das wäre eine ziemlich unheimliche Vorstellung.«

Die Präfektin winkte ab. »Ach, vergesst, was ich gesagt habe. Ich habe nur laut gedacht. Ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen.«

»Schon gut«, sagte Antilius zuvorkommend, aber innerlich sackte er in sich zusammen. Denn, dass er nun zum einzigen Hoffnungsträger hochstilisiert wurde, war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Wenn es danach ginge, was ihm am liebsten wäre, dann hätte er alle Verantwortung abgegeben und sich verkrochen. Aber das war keine Option mehr. Dafür war schon zu viel passiert.

Inzwischen hatten sie die dritte Terrasse erreicht und durchschritten einen großen Torbogen, hinter dem sich eine langgezogene freie Grasfläche erstreckte.

Nur ein einziges Gebäude stand darauf. Es sah aus wie ein Stall. Die Präfektin betrat jenes Gebäude, nachdem sie Haif, Pais und Antilius bedeutet hatte, draußen zu warten.

»Was soll denn da drin sein?«, fragte Gilbert aus seinem Spiegel.

Nach einer Weile des gespannten Wartens erschien die Präfektin wieder mit einer Leine in der Hand. Ihr folgte ein etwa drei Meter hohes Geschöpf, von dem Antilius bis zu diesem Moment Stein und Bein geschworen hätte, dass es ausgestorben war.

»Darf ich vorstellen? Das ist unser vielleicht bestgehütetes Geheimnis: 'Alte Schwinge' ist ihr Name. Sie ist eine Artverwandte der Pterosaurier.«

»Ein Flugsaurier?«, murmelte Haif entsetzt, während er das urzeitliche Tier furchtsam betrachtete.

»Ganz recht. Ihre Flügelspannweite beträgt zwölf Meter. Auf ihrem Rücken kann Antilius den Weg nach Arbrit in weniger als einem Tag zurücklegen.«

»Ich dachte, das letzte Exemplar starb, als ich noch ein Kind war«, sagte Pais grinsend. »Zum Glück habe ich mich geirrt.«

Alte Schwinge war ein kupferfarbenes, anmutiges Geschöpf, federlos und mit einem sehr langen Schnabel. Sie zeigte sich von den Besuchern wenig beeindruckt und ließ sich von der Präfektin in stoischer Ruhe ein Sattelgeschirr anlegen.

Antilius blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke weg. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er einem urzeitlichen Flugsaurier gegenüberstand, sondern vor allem, weil er auf diesem eine Flugreise antreten sollte.

»Also ich muss zugeben, dass es nicht viele Momente gibt, in denen ich froh bin, hier im Spiegel zu sein. Aber bei dem Gedanken, auf dem Rücken eines Flugsauriers übers Meer zu fliegen, da weiß ich doch wieder meine vier Gefängniswände zu schätzen.«

»Vielen Dank, Gilbert. Du verstehst es, mir Mut zu machen.«

Während Antilius nur ganz natürliche Furcht vorm Fliegen hatte, packte Haif beim Anblick von Alte Schwinge das nackte Entsetzen.

»Tut mir Leid, Antilius. Aber ich bin nicht fürs Fliegen gemacht. Schon beim Gedanken daran kriege ich kalte Schweißausbrüche. Ich werde mit Pais das Flüsternde Buch suchen. Du schaffst das schon ohne mich.«

»Ist schon in Ordnung. Ich verstehe das. Aber sagt mir, Präfektin, wie äh, ich meine, wie steuere ich Alte Schwinge?«

»Ihr braucht überhaupt nichts tun. Alte Schwinge kennt den Weg in und auswendig. Sie hat Tirl schon öfters von Arbrit hierher und wieder zurückgeflogenen. Sie weiß, was sie tut. Sie wird Euch sicher ans Ziel bringen. Seid einfach nett zu ihr. Sie ist mit ihren einhundertfünfzig Jahren eine alte Dame. Behandelt sie also gut.«

Antilius nickte. »Also dann...«

»Viel Glück mein Freund. Und pass auf dich auf«, sagte Pais.

»Mir passiert schon nichts. Ich habe ja Gilbert dabei.«

»Deshalb sage ich ja, pass auf dich auf«, schmunzelte Pais.

»Sehr lustig. Ich lach mich tot«, kam es entrüstet aus dem Spiegel.

»Komm schnell wieder. Irgendwas sagt mir, dass unsere Suche nach dem Flüsternden Buch länger dauern wird. Dann werden wir deine Hilfe brauchen«, sagte Haif, schon in düstere Vorahnung versunken.

Antilius schwang sich auf das urzeitliche Wesen und hielt sich krampfhaft und unbeholfen am Geschirr fest.

Die Präfektin blickte Alte Schwinge an und malte mit dem Zeigefinger eine imaginäre Spirale in die Luft. Das war das Signal für den Pterosaurier zum Aufbruch. Die 'Alte Dame' spannte ihre unbefiederten Flügel auf und begann, heftig mit ihnen zu schlagen. Die Luftmassen, die dabei verdrängt wurden, hätten Haif beinahe umfallen lassen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis das große Tier begann abzuheben.

»Ich kann gar nicht hinsehen«, wimmerte Haif und hielt sich halb die Augen zu.

Langsam aber stetig gewann der Flugsaurier an Höhe, bis er sich in der Luft gen Osten drehte und sich dann rasch entfernte.

Als Alte Schwinge mit Antilius an Bord schließlich hinter der Oberkante des Kraterhanges verschwunden war, atmete Haif erleichtert auf.

»Puh! Bin ich froh, dass ich da nicht mitfliegen muss. Das hätte ich nicht lange durchgehalten. So ein Stress wäre nicht gut für mein Fell. Ich habe zwar etwas ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn nicht begleite, aber ich denke, nach dem Flüsternden Buch zu suchen, ist auch eine sehr verdienstvolle Aufgabe, wenn auch nicht eine so gefährliche.« Haif hatte schrecklichen Durst bekommen. Er holte seine Feldflasche aus seinem kleinen Rucksack und trank lange und gierig.

Pais wandte sich an die Präfektin. »Wo sollen wir nach dem Buch suchen, wenn es sich nicht mehr in dem Palast von Koros befindet, wovon wir ja leider ausgehen müssen?«

»Es gibt nur eine Person, die in Frage kommt. Denn sie ist die Einzige, von der ich weiß, dass sie das Flüsternde Buch lesen kann. Sie lebt in der Stadt der losen Seelen, im Südosten von Truchten.«

Haif, der noch immer aus seiner Flasche trank, riss die Augen weit auf und schaute die Präfektin misstrauisch an, denn er war davon ausgegangen, dass sich seine Aufgabe ungefährlich gestalten würde.

»Spannt uns nicht auf die Folter. Wer ist es?«, forderte Pais die Präfektin auf.

»Ihr Name ist Calessia, die Törichte. Sie ist aber wohl besser bekannt als die Gefährtin des Todes.«

Als Haif diese Worte hörte, verschluckte er sich, spuckte sein Wasser aus und hustete wie ein Wilder. Pais klopfte ihm auf den Rücken.

»Wie bitte?«, rief Haif, als er wieder zu Atem kam. »Ich habe mich wohl verhört! Hättet Ihr das nicht früher sagen können? Da wäre ich doch lieber mit Antilius auf diesem Saurier-Vieh davongeflogen, wenn ich das gewusst hätte.«

Die Präfektin machte eine entschuldigende Geste. »Wir wissen, dass Calessia vor einigen Jahren das Buch in ihren Besitz gebracht hat und es sogar lesen konnte. Doch das Flüsternde Buch war nicht an Calessia interessiert, weil sie, wie es schien, als Transzendente ungeeignet war. Aber sie hat stets damit geprahlt, das Buch gelesen zu haben. Wir haben damals geglaubt, sie würde lügen und nur prahlen wollen. Doch anscheinend hat sie das Buch wirklich in Händen gehabt. Sie könnte also mehr darüber wissen als wir. Auch wenn wir nicht sicher sein können, ob dies der Wahrheit entspricht, so glaube ich doch, dass sie Euch bei der Suche helfen kann.«

»Warum sollte sie das tun? Warum sollte sie uns helfen?«, lamentierte Pais, der von dieser Frau schon gehört hatte.

»Wenn sie etwas weiß, dann wird sie mit Sicherheit eine Gegenleistung dafür verlangen. Ihr werdet dann entscheiden müssen, was Ihr tun wollt.«

»Das wird nicht leicht. Hoffen wir, dass wir Glück haben, und dass das Buch noch im Palast von Koros irgendwo versteckt ist. Dann können wir uns den Besuch bei Calessia sparen.

Also gut, es hilft ja nichts. Auf geht es, Haif.«

Der Sortaner schaute irritiert um sich. »Und wie sollen wir jetzt von dieser Insel runterkommen? Schließlich heißt es doch, man kann sie weder betreten noch verlassen.«

Unsere Insel zu betreten, ist für einen Außenstehenden praktisch unmöglich, soweit stimmt das Gerücht. Wir aber können jederzeit die Ahnenländer verlassen und betreten, wann immer wir wollen. An der Ostküste haben wir einen Flaschenzug, mit dem Ihr entlang des Steilhangs herabgelassen werdet. Unten ist ein Ruderboot, mit dem Ihr schnell nach Truchten übersetzen könnt«, erklärte die Präfektin.

Pais und Haif verabschiedeten sich und machten sich auf zum Lift. Als sie die Stadt der Ahnen hinter sich gelassen hatten, blieb Haif plötzlich stehen, da ihm eine Sache nicht mehr aus dem Kopf ging.

»O, ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich an diese Gefährtin des Todes denke. Muss ich dich jetzt fragen, warum man sie so nennt? Muss ich das, Pais?«

Pais Ismendahl wollte zu einer Antwort ansetzen, wurde aber von Haif abgewürgt.

»Oder nein, sag es mir nicht! Ich könnte nachts kein Auge mehr zu tun.«

Haif machte wieder eine Pause und überlegte. »Oder doch! Sag es mir doch! Wenn ich es nicht weiß, kann ich erst recht nicht mehr schlafen.«

»Ach, Haif. Mach dir nicht so viele Sorgen. Solche Bezeichnungen dienen meist nur der Abschreckung. Oft steckt nicht viel dahinter.«

»So, meinst du?«

»Ganz bestimmt. Ich glaube nicht an diese Gerüchte.«

»Was für Gerüchte? Bitte, sag mir, was für Gerüchte das sind!«

»Na ja, es heißt, dass Calessia unethische Experimente durchführen würde.«

»Experimente?« Haif merkte, wie sich seine Kehle zuschnürte.

»Angeblich ist sie davon besessen, herauszufinden, was mit uns nach dem Tod geschehen wird. Die einen sagen, sie habe panische Angst vor dem Tod. Andere wiederum behaupten, sie wolle den Tod irgendwie beherrschen, oder das, was nach dem Tod kommt. Was immer das auch sein mag. Deshalb lässt Calessia angeblich ihre Opfer durch ein Pflanzengift in einen Schwebezustand zwischen Leben und Tod fallen. Also eine Art Beinahe-Tod Erfahrung. Diejenigen, die das überleben, sollen ihr von ihren Erlebnissen berichten. Aber es soll vorgekommen sein, dass einige dabei die Verbindung zu ihrer Seele verloren haben, als sie ins Leben zurückkehrten und nur noch als geistlose Drohnen in Calessias kleinem Reich umherirrten. Deshalb nennt man ihre Gemeinschaft auch die Stadt der losen Seelen.« Noch während Pais diese Worte sprach, ahnte er, dass es ein Fehler war, Haif davon zu erzählen.

»Das ist...« Haif suchte nach den passenden Worten. »Das ist ja krank! Und wir sollen diese Frau um Hilfe bitten?«

»Das müssen wir wohl. Aber denke daran: Es sind nur Gerüchte. Nichts davon muss stimmen«, versuchte Pais den kleinen Sortaner aufzumuntern und machte Anstalten, endlich weiterzugehen. Aber Haif war wie zur Salzsäule erstarrt, bewegte sich keinen Millimeter und starrte ins Leere. »Sicher muss da nichts dran sein«, sagte er. »Aber wenn doch?«

»Das ist äußerst unwahrscheinlich. Können wir jetzt weitergehen?«

»Ja, aber wenn sie uns auch in eine Drohne verwandeln will?«

»Das werde ich zu verhindern wissen«, sagte Pais und deutete auffordernd in Richtung Fahrstuhl.

»Ja, aber woher wissen wir, dass sie uns nicht eine Falle stellen wird?«

»Fallen zu erkennen ist eines meiner Spezialgebiete. Gehst du jetzt weiter?«

»Ja, aber wenn wir nun doch in eine Falle tappen?«

»Das werden wir nicht. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören! Los jetzt!«

»Ja, aber wenn wir...«

»Da du ja keine weiteren Fragen mehr hast«, unterbrach Pais Haifs Dauerschleife, »können wir ja jetzt weitergehen. Bitte!«

Haif löste sich aus seiner Schockstarre und ließ den Kopf hängen, als er hinter Pais hinterher trottete.

»Schon gut. Ich habe es ja nicht anders gewollt. Ich musste mich ja unbedingt in dieses Abenteuer stürzen.« Haif sprach das Wort Abenteuer mit einer solchen Verachtung aus, dass es ihn selbst überraschte. Noch vor wenigen Stunden hätte er bei diesem Wort vor Freude in die Luft springen können.

»Aber ich will mich nicht beklagen«, resümierte er. »Das Abenteuer ruft nach uns. Also tun wir das, was zwei Ehrenmänner tun müssen. Wir folgen seinem Ruf und lachen der Gefahr ins Gesicht.«

»Das ist der Haif, den ich hören wollte«, lachte Pais. Und dann musste Haif auch lachen. Ein befreiendes Gefühl, das beiden die Stärke gab, die sie noch brauchen würden.

Denn sie konnten ja nicht ahnen, wie berechtigt Haifs Ängste waren.

Verlorenend Band II

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