Читать книгу Menschenseelen Teil 3 - Afarit - - S. N. Stone - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеAidan schlenderte die Straßen Chinatowns entlang. Er mochte das rege Treiben hier, die Gerüche und Geräusche. Er wusste, dass die chinesischen Immigranten, die mit dem großen Goldrausch, der 1849 eingesetzt hatte, in die Stadt gekommen waren, um in den Minen zu arbeiten, von den Einheimischen nicht gerne gesehen waren. Sie waren gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. In den Zeiten, in denen die Stadt explosionsartig wuchs, herrschte Unordnung in den Straßen und selbst ernannte Ordnungshüter fühlten sich berufen, dem entgegenzutreten. Korruption, Prostitution und Gewalt waren an der Tagesordnung, ebenso wie jene Angriffe auf die Immigranten.
Auf der anderen Seite hatte die Stadt in den letzten Jahren einen großen Wandel durchgemacht. San Francisco war zu einer lebendigen, pulsierenden Stadt geworden, ein 'Paris des Westens'. Durch das Gold gab es viele wohlhabende Familien. Krankenhäuser, Parks, Schulen, Theater, Hotels und ein Entwässerungssystem, sorgten dafür, dass die Stadt modern und attraktiv für die Großen der Welt war.
Aidan interessierte das alles nicht. Wenn er hier war, dann kam er nicht in einem der teuren Hotels unter, auch wenn er es sich hätte leisten können, sondern schlief bei Frau Ling, die ein paar Fremdenzimmer über ihrem Chinarestaurant bereitstellte. Er aß nicht in den noblen Restaurants, sondern eben bei Frau Ling oder einer Garküche.
Nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, schlüpfte er in die Rolle des vermögenden jungen Mannes. Etwa wie heute Abend, wenn er Alice traf, um mit ihr in das Tivoli Opernhaus zu gehen, und Enrico Caruso in Carmen auftreten zu sehen. Davor würde er mit ihr in ein gutes Restaurant gehen und sie vielleicht anschließend auf einen Drink in die Bar des Palace Hotels einladen, indem er ein Zimmer gemietet hatte, welches er jedoch nicht nutzte.
Die Zwänge, denen er unterlegen war, wenn er den Mann von Welt mimte, sorgten dafür, dass er seinen inneren Drang nicht kontrollieren konnte. An sich störten ihn die Folgen dessen nicht, jedoch war er gerne Herr über sich selbst und lenkte seine Ausbrüche lieber gezielt. So war er viel effektiver.
Als er das Lokal von Frau Ling betrat, eilte diese auf ihn zu.
„Aidan, kleiner Sohn des Feuers.“
Sie nannte ihn immer so, da sie behauptete, in seinen dunklen Augen das Feuer des Lebens sehen zu können, wie sie doch irrte.
„Setz dich da drüben, ich bringe dir Nudelsuppe“, sagte sie mit diesem starken chinesischen Akzent und verschwand in der Küche.
Frau Ling kam mit einer Schüssel mit dampfendem Inhalt an seinen Tisch, legte ihm Stäbchen hin und stellte die nach Koriander duftende Köstlichkeit vor ihm ab. Dann setzte sie sich zu ihm. Aidan nahm einen Schluck von der Brühe und fischte nach den Nudeln.
Frau Ling beugte sich leicht zu ihm herüber.
„Mann war hier, mit sehr junger Frau“, flüsterte sie ihm zu. „Haben sich nach dir erkundigt.“ Sie runzelte die Stirn und sah ihn besorgt an. „Hast du Probleme?“
Aidan schaute von seinem Mahl auf.
„Waren sehr energisch, haben viele Fragen gestellt. Ich habe nichts gesagt, habe gesagt ich dich nicht kenne.“
Sie schob ihre alte, feingliedrige Hand zu ihm herüber.
„Junge, du musst vorsichtig sein. Weiß nicht, was die wollten, aber sahen nicht aus, als wollten sie Gutes.“
Aidan lächelte die alte Frau an. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir davon erzählt haben und auch dafür, dass Sie nichts über mich verraten haben.“
Er tätschelte ihre Hand. Erschrocken zog die Alte sie weg und starrte ihn an.
Manchmal konnten sie es spüren, manchmal fühlten sie die Hitze, die in ihm war. Frau Ling fand ihre Fassung wieder und lächelte. Es war ein gezwungenes Lächeln.
Ganz der Mode des beginnenden 20. Jahrhunderts entsprechend hatte sich Aidan in einen Frack gekleidet. Er hatte auf die steife Fliege verzichtet und eine Krawatte umgebunden. Das war etwas legerer und auch angenehmer. Der Zylinder, den er in der Hand hielt, als er zu Alice in die Kutsche stieg, war schon nervig genug.
„Ich bin ganz gespannt auf Caruso“, sagte Alice.
Sie sah gut aus, hatte ein hübsches Kleid an, das ihrer Figur schmeichelte.
Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und die Pferde setzten sich in Bewegung.
„Ich danke dir für das wundervolle Essen.“ Sie lächelte Aidan an.
„Gerne“, er erwiderte es. „Bist du mit deinen Forschungen weitergekommen?“
Alice war Kuratorin der Botanik an der California Academy of Sciences und hatte ihm erzählt, dass sie die Probe einer neuen, seltenen Spezies untersuchte. Diese Thematik interessierte Aidan nicht, aber er wollte Interesse an Alice heucheln. So gehörte es sich doch, oder etwa nicht?
Die Fahrt zum Tivoli verlief ereignislos, ja sogar langweilig. Alice erzählte ihm ausführlich von ihren Forschungen. Kurz überlegte er, ob er das hier beenden sollte, entschied sich dann dagegen. Er benötigte Nähe, sie lenkte ihn ab, sie half ihm sich besser kontrollieren zu können, und noch war es nicht an der Zeit. So ertrug er denn ihr Gerede.
Der Auftritt Carusos war grandios gewesen, das Publikum hatte den Tenor mit brausendem Applaus gefeiert. Nun saßen Aidan und Alice in der Bar seines Hotels und ließen den Abend Revue passieren. Zu später Stunde gingen sie gemeinsam auf sein Zimmer.
Er sorgte dafür, dass ihr nicht auffiel, dass es nicht bewohnt war und sämtliche Anzeichen, wie Kleidung und Kosmetikartikel fehlten, indem er sie nach aller Kunst verführte.
Anfangs zierte sie sich ein wenig. Wehmütig dachte Aidan an die Freizügigkeit vergangener Tage, in denen Sex nicht als etwas Unreines angesehen worden war. Tage, in denen sich die Frauen nicht unter endlosen Stoffen versteckt hatten, sondern ihre Weiblichkeit gerne gezeigt hatten, ohne dabei billig zu wirken.
Am frühen Morgen wurde Aidan von einer starken Erschütterung brutal aus dem Schlaf gerissen. Die Wände, der Boden, das Bett, alles war in Bewegung. Die Erde bebte.
Der Putz rieselte von der Decke, die Fensterscheiben zersprangen, der Schrank und die Kommode fielen um und barsten. Bilder fielen von der Wand. Ein Brausen lag in der Luft.
Alice, neben ihm, schrie, sprang auf, griff sich ihre Kleidung und floh aus dem Zimmer. Aidan schnappte sich seine Hose und rannte auf die Straße.
Das Beben hatte nur einige Sekunden gedauert, war aber so heftig gewesen, dass alle Gebäude im Umkreis zerstört oder zumindest stark beschädigt waren. Für einen Augenblick herrschte absolute Stille, die über der ganzen Stadt zu liegen schien.
Aidan sah sich um. Unter den Trümmern konnte er Menschen erkennen, manchmal nur eine Hand, ein Arm oder einen Fuß, die von ihnen begraben worden waren. Dann kehrten die Geräusche zurück.
Menschen schrien, schrien um Hilfe, schrien Namen, jammerten, wehklagten, weinten. Sirenen jaulten auf, Leute hasteten, eilten umher, die ersten Helfer trafen ein.
Und Aidan stand da, und sah alles und er sah die Feuer, die ausgebrochen waren. Die Flammen loderten und flackerten orange in der Dämmerung des Morgens. Ihr Knistern und Rauschen, das Tosen, er fühlte es. Es nahm von ihm Besitz. Es erfüllte ihn. Es brannte in ihm. Es erfasste ihn.
Frau Ling hatte es gerade noch geschafft, sich in Sicherheit zu bringen, bevor die todbringende Feuerwalze, die durch Chinatown gerollt war, alles mit sich gerissen hatte.
Sie hatte sich in den Golden Gate Park gerettet, in dem Helfer bereits dabei waren Notunterkünfte zu errichten. Ein Häuserblock nach dem anderen wurde von dem Feuersturm verschlungen. Sie starrte in den von dunklen, Unheil verkündenden Rauchwolken verhangenen Himmel. Der Wind war stärker geworden und trieb das Feuer weiter an.
Und Frau Ling begann zu beten. Sie betete, dass der junge Mann, den sie unzählige Male beherbergt hatte, für den sie fast wie für einen Sohn empfunden hatte, von Gott gestoppt werden würde. Sie wusste, dass sie den Anblick des Jungen, wie er in Flammen stehend, die Wand aus Feuer hinter sich herziehend, die Stadt in Schutt und Asche legend, niemals vergessen würde. Und niemals würde sie vergessen, welcher Ausdruck auf seinem Gesicht gelegen hatte und wie das Feuer in seinen Augen gebrannt hatte.