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3. Samstag
ОглавлениеNatascha schreckte hoch, jemand stand neben ihrem Bett. Langsam drehte sie den Kopf und sah in zwei strahlend blaue Kinderaugen.
„Mama hat gesagt, ich soll mal schauen, ob du schon wach bist.“ Das kleine Mädchen kicherte.
Natascha musste schmunzeln. „Lisa du hast mich ganz schön erschreckt Schatz.“
Sie griff nach der Kleinen und zog sie zu sich heran um sie zu knuddeln. Dann flüsterte sie ihr ins Ohr: „Kannst du Mama sagen, dass ich gleich herunterkomme, ja?“
Das Mädchen nickte und verschwand aus dem Zimmer.
Lisa war die vierjährige Tochter von Mia und Josh. Ein aufgewecktes und fröhliches Kind. Den neusten Zuwachs, Leni, hatte Natascha bisher nur auf Fotos gesehen, die ihr Mia zugeschickt hatte. Der Zwerg war gerade acht Monate alt. Natascha streckte sich noch einmal genüsslich aus. Sie hatte fast vergessen, was gestern Abend geschehen war, nun kamen die Erinnerungen zurück.
Bevor sie lange darüber nachdenken konnte, stieg sie aus dem Bett, nahm ein paar Kleidungsstücke aus ihrer Tasche und ging ins Bad um sich zu duschen. Nachdem sie sich zurechtgemacht hatte, ging es ihr eigentlich wieder richtig gut. Sie freute sich auf das Frühstück und, dass sie dabei nicht alleine sein würde.
Tascha stieg die Treppe zur Küche hinab. So viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf umher. Sie würde nachher zur Kripo fahren und schauen, wie sie helfen konnte. Die Stücke von LeValet bedurften sicher einiger Zuwendung. Mia räumte gerade, als sie in die Küche trat, den Geschirrspüler aus und von einer lustigen bunten Krabbeldecke, die vor der Heizung lag, kam fröhliches Babygequitsche. Tascha grinste, Leni war ein knuffiges kleines Wesen. Dichtes, dunkles Haar umrahmte ein zierliches, kleines Gesicht. Lustige, braune Augen funkelten ihr entgegen und die Kleine zog ihre süße Stupsnase kraus. Das Baby strahlte sie an.
„Guten Morgen“, begrüßte sie die beiden.
Mia drehte sich zu ihr um. „Guten Morgen, hast du gut geschlafen? Oh, möchtest du ein Ei zum Frühstück?“
„Nein danke, kein Ei aber ja ich habe gut geschlafen.“ Natascha ging zu dem Baby.
„Darf ich die Kleine mal hochnehmen?“
Mia lächelte. „Natürlich, nur zu, sie beißt nicht, meistens jedenfalls nicht.“
Behutsam nahm sie den Winzling auf den Arm. Leni gluckste und brabbelte vor sich hin, dann griff sie nach dem kleinen goldenen Kreuz, das Tascha um den Hals trug, und spielte damit.
„Das Frühstück ist serviert.“ Mia machte eine übertriebene Verbeugung. „Madame, setzen Sie sich.“
Sie goss Kaffee ein und schob den Brötchenkorb näher an den Teller heran. Natascha setzte das kleine Wesen vorsichtig zurück auf die Decke und nahm am Frühstückstisch platz. Als sie zur Marmelade griff, ertönte die Melodie eines Kinderliedes aus der oberen Etage.
„Du musst entschuldigen, Lisa steht momentan total auf Lazy Town und es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht die Musik davon hört.“
Mia ging aus der Küche hinaus und stellte sich an die Treppe: „Lisa, mach die Musik leiser!“
Oben wurde die Tür zugeschlagen. Sie kehrte zurück und setzte sich zu Tascha.
„Auch eine Möglichkeit.“ Sie zuckte mit den Schultern.
Der Kaffee war heiß und dampfte, Natascha trank vorsichtig einen Schluck.
„Es ist lieb von euch, dass ich hier sein darf.“
Sie schnitt ein Brötchen auf und legte eine Scheibe Käse darauf. Leni krabbelte gerade in Richtung Küchenschrank und zog sich am Türgriff hoch. Auf ihren kleinen Beinchen bewegte sie sich wackelig durch die Küche. Natascha schaute ihr zu.
„Die Zweiten sind irgendwie schneller in allem.“ Mia lächelte zärtlich. „Ich freue mich auf jeden Fall dich hier zu haben. Auch wenn die Umstände nicht so erfreulich sind, es ist schön. Du hättest von Anfang an bei uns wohnen sollen. Möchtest du nicht die restliche Zeit hier bleiben?“ Natascha schluckte den Bissen herunter. „Vielen Dank für dein Angebot, ich möchte euch aber nicht zur Last fallen. Ich werde etwas länger als nur ein paar Tage in der Stadt sein.“
„Schatz, ich habe mit Joshua gesprochen, er würde sich freuen und ich erst recht. Überlege es dir, du bist herzlich willkommen und unter diesen Umständen ist es in einem Hotel sicher nicht angenehm, alleine zu sein.“
Natascha wusste eigentlich schon jetzt, dass sie das Angebot annehmen würde. Der Gedanke an ihr einsames Hotelzimmer war wirklich nicht sehr aufbauend. Sie sehnte sich nach Gesellschaft.
Als sie die zweite Hälfte des Brötchens mit Marmelade bestrich, betrat ein Mann die Küche. Als er die beiden Frauen sah, stutzte er und murmelte etwas, was wohl so etwas wie ein 'Guten Morgen' sein sollte. Er ging zum Kühlschrank und goss sich ein Glas Orangensaft ein, dann setzte er sich an den Tisch Natascha gegenüber. Er trank sein Glas mit einem Zug leer und schaute ihr genau in die Augen. Tascha überlief ein Schauer, den sie sich nicht erklären konnte, er kam ihr irgendwie bekannt vor.
„Guten Morgen Caleb.“ Mia wandte sich Tascha zu. „Das ist Cale, Joshs Bruder.“
Jetzt erinnerte sie sich. Sie hatte ihn auf der Hochzeit von Mia und Joshua kennengelernt und jetzt erinnerte sie sich auch daran, dass sie ihn damals unheimlich toll gefunden hatte. Sie hatte sich gerade zu in ihn verschossen.
„Hi“ Sie lächelte ihn an und hatte Angst rot zu werden bei dieser Erinnerung. Verlegen schaute sie auf ihr Brötchen. Er sah immer noch verdammt gut aus.
„Natascha wird eine Weile bei uns wohnen, sie ist beruflich in der Stadt“, erklärte Mia.
Sie schaute von ihrem Brötchen auf und musterte Caleb unauffällig, der den Kopf gerade weggedreht hatte. Er war recht groß, schlank und trug eine blaue Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Seine Arme waren muskulös, nicht zu sehr, gerade so, dass es genau richtig war. Sein dunkles Haar trug er kurz. Er hatte volle Lippen und eine gerade, wohlgeformte Nase. Seine Augen waren wunderschön grün. Irgendetwas irritierte sie, aber sie wusste nicht was.
Als Caleb die Küche betrat, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Er zögerte einen Augenblick und hoffte, dass es niemand bemerkt hatte. Er starrte die Frau an, die dort neben Mia saß. Es war dieselbe, die er gestern Abend bei LeValet unter dem Schreibtisch entdeckt hatte. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht wieder erkennen würde und so nahm er sich ein Glas Orangensaft und setzte sich ihr genau gegenüber.
„Ich hatte mich eigentlich noch gar nicht entschieden, ob ich dein Angebot annehmen soll aber um ehrlich zu sein, die Verlockung hier zu bleiben groß. Ich bleibe also.“
In ihren Ohren hörte sich ihre eigene Stimme leicht schrill an, sie kicherte verlegen.
„Ich muss aber noch meine restlichen Sachen holen, die Rechnung bezahlen und ich muss zur Arbeit.“
Caleb machte sie nervös, sie fühlte sich wieder wie ein Teenager.
„Ich fahre gleich in die Stadt, wenn du möchtest, nehme ich dich mit.“
Seine Stimme war angenehm tief und warm.
„Ich muss mich nur fertigmachen dann könnten wir los.“
Sie nickte und er stand auf und verschwand aus der Küche. Mia lächelte ihre Freundin an. „Caleb wohnt momentan auch hier, ihr werdet also so etwas wie Nachbarn sein. Ich habe den Eindruck, es wird dich nicht stören“, sagte sie schmunzelnd.
Caleb fuhr sie zum Hotel. Beide sprachen kein Wort miteinander. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte, ohne sich lächerlich zu machen. Natascha betrachtete ihn unauffällig von der Seite. Er war nun sorgfältig gekleidet, ganz in Schwarz und konzentrierte sich auf den dichten Berufsverkehr. Er ist hübsch, dachte sie, wirklich hübsch aber auf seinem Gesicht lag eine Härte und Kälte, die sie erschreckte.
Am Hotel angekommen verabschiedeten sie sich kurz, und nachdem sie ausgestiegen war, fuhr er davon. Sie schaute ihm nach, bis der Wagen von den anderen Autos verschluckt wurde und sie ihn nicht mehr sehen konnte. In ihrem Zimmer packte Natascha ihre restlichen Sachen in den Koffer. Sie griff ihren Laptop und zahlte an der Rezeption die Rechnung. Natascha ließ sich ein Taxi rufen und fuhr zum Tempelhofer Damm.
Als sie das Gebäude der Kripo betrat, grüßte sie den Mann am Einlass und fuhr mit dem Fahrstuhl in die 2. Etage zu den Büroeinheiten, in denen die Sonderkommission untergebracht war.
Die Tür zum kleinen Konferenzzimmer stand offen, und als sie daran vorbeiging, sah sie, dass eine Besprechung abgehalten wurde.
„Fräulein Schiernow“, Ryan rief ihr hinterher, sie drehte sich um und sah ihn in der Tür stehen, „wenn Sie möchten, können Sie an der Besprechung teilnehmen. Ich möchte Sie eigentlich sogar darum bitten, damit Sie uns erzählen, was gestern Abend geschehen ist.“
Sie nickte und stellte ihren Koffer an die Seite, legte ihren Mantel darüber und ging in den Raum.
Ryan schob ihr einen Stuhl hin, auf dem sie Platz nahm.
„So meine Damen und Herren“, sagte er, „wir fahren fort. Es kann ausgeschlossen werden, dass die Eindringlinge irgendeine Art von Gas verwendet haben, um die Anwesenden zu betäuben. Jedoch stellt sich weiterhin die Frage, wie ist es ihnen gelungen die Leute unter Kontrolle zu halten, so, dass keine Gegenwehr geleistet werden konnte. Die Diebe sind unbemerkt in das Gebäude gelangt. Auf der Videoüberwachung ist nichts zu sehen und der Wachmann vom Empfang hat auch niemanden das Foyer betreten sehen. Diese Sache müssen wir klären. Sehr merkwürdig wie alles an dem Fall. Der Kollege Lehmann hat die beiden einzigen überlebenden Wachleute von Monsieur LeValet befragt, bitte erzählen Sie uns, was Sie zu Protokoll genommen haben.“
Ryan setzte sich und ein Mann, etwa ende dreißig, mit hellblondem kurzen Haar und rotem Gesicht erhob sich und kramte einige Papiere hervor.
„Es sieht so aus: Diese beiden Männer arbeiteten erst seit einer Woche für Monsieur LeValet. Sein Sicherheitschef hatte sie aufgrund ihrer hervorragenden Arbeit von einer Sicherheitsfirma abgeworben. Die Vorkehrungen, die zur Bewachung getroffen wurden, waren enorm, eigentlich hätte es nicht zu solch einem Zwischenfall kommen dürfen. Die Herren können sich nicht erklären, weshalb gerade sie nicht getötet wurden. Wir haben die Männer überprüft, sie sind sauber und heute Morgen haben wir sie aus der Schutzhaft entlassen. Zwei Polizeibeamte überwachen sie, wir können nicht sagen, ob sie was mit den 'Kunstmördern' zu tun haben, das werden wir noch untersuchen müssen. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen.“
Er setzte sich wieder und Ryan ergriff das Wort: „Monsieur LeValet befindet sich auf dem Wege der Besserung. Ich habe mit seinem behandelnden Arzt telefoniert, er hat die OP gut überstanden und wird vermutlich morgen oder übermorgen vernehmungsfähig sein. Momentan ist er nicht ansprechbar. Er liegt auf einer bewachten Station und ist in Sicherheit. Fräulein Schiernow erzählen Sie jetzt bitte, was im Arbeitszimmer geschehen ist.“
Er setzte sich nun auch hin und schaute Natascha erwartungsvoll an. Mit zitternden Knien stand sie auf. Eigentlich wollte sie nicht mehr daran denken müssen. Sie strich ihre Hose glatt, räusperte sich und erzählte abermals von dem Moment, in dem sie um ihr Leben bangen musste.
Caleb betrat das Büro von Kardinal Holster. Ein Priester schloss die Tür und er trat an den Schreibtisch heran. Zu seiner Verwunderung sah er, dass Nathan ebenfalls dort war, er saß auf einem Stuhl und schaute stur gerade aus.
„Wir haben zu reden!“ Holster faltete die Hände und stellte sie unter sein Kinn. Ohne, dass er ihm einen Stuhl anbot, fuhr der Kardinal fort. „Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?“
„Nein das habe ich noch nicht.“
Er konnte diesen Mann auf den Tod nicht leiden, aber er musste sich mit ihm abgeben, er hatte keine andere Wahl, so wie sie alle keine andere Wahl hatten. Trotz seiner Einfältigkeit hatte es Kardinal Holster wohl gelernt seine Seele, seine Gedanken und seine Emotionen zu schützen, Cale fühlte nur noch Leere.
„Dann sollten Sie jetzt einmal einen Blick hineinwerfen.“ Er schmiss Caleb eine Tageszeitung über den Tisch und tippte mit dem Finger auf die Titelseite:
Kunstmörder haben wieder zugeschlagen junge Frau bangte um ihr Leben! Gestern Abend wurde einer unserer Reporter Zeuge eines der bisher wohl grausamsten Überfälle der Kunstmörder. Sie stürmten die groß angelegte Präsentation des Kunstmäzens Jean LeValet und veranstalteten ein regelrechtes Blutbad. Die Eindringlinge verwüsteten die Räumlichkeiten und verletzten den bedeutendsten Kunsthändler und Sammler, Europas schwer. Lesen Sie auf Seite zwei, was unser Mann am Ort des Geschehens beobachtet hat und was für grauenvolle Dinge sich im Arbeitszimmer abgespielt haben, deren Zeuge eine junge Frau wurde, die versteckt alles mit ansehen musste.
Caleb schlug die zweite Seite auf und überflog den Artikel. Der Reporter, der eigentlich über die Ausstellung berichten wollte, hatte ein Gespräch zwischen einer Frau und einem Polizisten mit angehört. Sie hatte erzählt, was sie während des Überfalls und dem Angriff auf Monsieur LeValet mitbekommen hatte. Der Reporter gab beinahe jede kleine Einzelheit wieder, die sich ereignet hatte, natürlich mit einer gehörigen Portion Sensationsjournalismus. Er war nun bemüht eine Stellungnahme der Polizei zu bekommen und ein Interview mit der Frau.
Caleb schaute von der Zeitung auf, er wusste, er hatte einen Fehler gemacht, er hätte sie töten sollen.
„So etwas darf nicht passieren!“ Kardinal Holsters Gesicht war rot vor Zorn, eine Ader auf seiner Stirn trat hervor. „Sie werden die Konsequenz zu tragen haben!“
„Kardinal“, Pater Nathan meldete sich zu Wort, „ich denke, dass sich Caleb etwas dabei gedacht hat, als er die Frau am Leben gelassen hat. Geben Sie ihm die Möglichkeit seinen Fehler wieder gut zu machen, bisher hat er hervorragende Dienste geleistet.“
Wieso sprach Nathan für ihn? Wieso war er hier, hatte die Kirche denn immer noch nicht verstanden? Der Kardinal schaute ihn eine Weile an und schien zu überlegen, dann räusperte er sich. „Nun gut, der Pater hat recht. Immerhin haben wir es Ihnen zu verdanken, dass ein Teil der Gegenstände, die uns gestohlen wurden, in unseren Besitz zurückgekehrt sind. Auch sonst haben Sie sich, soweit ich weiß, immer korrekt verhalten, Sie bekommen Ihre Chance. Verhindern Sie, dass man auf Sie und uns aufmerksam wird.“ „Ich werde diese Frau finden und tun, was getan werden muss.“
Caleb musste sich bemühen seine Wut unter Kontrolle zu halten. Was fiel diesem einfältigen Mann ein so mit ihm zu reden, er hätte ihn am liebsten den Hals umgedreht. Seine Augen glühten bedrohlich, was den Kardinal jedoch in keiner Weise beeindruckte. Was wollte er denn tun? Ihn töten? Und dann?
„Das will ich Ihnen auch raten! Gehen Sie!“ Der Kardinal wandte sich von den beiden ab.
Als Caleb und Nathan den Flur vor dem Büro betraten und die Tür hinter ihnen geschlossen war, sprach sein Freund leise zu ihm. „Gabriel du musst vorsichtig sein! Unsere Zeit wird kommen, aber mache jetzt keine Fehler, bitte!“
Sie gingen die Treppe hinunter zum Ausgang.
„Wie willst du die Frau finden?“
„Ich habe sie schon gefunden.“ Calebs Augen funkelten böse.
Natascha fuhr mit Tom zum Potsdamer Platz in die Räume von LeValet. Es war ihr gar nicht wohl als sie sie wieder betrat, sie musste erst einmal tief durchatmen. Spezialisten waren bemüht, die Exponate zu ordnen und zu verpacken. Sie sollten erst einmal in ein Museum gebracht und dort verwahrt werden. Alles wurde katalogisiert und in Luftpolsterfolie gewickelt in Holzkisten mit Holzwolle gelegt. Tascha half so gut sie konnte und war traurig darüber wie beschädigt die Objekte waren. Es tat ihr im Herzen weh, aber so konnte sie sich einen ersten Überblick verschaffen, welche Teile gestohlen worden waren.
Sie hielt gerade das Buch Diavolis, oder das, was von ihm übrig war, in den Händen als Tom an sie herantrat.
„Was ist mit dem Ding geschehen?“ Er schaute auf die Fetzen in ihren Fingern.
„Sieht fast so aus als hätten sie Säure darüber gekippt, es ist total zerstört, unwiderruflich vernichtet. Warum haben diese Kerle es nicht einfach mitgenommen, warum mussten sie es kaputtmachen?“
Tom zuckte mit den Schultern und Natascha legte die übrig gebliebenen Reste in eine durchsichtige Tüte und verschloss sie mit einem Klebestreifen.
„Es ist furchtbar!“, Natascha schaute von ihrem Salat auf, den sie sich in dem kleinen italienischen Lokal bestellt hatte, in dem sie und Tom zu Mittag aßen.
„Sie haben so viel kaputtgemacht.“
Sie griff zu ihrem Glas mit Cola und trank einen Schluck. Tom kaute an einem großen Stück Salamipizza. Sie wusste, dass ihn die Exponate nur sehr wenig interessierten, wichtiger war ihm die Klärung dieses Falls.
„Ist eigentlich etwas bei der Schließfach Sache herausgekommen? Was hat LeValet dort aufbewahrt?“
„Keine Ahnung, es wurden sofort Leute losgeschickt. Ein paar sind bei der Bank und behalten sie im Auge und zwei Beamte sind zu der Adresse des Direktors gefahren. Wie sich aber herausgestellt hat, ist der im Urlaub und wird erst heute im Laufe des Tages zurück erwartet. Seine Stellvertreterin ist nicht aufzutreiben. Sie steht kurz vor ihrer Hochzeit und ist bestimmt mit den Vorbereitungen beschäftigt. Wir versuchen nun über die Wachfirma in die Bank zu kommen, um uns das Schließfach anzuschauen. Die Bank ist heute geschlossen, ist eine ganz feine Bank, nur für erlesene Personen mit dickem Konto.“
Er schob sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund, als sein Handy klingelte.
Es war etwa 13.00 Uhr als Tom und Natascha das Büro betraten. Ryan hatte sich vor den anwesenden Beamten aufgebaut und hob die Hand zum Zeichen, dass er Ruhe haben wollte.
„Also ich möchte euch mitteilen, dass der Bankdirektor seinen Urlaub beendet hat und uns sofort Zugang zu dem Raum mit dem Schließfach von Monsieur LeValet verschafft hat. Zu unserem Erstaunen war aber schon jemand dort. Seine Stellvertreterin Frau Seidler lag gefesselt im Tresorraum.“ Ein Raunen ging durch die Beamten.
„Das Schließfach war leer. Frau Seidler erzählte, dass sie gestern, spät abends den Club in dem sie ihren Junggesellenabschied gefeiert hat, mit einem Mann verlassen hat. Dieser hatte behauptete ihr Auto beschädigt zu haben. Auf dem Parkplatz wurde sie überwältigt und in einen Wagen gezogen. Man zwang sie den Tresorraum in dem sich die Fächer befinden zu öffnen, dann ließen die Kerle sie dort zurück. Leider konnte sie keinen der Männer beschreiben und auch ihre Freundinnen, die mit ihr im Club gefeiert haben, konnten sich nicht an das Aussehen des Mannes erinnern. Sie wussten nur, dass er recht groß war und gut aussehend. Als Frau Seidler nicht zurückkehrte, dachten die Freundinnen das gehöre zu der Feier, so ähnlich wie eine Brautentführung. Sie amüsierten sich noch eine Weile und gingen nach Hause, niemand machte sich Gedanken. Die Beamten, die wir vor der Bank postiert hatten, haben nicht bemerkt, dass sie jemand betreten hat, auch sonst niemand hat irgendetwas beobachtet. Wir sind also genauso beschissen dran wie vorher. Leute, wir brauchen Ergebnisse, so kann es nicht weiter gehen. Da halten uns ein paar Kriminelle zum Narren und ich weiß nicht, wie sie das alles anstellen, außerdem sind sie Polizistenmörder!“
Ryan zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und stöhnte. „Verdammt! Verdammt! Verdammt! Der Polizeipräsident sitzt mir im Nacken, die Bevölkerung schreit nach Aufklärung. Die Presse drängt darauf mit Frau Schiernow zu sprechen, sie wollen ein Interview.“ Er wendete sich an Natascha. „Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass man Sie in Ruhe lässt. Dabei fällt mir ein, Sie wohnen nicht mehr im Hotel? Da haben mich diese Typen drauf gebracht. Die hatten das Gebäude belagert, bis man ihnen durch einen Angestellten mitteilen ließ, Sie seien kein Gast des Hauses mehr. Ich glaube, Sie haben gut dran getan dort zu verschwinden. Geben Sie mir ihre neue Anschrift, damit ich weiß, wo wir Sie finden können.“ Natascha nickte und notierte Mias und Joshs Adresse auf einem Stück Papier.
Natascha ging für sich noch einmal alles durch. Sie saß an dem Schreibtisch, den man ihr überlassen hatte, und spielte mit einer Büroklammer während sie ihre Notizen las.
Es hatte alles vor etwa zwei Monaten begonnen. Ein stadtbekannter Hehler war tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Man hatte ihm das Genick gebrochen. Als sein Lager geöffnet worden war, war es ganz offensichtlich, dass ihm Teile seiner heißen Ware gestohlen worden waren, das Lager war verwüstete. Die Ermittlungen hatten ihren gewohnten Lauf genommen, denn man war von einem Milieu bedingtem Verbrechen ausgegangen.
In einer Villa in Zehlendorf war ein paar Tage später ein alter, wohlhabender Kunstsammler ermordet worden, ihm war das Genick gebrochen worden. Seine Frau, die den Überfall unverletzt überlebt hatte, berichtete von drei schwarz gekleideten Männern, die in das Haus eingedrungen waren. Diese hatten ihren Mann gezwungen ein erst kürzlich erworbenes altes Holzkreuz herauszugeben und ihn dann ermordet. Das Kreuz hatte der alte Mann bei dem zuvor getöteten Hehler erstanden. So wurde die erste Verbindung gezogen. Die Frau hatte die Männer nicht näher beschreiben können.
Sechs weitere Morde folgten: ein Hehler, zwei Kunsthändler und drei private Kunstsammler. Jedes Mal wurden nur einige Stücke entwendet, andere, ebenfalls wertvolle Stücke wurden zurückgelassen und jedes Mal gab es Opfer sowie Überlebende. Insgesamt waren 16 Menschen Opfer der Kunstmörder geworden. Einige waren durch Genickbruch, andere durch Stichwunden mit einem Schwert getötet worden.
Irgendetwas von dem, was sie gerade gelesen hatte, machte sie stutzig. Es war so, als würde sich eine Erinnerung in ihrem Gehirn regen, aber nicht so weit an die Oberfläche gelangen, dass sie es greifen konnte.
Als Natascha von ihren Unterlagen hochschaute, musste sie feststellen, dass sie alleine im Büro war, alle Anderen waren gegangen. Draußen war es schon dunkel.
„Hey, hast du Lust mit mir was trinken zu gehen?“ Tom stand plötzlich neben ihr und lachte sie an.
„Man hast du mich erschreckt, ich dachte, es wären alle weg.“
Sie griff sich mit der Hand an die Brust.
„Sei mir nicht böse, ich habe dir doch erzählt, dass ich zu einer alten Freundin gezogen bin, ich glaube es wäre sehr unhöflich, wenn ich mich heute nicht blicken lasse. Ein anderes Mal komme ich gerne auf deine Einladung zurück.“
Sie lächelte honigsüß. Tom schien enttäuscht, versuchte es aber so gut wie möglich zu verbergen.
„Dann lass mich dich wenigstens dort hin fahren, einverstanden?“
„Gerne“, antwortete sie.
Er sah durch das Küchenfenster, wie ein Auto auf die Einfahrt fuhr, aus dem wenige Sekunden später diese Frau ausstieg. Sie kam zur Tür gelaufen und klingelte. Der Wagen fuhr davon. Er musste erfahren, was sie wusste. Alles war reibungslos abgelaufen, das Kästchen war wieder dort, wo es hingehörte, bei ihnen. Diese einfältige Banktante. Die meisten Menschen waren so leicht zu manipulieren, sie war ihm wie eine Fliege ins Netz gegangen. Aber Natascha könnte ihm Schwierigkeiten machen, sie war irgendwie anders. Er würde sie für sich gewinnen müssen, sie benutzen, und wenn es nicht mehr ging, sich ihrer entledigen. Er drehte sich vom Fenster weg.
Natascha stieg aus dem Wagen und drehte sich auf dem Weg zur Tür noch einmal um und winkte Tom zum Abschied, dann fuhr er davon. Als Mia öffnete, konnte man lautes Kinderlachen aus dem Haus hören.
„Oh Tascha, du bist zu früh.“
Ihre Freundin hatte Mehl an den Händen und strich sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Komm schnell rein, Lisa bereitet eine Überraschung für dich vor.“
Als sie in die Küche trat, sah sie nur Chaos. Überall standen Schüsseln und Töpfe, Löffel und Teller.
„Du darfst noch gar nicht da sein, wir sind noch nicht fertig. Mama, schick sie wieder weg oder mach wenigstens die Augen zu Tascha.“
Lisa schmollte, lachte aber im selben Moment weil Caleb, der auch half, sie nach machte und einen ebenso schönen Schmollmund zustande brachte wie sie.
„Pass auf Kleines“, sagte Natascha, „ich setze mich ganz ruhig hinten ans Fenster und tue so als würde ich gar nichts von deinen Vorbereitungen mitbekommen.“
„Ist O.K.“ Lisa wirbelte weiter.
Natascha fand, dass es eine hervorragende Idee gewesen war, die Einladung von Tom abzulehnen. Es war so schön den Dreien zuzuschauen, wie sie versuchten Nudeln selber zu machen, eine Tomatensoße zauberten und einen Salat zubereiteten. Tascha genoss dieses Familienidyll und das unbeschwerte Lachen. Leni saß auf ihrem Schoß und spielte mit einem Stoffhund.
Als das Essen auf dem Tisch stand und alle aßen, kam Joshua. Natascha bemerkte, dass eine Veränderung mit Caleb vor sich ging. Er wirkte plötzlich kalt und reserviert, auch Mia wurde ernst und drehte sich zu ihm um.
„Papa, Papa!“ Lisa sprang auf und rannte auf ihren Vater zu, der sie auf den Arm nahm. „Isst du mit uns? Wir haben Nudeln selber gemacht und Soße und Salat und Onkel Cale hat mir gezeigt, wie man ein Ei erschlägt und …“
„Schatz, es tut mir leid, ich habe leider keine Zeit, ich habe noch einen wichtigen Termin“, unterbrach er sie. Er schaute in die Runde und sagte mit einem seltsamen Unterton: „Aber ich glaube, ich werde euch auch nicht fehlen. Habt ihr mal euren Spaß, ich muss Geld verdienen.“
Er verließ die Küche wieder und wenig später das Haus.
„Wie immer“, murmelte Mia vor sich hin.
Traurig setzte sich Lisa wieder auf ihren Platz und aß weiter, die Stimmung war hinüber.
„So Mädels, für euch ist es an der Zeit schlafen zu gehen.“ Mia schnappte sich Leni, die wankend durch die Küche lief und einen roten Mund hatte von der leckeren Soße, und griff nach Lisas Hand.
„Waschen, Zähne putzen und ins Bett! Dann werde ich die Küche aufräumen.“
„Ich denke, die Küche werde ich übernehmen. Ihr habt so toll gekocht, dass es nur fair ist, wenn ich auch einen Teil dazu beitrage.“
Natascha stand auf und begann die Teller zusammenzustellen. Caleb half ihr und mit einem dankbaren Nicken verließ Mia mit den Kindern den Raum.
„Du bist bei der Polizei?“ Caleb trocknete gerade einen Topf ab. Er merkte, dass er sich veränderte, und drehte sich zur Seite, sie durfte es nicht sehen.
„Nicht wirklich, ich arbeite gerade für die Kriminalpolizei. Ich stehe ihnen beratend zur Seite. Eigentlich bin ich Kunsthistorikerin mit Schwerpunkt christliche Kunst und arbeite in Heidelberg.“
„Wie kommt man denn zu so etwa?“ Calebs Stimme war ruhig und Tascha freute sich, dass er bei ihr war.
„Kunsthistorikerin zu sein oder für die Polizei zu arbeiten?“
„Das mit der Polizei.“
„Hast du von den Kunstdieben gehört?“ Sie schaute ihn an, er nickte. „An diesem Fall arbeite ich mit. Ich wurde an die Kripo ausgeliehen, als die nach einem Experten fragten. So kommt man an solch einen Job.“ Sie lächelte und senkte den Blick. „Ich wusste ja nicht, was da auf mich zukommt“, fügte sie leise hinzu.
„Wieso? Ist es so schlimm?“
Sie schluckte und erzählte Caleb in knappen Worten, was geschehen war.
Er spürte, dass es funktionierte, dass er funktionierte. Sie hatte das Gefühl ihm vertrauen zu können. Sie erzählte ihm alles, auch das LeValet morgen vernommen werden sollte. Er war wieder ansprechbar und der Arzt hatte sein O.K. gegeben für die Befragung. Er spürte auch, dass sie unter dem Erlebten litt, dass sie Angst hatte, auch wenn sie sich bemühte es nicht zu zeigen, sie war verzweifelt.
„Ich habe schon so vieles in meinem Leben verloren“, Natascha merkte, dass ihr Tränen in die Augen traten, „und gestern dachte ich, ich würde mein Leben verlieren.“
Er kam zu ihr heran und berührte ihren Arm. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wohl und wünschte sich er würde sie in den Arm nehmen, ein sonderbar vertrautes Gefühl ergriff sie. „Komm, setz dich.“
Er führte sie zum Tisch und nahm neben ihr platz.
„Du hast es aber doch überstanden, dir ist nichts passiert.“ Sie schaute ihm in die Augen und da war das Gefühl, dass irgendetwas nicht richtig war, sie wich seinem Blick aus.
Caleb hatte gemerkt, dass sie plötzlich verunsichert war. Irgendetwas passierte, sodass es ihm schwerfiel, seine Beeinflussung aufrecht zu halten. Ihre Gefühle brachten ihn aus dem Konzept und er musste sich konzentrieren. Er entschied sich jetzt!
„Hör zu, ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen, es ist schon spät und du brauchst Ruhe. Wenn irgendetwas ist, ich bin im anderen Gästezimmer, du kannst zu mir kommen, wenn du möchtest.“
Natascha nickte stumm, sie fand ihn so nett.
Sie stand auf einer Wiese, die unendlich schien, die Sonne war hinter grauen und schwarzen Wolken verborgen und tauchte alles in ein irreales Licht. Natascha schaute an sich herunter. Sie trug nur ein dünnes, weißes Hemdchen, das ihr bis ans Knie reichte. Kälte kroch an ihr hoch und sie spürte etwas Nasses, Warmes an ihren bloßen Füßen. Sie schaute genauer hin und sah Blut, überall Blut, sie stand in einem Meer aus Blut und sie spürte Schmerz, unendlichen, grauenvollen Schmerz. Sie schrie!
Schweißgebadet schreckte Natascha hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Als sie nach und nach die Orientierung zurück erlangt hatte, schaltete sie die kleine Nachttischlampe ein und schlang ihre Arme um die Knie. Sie zitterte am ganzen Körper und Tränen rannen über ihr Gesicht, langsam kam sie zu sich. 2.47 Uhr, 2.48 Uhr, die LCD-Anzeige des Radioweckers sprang gerade um, als sie nach der Uhrzeit schaute. Tascha stand auf und verließ das Zimmer. Leise schlich sie ins Gästebad und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, dann kehrte sie zurück in ihr Bett und löschte das Licht. Als sie die Augen schloss, tauchten sofort wieder die Bilder auf, die sie im Traum gesehen hatte, was sollte sie tun? Sie schaltete die Lampe wieder ein und traf zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Stunden eine seltsame Entscheidung. Sie schlüpfte aus dem Bett und schlich sich leise über den Flur hinüber zum anderen Gästezimmer. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Das Zimmer war dunkel, lediglich ein kleiner Strahl des Mondes durchdrang die finstere Schwärze an der Stelle, an der die Gardine nicht ganz zugezogen war. Alles war still.
Er spürte, dass sie in sein Zimmer gekommen war.
Sie stand vor seinem Bett. Er öffnete die Augen. „Hey was ist los?“ Er wusste sehr gut, was geschehen war, er hatte dafür gesorgt, dass sie nicht ruhig schlafen würde. Sie zuckte leicht zusammen, als er sie ansprach.
„Ich kann nicht mehr, ich kann nicht alleine sein.“
Sie schluchzte heftig. Caleb richtete sich leicht auf. „Möchtest du hier schlafen, ich verspreche dir, ich bin ganz artig.“
„Ich weiß nicht, ob das richtig ist, wir kennen uns doch kaum.“
„Wie gesagt, wenn ich dir helfen kann, ich habe dir angeboten, dass du zu mir kommen kannst. Außerdem kennen wir uns eigentlich schon einige Jahre.“
Sie verstand nicht.
„Die Hochzeit“, erklärte er.
Cale rutschte ganz in die äußerste Ecke des Bettes und legte ihr sein Kopfkissen und die Decke hin. Tascha kam zögernd heran, dann legte sie sich neben ihn.
„Aber du musst nicht frieren. Ich verspreche dir auch artig zu sein, lass uns die Bettdecke teilen.“
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er überlegte, dann deckte er sich ebenfalls zu, bedacht darauf ihr nicht allzu nahezukommen. Vorsichtig legte er seinen Arm um sie. Er spürte, wie ihr Innerstes zur Ruhe kam. Er veränderte sich, nur ein wenig. Erstaunt stellte er fest, dass sie nach Pfirsich roch, dann schliefen sie beide ein.