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4. Sonntag

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Als Natascha erwachte, lag sie alleine im Bett, Caleb war nicht mehr da. Plötzlich erschien ihr diese Situation so grotesk, sie war zu einem ihr eigentlich fremden Mann ins Bett gestiegen. Wenn auch nichts passiert war, so war ihr die Sache doch unheimlich peinlich. Schnell stand sie auf und huschte über den Flur zurück in ihr Zimmer. Sie war froh, dass noch keine Bewegung im Haus wahrzunehmen war und somit wohl auch keiner etwas mitbekommen hatte.

Er betrat das Krankenhauszimmer von LeValet. Mittlerweile war es hell geworden und er sah den Mann, wie er dort im Bett lag und schlief. Es herrschte Stille in dem Zimmer die lediglich durch das Summen elektrischer Geräte die, die Vitalfunktionen des Patienten überwachten, gestört wurde. Er schaltete die Apparaturen aus. LeValet wachte auf und drehte langsam den Kopf in seine Richtung. Caleb wusste, dass er ihn erkennen würde aber das war egal.

Die Lippen des Mannes bebten und unter Aufbringung all seiner Kraft formte er mit trockenen Lippen die Worte: „Was wollen Sie hier?“

Cale konnte die Angst des Mannes förmlich riechen.

„Ich bin gekommen um zu vollenden, was ich begonnen habe. Du hast uns betrogen und dafür wirst du büßen. Das Leid, das du über andere gebracht hast und dein Verrat kosten dich nun das Leben. Du hast die Wahrheit gesagt, wahrscheinlich das erste Mal in deinem Leben, du weißt nicht, wo es ist, aber einen Teil haben wir uns zurückgeholt.“

Caleb trat an das Kopfende von LeValets Bett und noch bevor der ein weiteres Wort über die Lippen brachte brach sein Genick. Sie brauchten ihn nicht mehr.

Als er das Krankenhaus verlassen hatte, zog er sein Handy hervor und betätigte die Kurzwahltaste.

„Ja?“

„Es ist erledigt.“

„Gut, gehe so vor wie besprochen und melde dich so schnell wie möglich persönlich bei einem von uns, Ciao.“

Die Leitung war unterbrochen.

„LeValet ist tot!“

Tascha wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen. Sie war gerade in einige Listen vertieft, als Tom mit dieser Neuigkeit in das Büro trat. Sie hatte eigentlich nur ein wenig im Internet und den Akten stöbern wollen, um dann den Sonntag mit Mia und den Kindern zu verbringen. Tascha stellte ihre Kaffeetasse ab, die sie in den Händen hielt und ein Schwall dunkler Flüssigkeit ergoss sich über ihre Papiere. Sie suchte nach einem Taschentuch, fand aber keins und sah, wie der Kaffee vom Papier aufgesaugt wurde.

„Ihm ist das Genick gebrochen worden. Man hat ihn heute Morgen tot in seinem Bett gefunden.“

Natascha brachte kein Wort heraus, sie war geschockt. „Natascha möchtest du mich ins Krankenhaus begleiten? Ryan hat nichts dagegen, ich habe schon mit ihm gesprochen. Vielleicht fällt dir etwas auf, was mir nicht wichtig erscheint.“

„Ich kann Ihnen nichts sagen.“

Die Augen von Krankenschwester Anna Lenze, 28 Jahre alt, klein, stämmig blond, blass und blauäugig, waren gerötet vom vielen Weinen. Tom und Natascha saßen ihr im Schwesternzimmer gegenüber und versuchten etwas Brauchbares aus der Frau herauszubekommen. „Er war einfach tot, als ich in sein Zimmer kam.“

Wieder überkam sie ein heftiger Weinkrampf.

„Ich wollte die üblichen Dinge erledigen, wie jeden Morgen, da war er einfach tot. Die Geräte liefen noch, zeigten sogar noch Vitaldaten an, dadurch gab es keinen Alarm, als er starb.“

Anna schniefte laut und zog die Nase hoch.

„Ich weiß nicht, wie der Mörder das gemacht hat.“

Natascha konnte das Elend nicht mit ansehen und reichte der Frau ein Taschentuch, in das diese geräuschvoll schnäuzte. Die Schwester sprach weiter: „Er war so verdreht, sah schlimm aus.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ein Mord, hier im Krankenhaus.“

Sie weinte wieder herzzerreißend los.

Tom war genervt, eine viertel Stunde saßen sie nun schon hier auf der Station des Krankenhauses, wo Leute untergebracht wurden, die, aus welchen Gründen auch immer, von den normalen Patienten abgeschirmt werden mussten und überwacht wurden und sie hatten aus dieser Frau noch nichts herausgebracht. Sie erzählte immer nur dasselbe.

„Noch einmal“, Toms Ton wurde scharf und erschrocken schaute Natascha zu ihm herüber.

Er hatte wohl gemerkt, dass er leicht gereizt klang und so fuhr er in einem freundlicheren Ton fort: „Was haben Sie denn gesehen? Es ist sehr wichtig für uns, dass Sie sich bemühen sich an alles zu erinnern, so unwichtig es Ihnen auch erscheinen mag.“

Er brachte ein gezwungenes Lächeln zustande und schaute die heulende Krankenschwester erwartungsvoll an.

„Ich mache mir solche Vorwürfe. Ich habe nichts beobachtet, er war auf einmal tot.“ Sie schwieg kurz, schien sich an etwas zu erinnern. „Doch“, ihre Stimme war plötzlich etwas fester, „da war etwas. Als ich zum Schichtbeginn auf die Station kam, ist mir ein Mann entgegengekommen. Er hat mir sogar noch die Tür aufgehalten und hat mir einen guten Morgen gewünscht.“

Nun schaltete sich Natascha ein: „Und das ist ungewöhnlich? Sie haben hier doch sicher häufiger Besucher."

„Das schon, aber dies ist eine bewachte Station, Besucher müssen sich anmelden und es war niemand angemeldet, nicht zu so früher Stunde."

„Kann es vergessen worden sein?“ Tom hatte sich Notizen gemacht und schaute nun von seinem Block auf.

„Könnte sein, aber unser Wachmann hätte ihn nie so ohne Weiteres hereingelassen. Vielleicht sollten sie ihn danach fragen.“

„Das werden wir.“ Tom notierte sich dessen Namen. „Können Sie uns den Mann beschreiben, den Sie da gesehen haben?“

Die Krankenschwester überlegte kurz, dann sagte sie zögernd: „Nein, ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern, nur daran, dass ich noch dachte, dass er ziemlich gut aussieht.“

Natascha und Tom verließen das Krankenhaus und liefen über den Parkplatz zum Auto.

„Erstaunlich, dass der Wachmann sich nicht einmal daran erinnern kann, dass überhaupt einer die Station betreten oder verlassen hat zu diesem Zeitpunkt, obwohl er genau sagen konnte, wann die Krankenschwester kam. Es müssen sich alle, die diese Station besuchen, in eine Liste eintragen. Ich glaube wir jagen Phantome. Kein Mensch bemerkt, dass diese Gestalten ein Gebäude betreten oder verlassen.“

„Oder man sorgt dafür, dass sie sich nicht mehr daran erinnern“, fügte Tascha leise hinzu.

Tom fuhr Natascha zum Haus von Mia und Joshua. Mia hatte ihr einen Hausschlüssel gegeben, damit sie sich frei bewegen konnte, kommen und gehen konnte, wann sie wollte. Als sie den Schlüssel in das Schloss gesteckt und die Tür geöffnet hatte, hörte sie laute Stimmen aus der Küche, Josh und Mia stritten sich.

„Du hast einfach keine Zeit für deine Familie, immer dreht sich bei dir alles um die Firma.“

„Was glaubst du denn, für wen ich das mache? Ich möchte euch ein angenehmes Leben ermöglichen.“

„Wenn du das willst, dann solltest du dich nicht komplett aus dem Familienleben heraushalten! Hier gibt es noch zwei Kinder, die ein Recht auf ihren Vater haben. Leni hat gar keinen Bezug zu dir. Du bist ja nicht mal in der Lage mit uns zu Abend zu essen. Du kommst nur zum Schlafen her, wenn überhaupt.“

„Meiner Firma geht es finanziell nicht so gut, falls ich dich daran erinnern darf, und ich tue alles, damit es besser läuft.“

Die beiden brüllten sich an und Natascha wagte nicht auch nur einen Schritt zu machen.

„Trotzdem sind hier noch Menschen, die auch eine Rolle in deinem Leben spielen sollten.“

„Du hast doch jemanden der sich rührend um euch kümmert.“ „Hör auf deinen Bruder ins Spiel zu bringen. Er hat mit der Sache nichts zu tun, aber du hast recht, er ist wenigstens nett zu uns.“

„Er ist nicht nett!“ Josh betonte jedes dieser Worte. „Aber da kann ich ja auch gegen eine Wand reden, ich habe dir schon so oft gesagt, dass er nicht ehrlich ist.“

„Joshua, es geht hier um uns, nicht um ihn!“ „Da irrst du dich, es geht sehr wohl auch um ihn. Ich habe noch viel weniger Lust in diesem Haus zu sein, wenn er da ist.“ „Du benutzt ihn als Ausrede, er ist mein Freund!“

Joshuas Stimme wurde etwas leiser. „Ich habe dir auch schon so oft gesagt, dass du ihn nicht kennst und noch nie sein wahres Gesicht gesehen hast. Ich habe auch gesagt, dass ich ihn nicht mehr in unserem Haus haben möchte, aber dir ist das egal. Möchte nicht wissen, in welcher Weise er dir noch ein Freund ist.“

Mit diesen Worten stürmte Joshua aus der Küche, vorbei an Natascha, ohne sie überhaupt zu bemerken, in Richtung Tür.

In dem Moment, als er seine Autoschlüssel griff, kam Caleb die Treppe herunter. Josh drehte sich zu ihm um und Tascha sah, wie ihm die Gesichtszüge entglitten, er starrte seinen Bruder hasserfüllt an.

„Lass meine Familie in Ruhe du Bastard!“, brüllte Josh ihn an und stürzte aus dem Haus.

Caleb verharrte auf der dritten Stufe und schaute zu Natascha, die immer noch im Mantel und mit ihrer Tasche unter dem Arm im Eingangsbereich stand und keinen Ton herausbrachte. Er hatte genau wie sie den Streit mit angehört, und die letzten Worte seines Bruders schienen nicht spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Wortlos ging er an ihr vorbei und verschwand ebenfalls.

Natascha zog sich den Mantel aus und warf ihre Tasche in die Ecke. Sie ging in die Küche, in der Mia am Fenster stand und hinaus starrte. Als sie hörte, dass jemand den Raum betrat, drehte sie sich um.

„Du hast es mit bekommen?“, fragte sie und setzte sich hin. Natascha nickte und ging zu ihr, sie nahm sie in den Arm, kurze Zeit verharrten sie einfach so.

„Ihr habt größere Probleme als nur eine kleine Meinungsverschiedenheit?“

Mia nickte. „Ich halte das bald nicht mehr aus. Wir streiten nur noch und er lässt uns einfach alleine. Wir sind ihm nicht mehr wichtig und ganz schlimm ist es, wenn es um Caleb geht, er hasst seinen Bruder.“

„Wieso, was ist mit den beiden los?“ Natascha schaute ihrer Freundin direkt in die Augen.

„Ach das ist eine komplizierte Geschichte. Sie kommen einfach nicht miteinander klar, sind sie noch nie.“

Mia atmete tief ein und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres Pullovers aus dem Gesicht.

„Ist ja auch egal“, sie schaute auf die Uhr, „ich muss die Kinder abholen, sie sind nach der Kirche mit zu ihren Großeltern gegangen, lass uns später reden ja? Ich brauche erst einmal ein wenig Luft.“

Sie lächelte Tascha verkrampft an.

Als auch Mia das Haus verlassen hatte, stand Natascha plötzlich ganz alleine da, ohne Plan, was sie nun tun sollte. Es tat ihr in der Seele weh ihre Freundin so unglücklich zu erleben, der Streit beschäftigte sie sehr. Tascha entschied sich ein wenig hinauszugehen. Es war zwar kühl, aber sonnig also nahm sie ihre Jacke und ging durch die Terrassentür im Wohnzimmer, in den wunderschönen großen Garten.

Tief atmete sie die kühle Oktoberluft ein und schloss die Augen. Der Herbst war im vollen Gange und die Blätter an den Bäumen leuchteten rot und orange. Sie wollte ein wenig hier draußen bleiben und nachdenken, also lief sie ein Stück den Kiesweg entlang. Sie wusste, dass hinter der Hecke eine schmiedeeiserne Bank stand, mit Blick auf einen künstlich angelegten Wasserlauf, ein herrlicher Platz.

Natascha ging gerade am Buddelkasten vorbei, und um die Hecke herum, als ihr Herz einen leichten Hüpfer machte, es war schon jemand dort. Er hatte den Kopf gesengt und hielt eine Zigarette in der Hand. Er schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Zögernd ging sie weiter, er sah traurig aus. Der Kerl schaffte es, dass sie sich wie ein Teenager fühlte. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen und Caleb schaute auf. In seinen Augen blitzte es auf und Natascha durchlief ein Schauer.

Er war ein Stück in die Andere Ebene abgetaucht. Das Licht hatte sich verändert, alles war so viel intensiver. Er roch den Regen, der heute Abend kommen würde, und sah die Schatten, die sich durch die Natur bewegten, unbemerkt von den Menschen. Er hörte, wie die Terrassentür geöffnet wurde, und fühlte sie kommen, hörte ihre Schritte, ihren Atem, ihr Blut und ihren Herzschlag. Sie war traurig und aufgewühlt.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Natascha war an der Bank angelangt und stand nun vor ihm. Caleb nickte nur und rutschte ein Stück zur Seite, sodass sie genügend Platz hatte. Schweigend saßen sie nebeneinander. Natascha starrte auf den Wasserlauf, er wirkte so beruhigend auf sie.

„Du rauchst?“, fragte sie in die Stille hinein.

„Nur manchmal.“

Caleb trat die Zigarette aus und stützte sich mit beiden Händen auf die Bank. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte zum Himmel.

„Was ist los mit den beiden? Ich dachte, sie sind glücklich miteinander.“

„Kann man mit einem von Lahn glücklich sein?“

Seine Worte klangen verbittert.

„Sie haben schon lange ein Problem miteinander und der Umstand, dass ich hier bin, macht es nicht leichter.“

Caleb sprach leise, holte eine weitere Zigarette aus der Schachtel, die er neben sich zu liegen hatte, zögerte dann aber sie anzuzünden.

„Die beiden müssen die Sache miteinander regeln, keiner kann ihnen da helfen.“

Er steckte die Zigarette wieder zurück und starrte weiter geradeaus.

„Ist es tatsächlich so schlimm zwischen ihnen?“, fragte Tascha bedrückt.

Caleb hob die Schultern. Eine leichte Brise trug den Duft von Pfirsich zu ihm herüber. Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf: Eine junge Frau in einem langen einfachen Kleid lief lachend über eine Wiese auf ihn zu. Ihr blondes Haar wehte im Wind und ihre Haut schimmerte beinahe golden. So plötzlich, wie das Bild aufgetaucht war, war es auch wieder verschwunden. Er hatte nie wieder so geliebt und würde es auch nie wieder tun. Ein kurzer, heftiger Schmerz durchlief seinen Körper, er zuckte zusammen

„Was hast du mit der Sache zu tun?“

Caleb hoffte, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass etwas mit ihm geschehen war. Er versuchte sich zu konzentrieren, was hatte sie gesagt? Er hatte ihr nicht richtig zuhören können, war bemüht sich unter Kontrolle zuhalten, Nataschas Gegenwart tat ihm weh. Gestern Abend bei ihrem Gespräch hatte er auch schon Probleme gehabt. Es gab Menschen, auf die er besonders reagierte, weil sie besonders waren. Ihre Worte hallten in seinem Kopf wieder. Er wollte sich in die Andere Ebene zurückziehen aber er wagte es nicht, auch nicht nur ein wenig aber es wäre so viel angenehmer.

Ohne lange nachgedacht zu haben, antwortete er: „Ich kannte Mia schon, bevor sie Josh kenne gelernt hat und ich bin ihretwegen hier, nicht seinetwegen.“

„Und das gefällt ihm nicht?“

„Offensichtlich nicht. Aber wie gesagt, sie müssen das miteinander regeln und schauen, wie sie weiter machen.“

So waren die Menschen, auch wenn sie glaubten, einander helfen zu können, tatsächlich war jeder für sein eigenes Schicksal verantwortlich. Sie gaben sich Tipps, hörten einander zu und wussten nicht, dass es nichts änderte an der Situation.

Sie wollte irgendetwas machen. Sie würde mit Mia reden und versuchen ihr zu helfen. Caleb wirkte unnahbar, wahrscheinlich hatte ihm der Streit zugesetzt.

„Es ist kühl geworden.“

Natascha merkte, wie sie fröstelte.

„Lass uns rein gehen.“

Er stand auf und reichte ihr seine Hand, um ihr hoch zu helfen. Als sie sie ergriff, war es als würde ein Schaudern ihren Körper erbeben lassen, er war kalt. Sie versuchte es zu ignorieren und lächelte.

Natascha hatte alle Aufzeichnungen, die sie in dem Fall bisher gemacht hatte, im Zimmer verteilt. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als würde etwas Wichtiges in ihnen stecken. Wie sollte sie vorgehen? Seltsam, dass diese Kunsträuber so viele wertvolle Stücke zurückgelassen hatten. Sie erstellte Listen mit den Gegenständen, die während der gesamten Zeit geraubt worden waren. Als sie damit fertig war, holte sie sich einen Saft aus der Küche, zog sich etwas Bequemes an und rückte den Stuhl näher an die Stehlampe heran, dann setzte sie sich und schaute auf ihre Notizen.

Erstaunlich, es waren allesamt Gegenstände, die eine dunkle Geschichte hatten. Zum Beispiel das Kreuz der brennenden Seele, das Kreuz das einst Papst Leo im Austausch für seine Seele an den Teufel übergeben haben soll. Der Teufel hatte es sodann verdammt und wieder unter die Menschen gebracht. Jedem seiner Besitzer hatte es Unglück beschert, auch LeValet, er war tot.

Die Schriftrollen von Toulouse, gefunden in der Ruine einer Kirche, vergraben von einem Priester, der glaubte, sie würden so viel Macht innehaben, dass es unmöglich war, für einen Menschen verantwortungsvoll damit umzugehen. Der glaubte man würde den Verstand verlieren, wenn man ihre Macht kostete.

Der Ring der Gleichnis, einer von vielen, der seinen Besitzer sowohl vor dem Zorn des Bösen als auch des Guten schützen sollte, wie viele es einst davon gegeben hatte, wusste man nicht.

Diese Sachen hätten nicht bei LeValet sein sollen, sondern an einem ganz anderen Ort. Genauso war es mit den Sachen, die bei den anderen Opfern gestohlen worden waren.

Es klopfte, Natascha schaute auf. Caleb lächelte durch den Türspalt.

„Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht.“

Er wirkte jetzt ganz anders als eben im Garten, viel gelöster. Er kam herein und musste große Schritte machen, um nicht auf die vielen Papiere zu treten, die auf dem Boden lagen.

„Was machst du da?“

Neugierig schaute er auf das Blatt, das sie gerade in der Hand hielt. Er strahlte nun eine Selbstsicherheit aus, die fast schon an Arroganz grenzte, aber unglaublich anziehend auf Natascha wirkte. Sie war sich nicht sicher, ob sie etwas erzählen sollte, dachte dann aber, dass es ja nichts schaden würde jemandem von ihren Gedanken zu erzählen, sie zu teilen.

„Was ist Diavolis?“ Caleb hielt einen Zettel in der Hand, den er vom Bett genommen hatte.

„Ich habe eine Liste zusammengestellt mit den Gegenständen, die gestohlen wurden und bin auf eine interessante Sache gestoßen. Diavolis ist ein Buch, von dem man sagt, dass es in der Hölle geschrieben worden ist. Es soll das abgrundtief Böse auf die Erde bringen, es enthält aber auch Beschwörungen, wie man es unter Kontrolle halten kann. Der Besitzer hätte also die Macht das Böse zu kontrollieren.“

Ja so war es. Dieses Buch hätte niemals in die falschen Hände geraten dürfen aber nun war es wieder bei ihnen. Er und seinesgleichen würden es niemals benutzen und niemand würde es jemals wieder gegen sie benutzen. Der Vatikan hätte es nie haben dürfen und LeValet schon gar nicht, offiziell existierte es nicht mehr. Natascha war aufgeregt, hatte etwas entdeckt was sie nicht hätte entdecken sollen.

„Es gibt da etwas, das mich stutzig macht. Diavolis ist unglaublich wertvoll. Man war sich niemals sicher, ob es ein Mythos ist, oder ob es tatsächlich existiert hat. Den Unterlagen LeValets nach hat er es für viel Geld von einem privaten Sammler abgekauft, der es immer unter strengstem Verschluss gehalten hat. Warum zerstören Kunsträuber so ein unglaubliches Stück? Sie haben es mit Säure übergossen, es ist unwiderruflich vernichtet.“

Es tat ihr gut darüber zu sprechen, auch wenn sie wusste, dass Caleb sicher nicht mit solch Eifer bei der Sache war wie sie, er hörte ihr jedoch zu und sie konnte ihre Gedanken in Worte fassen. Er hatte sich auf das Bett gesetzt und schaute sie mit seinen unglaublich wunderschönen grünen Augen an.

„Es sind Sachen dabei, die es eigentlich nicht geben sollte, die nur ein Mythos sind und Sachen, die im Vatikan aufbewahrt werden und trotzdem habe ich sie gesehen. Die haben nur Dinge gestohlen, die irgendwie außergewöhnlich sind, die mächtig sind, es ist, als würden die einen Plan verfolgen.“

Oh mein Gott jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, sie wusste nun, was ihr so komisch vorgekommen war, sie hatte schon einmal von so etwas gehört.

„Caleb, wenn du mich entschuldigen würdest, mir ist da eben etwas eingefallen, dem ich sofort nachgehen muss“, sagte sie zerstreut.

Sie war nicht blöd, das musste man ihr lassen. Es war ihr aufgefallen. Er musste vorsichtig sein und noch mehr erfahren. Wenn es ihr gelänge, etwas heraus zu finden würden es vielleicht auch andere schaffen. Er musste an ihr dran bleiben, sie genau beobachten und alle Spuren, die sie fand, zerstören und wenn es gar nicht mehr anders ging … Es würde ihm leidtun, irgendwie war sie ihm sympathisch, aber wenn er keine andere Wahl hatte, musste er sie töten.

„Eigentlich wollte ich dich fragen ob du Lust hast mit mir auszugehen. Ich glaube, ich muss mal ein bisschen raus. Ich wollte irgendwo etwas essen gehen oder so, magst du mich begleiten?“

Er musste mehr erfahren! Sprachlos mit geöffnetem Mund starrte sie ihn an.

Da war sie wieder, die Sechzehnjährige. Er hatte sie tatsächlich gefragt, ob sie mit ihm Ausgehen wollte. Sie schluckte und versuchte sich zusammenzureißen. Ja, ja sie wollte, natürlich, er gefiel ihr unglaublich gut und sie genoss seine Nähe. Er war so geheimnisvoll und so faszinierend aber da war dieser Gedanke.

„Also“, begann sie, „ich möchte sehr gerne. Gib mir nur noch ein wenig Zeit, ich muss noch etwas erledigen.“

„Pass auf, sagen wir in zwei Stunden unten in der Halle, O.K.?“ Er lächelte sie an.

„Abgemacht, das müsste ausreichen.“ Sie lächelte zurück.

Als er ihr Zimmer verlassen hatte, trat, sofort das Funkeln in seine Augen. Er zitterte, es fiel ihm so schwer sich in ihrer Gegenwart zu kontrollieren, ihr die richtigen Signale auf ihre Empfindungen zu geben. Es schmerzte, sie durfte es nicht merken. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel ganz weiß wurden, der Schmerz ließ nach. Ihre Gefühle waren so rein und strömten ungefiltert auf ihn ein. Er ging in sein Zimmer.

Natascha zog ihren Laptop unter dem Bett hervor. Eine dumme Angewohnheit von ihr war, dass sie so gut wie alle Aufzeichnungen, die sie jemals gemacht hatte, abspeicherte und mitnahm, wenn sie auf Reisen ging. Sie öffnete einige Dateien und suchte nach dem, was als Funken in ihrem Hirn aufgeblitzt war. Es war während der Studienzeit gewesen.

Sie öffnete die passenden Dateien. Es war die Vorlesung eines Gastdozenten, daran konnte sie sich erinnern. Sie öffnete und schloss die Dateien, überflog die Zeilen und vergaß dabei die Zeit.

Da, sie hatte es gefunden. Sie las, was sie damals notiert hatte, es war nicht viel: Professor Thadeus Wickel, Dozent an der Uni in Freiburg, Vortrag über Artefakte der Macht.

Sie erinnerte sich nun genauer. Sie hatte die Notizen bis auf diese Eintragung später gelöscht. Der Professor hatte seinen Vortrag gehalten. Alles war erst ganz normal verlaufen, eine Vorlesung wie jede Andere wenn auch interessant da es sich um Stücke handelte, deren Existenz nie nachgewiesen worden waren, und auch weil der Professor mit seinen Theorien für viel Aufruhr in der Gesellschaft der Kunsthistoriker gesorgt hatte. Dann jedoch war es ausgeartet, er hatte, so hatte er erklärt, Nachforschungen angestellt und behauptete, dass die Kirche heilige und mächtige Artefakte in ihrem Besitz habe, mit der man übernatürliche Wesen beeinflussen könne, die unter den Menschen wandeln, böse und gute Wesen.

Die Kirche habe diese Gegenstände mit Gewalt in ihren Besitz gebracht, einer Gruppierung entrissen, die sie aus der realen Welt entfernt hatte. Er war so besessen von seinen Ideen gewesen. Er hatte erzählt, dass diese Wesen ihn verfolgten und ihn töten wollten, da er zu viel wusste. Es war zum Eklat gekommen. Er hatte sich immer mehr ereifert und schließlich vor ihren Augen einen Nervenzusammenbruch erlitten. Der Professor war aus dem Saal gebracht und wenige Tage später in ein Sanatorium eingewiesen worden, in dem er einige Jahre verbrachte hatte, um dann nach Berlin zu gehen. Er hatte sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

Natascha überlegte, konnte er ihr helfen? Ein Mann, der sich von irgendwelchen Wesen verfolgt fühlte? Hatte er wirklich eine Ahnung, was es mit diesen wunderbaren Stücken auf sich hatte? Es gab keine Erklärung dafür, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie sich an ihn wenden musste. Morgen würde sie versuchen ihn zu finden.

Es klopfte.

„Ich warte seit einer halben Stunde auf dich, hast du mich vergessen?“

Tascha schaute auf die Uhr, die zwei Stunden waren schon vorbei.

„Caleb, oh je, es tut mir leid, gibst du mir noch eine Chance? Zwanzig Minuten und ich bin fertig, ja?“

Er lächelte, nickte und schloss die Tür.

Sie sah toll aus, als sie die Treppe herunter kam. Ihr langes, dunkles Haar umspielte ihr feines, helles Gesicht. Der klassische schwarze Blazer schmiegte sich an ihren zierlichen Körper und die Jeans, die sie trug, betonte ihre schönen Beine. Eine Welle von Wärme durchdrang Caleb. Ihre Emotionen prallten auf ihn ein, Unsicherheit, ob sie ihm gefallen würde und sie wollte ihm gefallen. Als sie vor ihm stand, nahm er wieder diesen Duft von Pfirsich wahr und er stellte fest, wie klein sie war. Er brachte zu seiner Verwunderung kein Wort heraus, starrte sie nur an. Ihr Lächeln war angenehm, Verlangen nach ihm, er drehte sich abrupt von ihr weg.

„Na dann …“ Cale griff seinen Autoschlüssel und sie verließen das Haus.

Sie saßen in einem kleinen Lokal an der Panke und hatten gerade ihre Getränke bekommen. Natascha schaute verstohlen zu Caleb. Ihr fiel eine lange Narbe auf, die unterhalb seiner rechten Gesichtshälfte verlief, beginnend am Ohr, weiter über seinen Hals und dann im Shirt verschwand. Auch an seinen Armen gab es einige alte Verletzungen, die sich von seiner eher dunklen Hautfarbe abhoben. Was hatte dieser Mann erlebt, dass er so gezeichnet war? Sie versuchte sich die Tätowierungen an seinen Armen genauer anzuschauen, aber das Licht beeinflusste ihre Wahrnehmung, sie konnte sie nicht richtig erkennen. Er trug einen einfachen goldenen Ring an der rechten Hand.

„Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte sie ihn.

Er antwortete nicht sofort und Tascha hatte das Gefühl, als wäre ihm die Frage unangenehm.

Dann antwortete er doch: „Ich bin so etwas wie ein Beschützer, ich schütze irgendwie das Leben von Personen.“ „Also ein Bodyguard.“

Er lachte. „Nur beinahe.“

Das Essen kam und Tascha fand nicht die Gelegenheit weiter nachzufragen.

Es schmeckte fantastisch.

„Hast du Lust nach dem Essen mit mir woanders hinzugehen? In einen Club, in dem ich öfter bin wenn ich in Berlin bin?“ Natascha hatte Lust, der Abend hatte erst begonnen und sie genoss seine Gegenwart. Sie unterhielten sich, während sie noch einen Espresso tranken und Tascha erfuhr ein wenig über ihn.

Er hatte schon in vielen Teilen der Welt gelebt, nun schien es, als würde er wieder zurück nach Berlin kommen. Er war sich selbst noch nicht ganz sicher, wo ihn sein Leben hintragen würde. Das war auch der Grund, weshalb er bei seinem Bruder untergekommen war. Seine Wohnortswechsel hatten mit seinem Job zu tun und er hatte kein wirkliches zu Hause.

„Wo hat es dir am besten gefallen?“

Caleb überlegte kurz: „Ich fühle mich in Irland am wohlsten. Dort kann man noch die Weite genießen und man kann sich frei bewegen. Wenn du dort an der Steilküste stehst, kannst du die Ferne schmecken, das gefällt mir. Was ist mit dir?“

„Es gibt nicht viel zu sagen, was ich mache, weißt du. Es ist in der Tat eine Berufung, vielleicht bin ich deshalb so weit gekommen, obwohl ich so jung bin, weil ich liebe, was ich tue. Ich lebe schon eine Weile nicht mehr in Berlin. Ich habe keine Familie, meine Eltern sind verschwunden, als ich ziemlich klein war. Ich habe wenige aber dafür gute Freunde und das wars schon.“

„Mehr nicht? Keine dreckigen Geheimnisse, die du nur nicht verraten möchtest?“

Er grinste. Nein, sie hatte keine dreckigen Geheimnisse das fühlte er, sie war ein durch und durch ehrlicher Mensch. „Bisher nicht, mein Leben ist ziemlich ereignislos verlaufen. Bis eben auf die Tatsache, dass meine Eltern weg sind und ich bei meiner Tante groß geworden bin, die später bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.“

Sie empfand großen Schmerz bei dem Gedanken an die Verluste, die ihr Leben begleitet und geprägt hatten. Er schaute in ihre Seele, versuchte aber es sich in keiner Weise anmerken zu lassen. Keine Veränderung durfte mit ihm vorgehen. Er durfte sich nicht verwandeln, es fiel ihm schwer, aber es funktionierte. Schmerz, Trauer, Hoffnung, er zuckte zusammen. Hoffnung!

„Traurig die Sache mit deinen Eltern, vermisst du sie sehr?“ Er verschloss sich wieder. Ihre Qualen waren zu seinen geworden und das wollte er nicht zulassen.

„Manchmal träume ich von ihnen, sie sagen mir, dass alles gut wird und sie eines Tages zurückkehren.“

Sie schluckte und trank den Rest ihres Weines.

„Ich mag den Abend nicht verderben, lass uns nicht davon reden, lass uns Spaß haben. Ich glaube, so etwas tut mir mal ganz gut.“

Sie lächelte und es war ein echtes Lächeln.

„Pass auf, wir fahren jetzt in einen Club, er heißt Raven, ich habe da echt viel Zeit meines Lebens verbracht.“

Er war sich nicht ganz sicher, ob es tatsächlich eine gute Idee war sie dorthin mitzunehmen aber es war eine Chance für ihn sich ihr in vertrauter Umgebung zu nähern und im Raven wusste man sich zu schützen. Das Wahre spielte sich in einer anderen Ebene ab und nur Wesen wie er konnten es erkennen. Für alle anderen war es einfach nur ein Club, ein wenig abgefahren zwar aber eben nur ein Club.

Sie fuhren in die kleine Nebenstraße und parkten gegenüber vom Raven. Caleb sah dem Türsteher genau in seine blutroten Augen und nickte ihm zu, sofort ließ der sie rein.

Natascha war noch nie an so einem ungewöhnlichen Ort gewesen. Als sie den Türsteher gesehen hatte, hatte sie erst geglaubt, man würde sie abweisen. Er hatte sie und Caleb mit seinen blauen Augen, die so durchdringend waren, dass sie meinte, er würde sehen was sie für Unterwäsche trug, gemustert. Er war ihr unangenehm gewesen, hatte sie aber hineingelassen.

Der Club war gut besucht aber noch nicht wirklich voll, was wohl an der Uhrzeit lag. Es war erst 23 Uhr und in solch einem Szeneladen würde es erst gegen 1 Uhr nachts richtig abgehen. Das war ein Umstand, der sie eigentlich immer davon abhielt in eine Disco zu gehen. Sie schaute sich um. Die Wände waren purpurn und lila, seltsame goldene Symbole waren auf sie gemalt. Der Boden war schwarz. Schwarze und purpurne Sessel griffen die Farben wieder auf, sie waren abgewetzt, benutzt, aber nicht unansehnlich, es war einfach so. Es gab kleine Tische, auf denen Kerzen brannten. Zur Rechten befand sich die Bar. Sie war aus Granit und an den Ecken lachten hämisch die Fratzen von Steindämonen. Schwarze Stoffbahnen waren unter die Decke gespannt und sahen aus wie Wellen im Dunklen der Nacht. Die Beleuchtung war spärlich und irgendwie irreal. Es fiel Natascha schwer sich zu orientieren, sie ließ sich daher sanft von Cale mitziehen der eine kleine Nische ansteuerte in der ein Tisch und zwei Sesseln standen. Er deutete ihr sich zu setzen und verschwand dann zum Tresen.

Aus großen Boxen dröhnte Musik. Tascha schaute sich neugierig die Leute an, die überall verteil standen oder saßen. Sie wirkten düster, weit entfernt und geheimnisvoll. Männer und Frauen, dunkel gekleidet, viele Tätowierungen, seltsame Zeichen, schlicht aber eindrucksvoll. Sie strahlten allesamt Selbstbewusstsein aus, etwas, das ihr fehlte.

Auf der Tanzfläche bewegten sich ein paar Gäste zu den Klängen von Placebos Meds. Eine junge Frau mit langem pechschwarzem Haar erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie an ihr vorbeiging. Ihre Blicke begegnete sich und Tascha sah in zwei kristallblaue Augen von einer Intensität, wie sie es nur bei Cale gesehen hatte. Ihr elfenbeinfarbener Teint ließ den blutroten Mund mit den vollen Lippen besonders sinnlich erscheinen. Sie trug ein schwarzes, langes, kurzärmliges, äußerst figurbetontes Kleid und hohe Stiefeletten. An ihren Armen schlängelten sich tätowierte Schlangen bis hinauf zu den Schultern.

Die Frau lächelte ihr zu und in ihren Augen blitzte es auf, dann war sie vorbei. Es schien Natascha, als wäre dieser kurze Moment in Zeitlupe abgelaufen. Das Lächeln war nicht freundlich gewesen, eher herablassend, wissend, seltsam bedrohlich. Sie fühlte sich plötzlich schlecht. Andere Augen waren auf sie gerichtet. Sie glaubte zu hören, wie man über sie tuschelte, sie musterten sie, sie schauten in sie hinein. Kälte kroch in ihr hoch ihr wurde schwindelig. Dann stand Cale vor ihr, in den Händen hatte er zwei Gläser und das Gefühl war verschwunden.

Als sie den Club betreten hatten, veränderte er sich, nur ein wenig, nur so viel um die Andere Ebene zu sehen, in der er und seinesgleichen sich bewegten. Der Laden war noch nicht gut besucht, obwohl er in der Anderen Ebene noch weitere Wesen sah. Sie hielten sich im Verborgenen, machten glauben sie seien nicht da, waren es aber doch. Natascha würde seine Veränderung nicht mitbekommen so lange sie ihm nicht direkt in die Augen starrte, zumal die Lichtverhältnisse hier nicht besonders gut waren. Alles war weich gezeichnet und seine Sinne waren bis aufs äußerste gespannt.

Am Tresen begegnete er Sarah. Er hatte nicht damit gerechnet sie hier zu sehen und irgendwie auch doch, trotzdem war er nicht sonderlich begeistert über ihre Anwesenheit.

„Hi Gabriel, ich habe deinen kleinen Fehltritt schon entdeckt. Nettes Persönchen aber ein wenig farblos.“

Sie kicherte böse und er wusste, dass sie schon einiges getrunken hatte. Sie berührte ihn sanft am Arm, Verlangen durchströmte seinen Körper.

„Sarah ich rate dir dich von uns fernzuhalten, wir können später reden, nicht jetzt!“

Er schob sie beiseite und ging zurück in das Séparée.

Irgendetwas war geschehen in der Zeit, die er nicht bei Tascha gewesen war. Sie war verändert, saß steif und mit weit aufgerissenen Augen auf dem Sessel. Als sie ihn bemerkte, ging ein Ruck durch ihren Körper und sie war wieder wie zuvor. Er musste vorsichtig sein, vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, sie hierher zu bringen. Er reichte ihr ein Glas und setzte sich, so, dass sie ihm nicht direkt in die Augen sehen konnte.

„Alles O.K. mit dir?“

Sie nickte und stellte ihr Glas ab, ohne davon getrunken zu haben. Caleb beobachtete zwei Frauen, die ihre schlanken Körper lasziv zur Musik bewegten, einander berührten, sich anzüglich küssten und streichelten in ihren Augen glimmte die Glut der Hölle. Er spürte ihren Durst nach Blut, ihre Begierde, ihre Gefühle wurden zu seinen und er sehnte sich danach Blut zu fühlen. Er versuchte sich zusammenzureißen, er durfte sich nicht zu tief hineinziehen lassen. Er strich sich mit der Hand über die Stirn und verschloss seinen Geist, tauchte auf. Cale schaute zu Natascha rüber, auch sie beobachtete die Frauen, sie fühlte sich schlecht.

Die Frauen waren hübsch. Sie tanzten ausgelassen zu der Musik und schienen sich wohlzufühlen. Natascha hingegen fühlte sich ganz und gar nicht wohl, sie fühlte sich viel mehr fehl am Platze.

„Gefällt es dir hier nicht?“, fragte Calebs plötzlich.

„Oh doch, es ist nur so, so ungewöhnlich hier.“

Sie lächelte gezwungen. Er rückte seinen Sessel näher an ihren heran und lachte.

„Ja, hier sind alle ein wenig anders.“

Er erhob sein Glas und hielt ihr das Andere entgegen, sie nahm es und stieß mit ihm an. Es schmeckte angenehm bitter. Sie konnte nicht sagen was sie trank, aber es war warm, als es ihre Kehle herunterfloss und es tat ihr gut, sie entspannte sich.

„Du gehst also nicht oft aus?“

„Ich glaube, meine Lebensgeschichte hat mich zu einem ziemlichen Eigenbrötler werden lassen, einem Nerd. Manchmal gehe ich mit ein paar Freunden weg, aber mein Beruf hält mich ziemlich auf Trab. Es gibt so vieles zu tun und ich denke dann nicht so viel nach.“

Sie trank noch einen Schluck und Wohlbefinden machte sich in ihrem Bauch breit.

„Glaubst du, deine Eltern kommen zurück?“

Sie zuckte mit den Mundwinkeln. “Nur weil ich davon träume? Ich denke nicht. Als Kind habe ich fest daran geglaubt. Habe geglaubt sie sprechen zu mir, aber je älter ich wurde, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass es wohl doch keine Wunder gibt und als meine Tante umgekommen ist, habe ich gänzlich aufgehört zu glauben.“

„Du glaubst nicht? Ich dachte immer, jeder Mensch glaubt an etwas außerdem müsstest du doch durch deinen Beruf an irgendetwas 'Göttliches' oder so glauben, ich meine, du umgibst dich doch mit Kirchenkram.“

Natascha dachte kurz nach, bevor sie antwortete. „Ich glaube schon. Ich habe so viele wunderbare Dinge gesehen und über sie gelesen. Ich denke, dass an vielen Wundern etwas dran ist, aber ich glaube nicht, dass mir etwas Wunderbares zustoßen wird ich glaube, Gott hat mich persönlich übersehen. Glaubst du?“

Er hatte ein verächtliches Grinsen im Gesicht, er wirkte mit einem Mal kalt.

„Wenn dann sicher nicht an Gott. Mein Vater wollte immer, dass ich ein guter Christ bin, war ich aber nie und werde ich ganz sicher auch nicht werden, da hat seine Erziehung ziemlich versagt.“

Er spürte, dass ihn Sarah beobachtete. Das Raven hatte sich mittlerweile gefüllt. Er öffnete seinen Geist und schaute in Nataschas Seele. Was er sah, was er spürte, war genau das, was sie auch gesagt hatte. Andere Emotionen drangen auf ihn ein, nicht nur die von ihr. Es hatte keinen Sinn länger zu bleiben, zumal es für sie nicht ganz ungefährlich war, sich zu dieser späten Stunde hier noch aufzuhalten. Dieser Club war eigentlich nur ihnen vorbehalten, wenige Ausnahmen bestätigten die Regel und jemand wie sie gehörte nicht zu denen, die man gerne hier sah. Es war ein Fehler gewesen hier her zu kommen, er hatte sich irgendwie etwas anderes davon versprochen.

„Komm mit, ich möchte dir was zeigen.“

Er griff ihre Hand und ging mit ihr zum Ausgang.

Sie fuhren durch das nächtliche Berlin. Die Straßen waren zu dieser Zeit bei weitem nicht so voll wie am Tag und so kamen sie nach knapp 15 Minuten am Ziel ihrer Fahrt an. Caleb parkte den Wagen und ging um das Auto herum, um Natascha die Tür zu öffnen, sie stieg aus. Während der Fahrt hatten sie kein Wort miteinander gesprochen und sie hatte auch nicht gefragt, wo er hin wollte, jetzt sah sie es. Der Berliner Dom ragte vor ihnen empor, er war durch Scheinwerfer in ein wunderbares Licht getaucht. Natascha starrte fasziniert zum Hauptportal hinauf.

Obwohl Cale ganz bestimmt kein Gottesgläubiger war, liebte er diesen Bau. Von ihm ging eine ungeheure Macht aus die sogar jemandem wie ihn eine Art Seelenfrieden gab und er wusste, dass auch Natascha etwas Ähnliches empfand. „Wäre ich ein Christ, so würde ich hier die Nähe Gottes spüren“, sagte er leise. Schweigend standen sie eine Weile da.

„Warum hast du mich hierher gebracht?“

„Um dir zu zeigen, dass es etwas gibt, das mehr ist, als du sehen kannst und das muss nicht Gott sein. Lass uns ein Stück gehen.“

„Was ist es dann, wenn es nicht Gott ist, was ich hier spüre?“

Caleb antwortete ihr nicht. Er konnte es ihr nicht sagen, dieser Dom war an einer besonderen Stelle errichtet worden. Die Bauherren hatten ganz bewusst diesen Platz ausgewählt. Es war kein Zufall gewesen, hier liefen Kraftlinien zusammen die jeden Menschen und auch jeden Anderen erfassten. Er wollte ihr zeigen, sie spüren lassen, dass es in dieser Welt mehr gab, und konnte ihr doch nichts sagen.

Er war kein Kind Gottes, es gab keine Kinder Gottes, auch nicht unter den Menschen. Er zitterte plötzlich Schmerz, unendlicher Schmerz, nein! Er schloss die Augen, was tat er hier? Sie brachte ihn dazu unvorsichtig zu sein, er, der immer seine Gefühle unter Kontrolle hielt, Erinnerungen brachen über ihn herein. NEIN!, schrie es in seinem Kopf, pass auf! Ihre Gefühle, ihre Emotionen, sie waren so rein, wieso? Er musste sich von ihr zurückziehen, Abstand gewinnen.

„Ist alles in Ordnung?“ Sie schaute besorgt und streichelte ihm sanft über den Arm.

Er öffnete die Augen wieder und nickte.

„Lass uns weiter gehen.“

Natascha hakte sich ein und langsam liefen sie um den Bau herum.

Es war schön, irgendwie friedlich, am Tag war hier die Hölle los. Touristen die die Gegend bevölkerten, sich die prachtvollen Bauten anschauten, in das alte Zeughaus gingen, oder über den Kunstmarkt schlenderten, den Lustgarten entlang liefen und im Sommer die Füße in den Springbrunnen hielten, oder eines der Museen der Museumsinsel besuchen wollten, es gab hier so viel Sehenswertes. Jetzt, mitten in der Nacht war es ruhig, wunderbar ruhig. Wenige Autos fuhren und die Luft war kühl und rein. Sie waren einmal um den Dom herumgelaufen und standen nun wieder vor dem Portal. Cale nahm Nataschas Hand und zog sie ein paar Stufen hinauf, dann setzte er sich und zog sie zu sich herunter. Sie fröstelte, er legte ihr seine Jacke um die Schultern, dabei rutschte der Ärmel seines Pullovers ein wenig hoch und sie sah auf seinem Unterarm die Tätowierungen. In dem fahlen Licht schien es Natascha, als würden sie sich bewegen.

„Du hast von deinem Vater erzählt, ist er sehr streng zu euch gewesen?“

„Du kennst ihn doch, oder?“

Sie nickte. „Ja, aber ich habe ihn als sehr zuvorkommend und höflich in Erinnerung.“

„Die alte Schule. Er ist sehr streng, aber ich habe nie getan, was er von mir verlangt hat. Er hat immer gesagt, ich hätte schon als Baby rebelliert, was solls, er hat ja Josh. Der entspricht eher seinem Bild eines guten Sohnes. Ich habe seinen Ansprüchen niemals Genüge getan und wollte es auch nicht.“

„Also keine schöne Kindheit?“

„Ich habe sie überlebt und ich bin gut zurechtgekommen, ich bin kein Familienmensch.“

Sie kuschelte sich an ihn, trotzdem er nur in seinem Pullover da saß, schien er nicht zu frieren. Sie atmete seinen Duft ein.

Sie fuhren irgendwann nach Hause. Es war spät und vor ihrem Zimmer standen sie sich einen Augenblick gegenüber. Natascha hoffte, er würde sie küssen, er tat es nicht. Sie wünschten einander eine gute Nacht, ehe sie in ihren Zimmern verschwanden.

Caleb musste sich besser unter Kontrolle halten, sie verwirrte ihn. Sie war stark und sie war ehrlich, außerdem war sie nicht dumm, sie hatte in der kurzen Zeit erschreckend viel erfahren. Er hoffte, er würde ihrem Leben kein Ende setzen müssen denn er wusste nicht, ob er dazu in der Lage war. Er musste sich zusammenreißen, Abstand gewinnen. In der Nacht träumte er von Darla.

Die Grauen Krieger

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