Читать книгу Gelöscht - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider - Страница 4
Kapitel 02 - Lüge & Wahrheit
ОглавлениеEs ist eine Unbedachtheit, die meine neugewonnene Sicherheit ins Wanken bringt. Meine Ideale erzittern unter dem Aufprall eines Meteoriten, den ich nicht habe kommen sehen. Auch wenn sich der Krater, den er hinterlässt, mit Tränen füllt, um das Loch zu stopfen, das er in mein junges Ich gerissen hat, und der Boden, auf dem ich mich bewege, oberflächlich gesehen glatt ist, muss jeder Tritt kalkuliert und vorsichtig gesetzt werden, wenn ich nicht in dem See meiner gespalteten Ideologie ertrinken will.
Es ist ein Tag wie jeder andere. Ich habe den Überblick verloren und doch ist seit meiner Wiedergeburt nur ein Monat vergangen. Ich fühle mich gut.
Die Mädchen, mit denen ich mein Zimmer teile, sind etwas indifferent. Doch jeder Tag bringt sie einem Lächeln näher.
Ich genieße es, mich freuen zu können, und lächle für sie mit, verstehe Sunshines Bedürfnis, Freude zu schenken und Lächeln zu ernten. Meine Ausbeute ist mager und würde ohne Dannie ins Minus rutschen. Doch ich sage mir immer wieder, dass jedes freundliche Wort, jede selbstlose Geste meine Mitmenschen in die richtige Richtung lenken könnte.
Die wenigen Lächeln, die ich ernte, wirken wie gespielte Routine und verlieren im Mimikry seine Bedeutung. Eine Geste, der die Freude nicht abhandengekommen ist. Nein. Eine Geste, deren Sinn nicht verstanden wird. Noch nicht, sage ich mir und lächle weiter. Und solange mich Dannie morgens strahlend begrüßt, weiß ich, kann ich alles schaffen. Können wir alles schaffen.
Das kleine Licht tief in mir drin flackert jedes Mal freudig auf, wenn ich Dannie sehe, und wächst ein kleines bisschen mehr. Es ist immer noch außerhalb meiner Reichweite, aber ich kann seine tröstende Wäre spüren. Und so füttere ich es immer weiter mit Airas Idealen und träume von einer Welt des Friedens und der Freundlichkeit. Friedlich ist meine Welt schon, es fehlt nur noch die ehrlich gemeinte Freundlichkeit und hierfür muss ein jeder beitragen, was er kann.
Ich beeile mich im Bad, um den durchgeplanten Tagesablauf nicht zu stören. Wie ein Schatten versuche ich mich in die Masse des Weiß zu integrieren, weiche, wo Platz benötigt wird, und helfe, wo ich kann. Laut Mutter Sunshine mache ich gute Fortschritte und integriere mich schneller als erwartet. Meine Wiedergeburt sei perfekt abgelaufen, sagt sie. Alles notwendige Wissen ist intakt geblieben, während die dunklen Erinnerungen verloschen sind. Wenn ich so weiter mache, wird vielleicht sogar eine Rückkehr möglich, sagt Aira. Das Wort Rückkehr macht mir Angst. Was soll ich in einer Welt, die mein altes Ich willentlich verlassen hat? Ich verstehe den Drang der anderen, hier im sicheren Nest zu bleiben, wenn da draußen so viel Dunkelheit und Falschheit lauert.
Sunshines und Airas Worte klingen in mir nach, machen mich glücklich und gleichzeitig traurig. Wenn eine Rückkehr etwas Besonderes ist, bedeutet das, dass nicht jeder zurückkehrt. Und das macht mich zu etwas Besonderem. Ich will in der Masse verschmelzen, ein Teil der idealen Welt sein und doch verführt der Gedanke, speziell zu sein und sich von den anderen abzuheben. Ich habe aber vor allem Angst davor, die neugewonnene Sicherheit verlassen zu müssen.
Was bedeutet Rückkehr? Wohin soll ich zurückkehren, wenn alles, was ich kenne, hier versammelt ist? Wenn alles, was ich liebe und brauche, mir in Dannies Lächeln entgegenstrahlt? Ich will nicht zurück in eine Welt, die mein altes Ego gebrochen hat. Eine Gesellschaft, die mein altes Ich dazu getrieben hat, mich und alles, was mir je passiert ist, vergessen zu wollen.
„Ist alles in Ordnung, Mo?“
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Dannie weigert sich mich Oktober oder Montag zu nennen. Ich kann ihr nicht böse sein, auch wenn sie mir mein Recht, einen Namen zu wählen, entrissen und sich zu eigen gemacht hat, gehe ich auf in diesen zwei Buchstaben. Mo. Es fühlt sich richtig an, wenn es aus ihrem Munde kommt.
„Mir geht es gut, Dannie“, antworte ich lächelnd.
„Dann solltest du etwas essen. Du stocherst seit Ewigkeiten in deinem Mittagessen herum!“ In ihrer Stimme klingt Sorge mit, wo Vorwurf herrschen sollte.
Essensverschwendung wird nicht gern gesehen. Man hat uns erzählt, dass es Menschen gibt, die hungern und alles tun würden für ein Stück Brot. Hunger … das Wort bedeutet mir etwas, doch ich kann es nicht fassen. Es müsste mehr als ein Wort sein, ein Gefühl und doch klingt es leer. Bevor ich darüber nachdenken kann, entschlüpft der Gedanke meinem Mund: „Ich möchte wissen, wie es ist hungrig zu sein.“
Dannies Augen weiten sich vor Schreck. Und meine Wangen brennen vor Scham. Ich bin undankbar. Meine Hand zittert, als meine Gabel Gemüse aufspießt und in meinen Mund schiebt. Dannie blickt zu mir, dann zu ihrem Essen. Ihre Augen glitzern, ihr Mund bewegt sich, doch ich kann nicht verstehen, was sie sagt. Ihr Blick wird dunkel. Wie eine vollgegossene Tasse schwappen ihre Augen über und eine Träne kullert ihre Wange hinunter. Sie blinzelt, wischt sie ab.
„Dannie? Alles okay?“ Sie blinzelt wieder, nickt und lächelt mich an.
Doch statt Freude durchsticht Traurigkeit mein Herz. Etwas hat Dannies Licht getrübt. Einen Film der Traurigkeit über ihren Glanz gelegt. Und ich habe das Gefühl, ich hätte ihr etwas genommen. Meine Worte haben ihr etwas entrissen und sich zu Eigen gemacht, aus purem Egoismus.
Ich bin sprachlos, weiß nicht, was ich getan habe und wie ich es wieder gut machen kann. Schweigend gehen wir zum Unterricht. Wir sprechen kein Wort und ich verliere bei meinem Schal eine Masche nach der anderen.
Handarbeit liegt mir nicht. So viel wusste ich schon nach der ersten Stunde und doch besuche ich den Unterricht, weil Dannie hier ist. Irgendwie habe ich es bei meinem Einstufungstest geschafft, in keinem von Dannies Kursen zu landen. Und so bleiben uns nur die freien Kurse. Auch wenn ich lieber Stunden in der Bibliothek verbringen würde, sitze ich in Stricken, nur um bei Dannie sein zu können. Ich fühle mich etwas albern dabei, doch ich kann einfach nicht anders.
Ich habe zwei linke Hände. Und während Dannie normalerweise alles wie ein Schwamm in sich aufsaugt und mit ihren Händen zaubern kann, hat ihr Schal mehr Löcher als meiner. Die Lehrerin ruft sie raus und Dannie kommt mit roten Augen wieder. Der Schal bekommt mehr Löcher.
„Dannie …“, flüstere ich leise und obwohl ich die Konzentration der anderen stören könnte, ist mir das jetzt egal. Sie schüttelt nur den Kopf und presst die Lippen aufeinander. Ich packe sie an der Hand und zerre sie aus dem Unterricht. Man starrt uns an, lässt uns jedoch gewähren. Ich ziehe sie an den Glaswänden vorbei in den einzigen Raum, der uns für kurze Zeit etwas gibt, das ich geglaubt habe nicht mehr zu brauchen: Privatsphäre.
Das Klicken des Schalters ist das Go unserer Stoppuhr. Die öffentlichen Toiletten geben uns nur 10 Minuten. Ich ergreife Dannies Hände, drücke meine Lippen auf ihren Handrücken.
„Was ist los?“, flüstere ich, als hätte ich ein Geheimnis. Dannie presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf. Tränen steigen in ihre Augen. Ich nehme sie in den Arm und streichle über ihren Kopf, wie es Sunshine tun würde.
„Du kannst mir alles erzählen“, sage ich und wiege sie hin und her.
„Schwörst du, es niemandem zu sagen?“, flüstert sie leise.
„Natürlich! Wir sind doch Freunde.“ Freunde … weiß ich überhaupt, was Freundschaft bedeutet? Soweit es meine Erinnerungen betrifft, habe ich noch nie eine Freundin gehabt. Dannie versteift sich in meinen Armen. Habe ich das Wort, dessen Bedeutung ich noch nicht nachempfinden kann, zu früh ausgesprochen? Mich geirrt? War es nur Freundlichkeit, die Dannie mir gezeigt hat und keine Freundschaft?
„Ich … ich erinnere mich.“ Die Worte sind nicht existent. Sie dürfen nicht wahr sein. Ich rücke von Dannie ab und blicke in ihre tränenden Augen. Freude kämpft in mir mit Neid und Angst.
„An was erinnerst du dich?“, wage ich kaum zu fragen und muss es doch wissen. Wie es wohl ist, sich zu erinnern? Zu wissen, wer man war?
„Es ist ein Gefühl, … das ich nicht kennen sollte. Ich erinnere mich daran, wütend zu sein und zu hassen. Ich hasse den Hunger und bin wütend über die Ungerechtigkeit. Etwas Schlimmes ist passiert. Ich spüre Trauer in mir und so viel Hass.“ Während sie spricht, sehe ich die Schatten in ihren Augen tanzen. Ist das Wut oder Hass?
„Was … was ist passiert?“, frage ich zögerlich. Die Verantwortung wiegt schwer auf meinen Schultern. Meine Worte haben Dannies Damm gebrochen. Doch sie schüttelt den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Da sind Menschen um mich … ich … ich bin angekettet, kann mich kaum bewegen. Dann ist da nur noch Wut und Hass …“ Ihr kleiner Körper zittert unter meinen Händen.
„Versprich mir, dass du niemandem davon erzählst! Ich … ich habe Angst …“ Tränen steigen mir in die Augen, ich presse den kleinen, dünnen Körper an meinen.
„Ich verspreche es, Dannie.“ Sie weint in meinen Armen, bis das innere Licht ausgeht und wir wieder den Augen aller preisgegeben werden.
„Lass uns in unser Zimmer gehen, du ruhst dich aus und ich lese dir etwas vor“, sage ich und Dannie nickt. Ich nehme ihre kalte Hand und ziehe Dannie in Richtung unseres Quartieres.
Die anderen sind alle im Unterricht. Wir sehen sie in ihren Glasquadraten und sie sehen uns. Und ich wünsche mir nichts mehr als Dunkelheit, die uns verschluckt, die uns Schutz gibt vor den neugierigen Blicken. Ich mache mich so groß und breit wie möglich, will Dannie mit meinem Körper von den Blicken abschirmen, doch sie haben von allen Seiten Zugang und ich komme mir vor wie eine zweidimensionale Zeichnung in einer dreidimensionalen Welt.
Als wir endlich nach dem Spießrutenlauf in unserem Zimmer ankommen, helfe ich Dannie beim Entkleiden, decke sie bis zur Nase zu, setze mich auf die Bettkante und greife nach einem Buch, das ich vor wenigen Tagen in der Bibliothek gefunden habe. Ich war so glücklich, als ich herausgefunden habe, dass ich lesen kann. Es ist eine seichte Geschichte über einen kleinen Jungen, der von Planet zu Planet hüpft, auf der Suche nach Freunden.
Ich bin noch nicht sehr weit gekommen, als Sunshine ans Bett tritt. Ihr Gesicht ist voller Sorge.
„Was ist mit Dannie?“, fragt sie leise. Ein Blick verrät mir, dass Dannie eingeschlafen ist. Ich öffne den Mund, doch bevor die Worte herauspurzeln können, fange ich sie ein, verdrehe sie und höre mir selbst entsetzt zu, wie ich lüge.
„November hat doch in wenigen Tagen ihren Abschluss. Dannie hat Angst, dass wir sie nie wiedersehen werden. Ich … ich fühle mich auch etwas unwohl. Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt. Es ist schwer, jemanden gehen zu lassen.“ Meine Wangen brennen und ich kann Sunshine nicht in die Augen blicken. Ich habe in einem Monat nur wenige Sätze mit November gewechselt. Sie ist sehr distanziert und wirkt … leer, wie so viele andere. Wenn ich mir gegenüber ehrlich bin, freue ich mich ein wenig, dass sie bald nicht mehr da sein wird.
Sunshine setzt sich neben mich, nimmt mich in den Arm und streichelt mir über den Kopf: „Veränderung ist ein Teil unseres Lebens. Es muss nichts Schlechtes sein. November Sunday mag euren direkten Umkreis verlassen, aber sie macht auch Platz für jemand neues.“
Ich nicke und flüstere: „Danke!“, während ich nicht weiß, wie ich je wieder in den Spiegel blicken soll. Ich habe Sunshine angelogen. Ich habe eine der wichtigsten Regeln gebrochen.
Ich spreche die Wahrheit –
wird in einem Herzschlag zu –
Ich lüge.
Ich kann körperlich spüren, wie die Wahrheit aus mir fließt und die Lüge von mir Besitz ergreift. Es ist nur ein Korn, verglichen mit dem Sand in einem Stundenglas. Doch die Lüge frisst sich langsam an der Wahrheit satt, bis sie alles verseucht hat.
Sunshine drückt mir einen Kuss auf den Scheitel und lässt uns allein.
So allein man in einem gläsernen Käfig sein kann. Ich erschrecke über meinen Gedanken. Das hier ist mein Zuhause. Ich bin hier geboren, nicht eingesperrt.
Zweifel nagt an mir, als meine Augen Dannies Gesicht suchen. Darf die Wahrheit einem Versprechen geopfert werden? Wie weit kann ich gehen, um ein Versprechen zu halten, an dem meine erste Freundschaft hängt?
Etwas Dunkles in mir wird geboren. Ich kann es fühlen. Die reine Liebe, die ich seit dem ersten Lächeln für Dannie gespürt habe, wird trüb. Ein Schatten legt sich über sie. Was ist es? Ich grüble, forsche und analysiere.
Als ich zu einem Ergebnis komme, hüpfe ich entsetzt vom Bett, entferne mich von Dannie. Doch das Gefühl bleibt. Ich mache Dannie Vorwürfe. Ich bin ihr böse, weil sie mich in diese Situation gebracht hat. Sie ist schuld am Tod meiner reinen Wahrheit. Ich habe zum ersten Mal gelogen und fühle mich schmutzig.
Dannies Gesicht verzerrt sich. Sie wirft den Kopf hin und her. Schweiß tritt auf ihre Stirn. Ich schiebe die negativen Gefühle beiseite, nehme ihre Hand und streichle über ihren Kopf.
Ich helfe mit Freuden.
Kann ich nicht mehr sagen.
Ich helfe aus Pflichtgefühl.
Reicht das? Oder habe ich noch einen Teil meiner Reinheit verloren? Bin ich das schwarze Schaf in einer weißen Herde? Ich schäme mich, weil ich Dannie die Schuld gebe und kann doch nicht anders. Bin ich ein schlechter Mensch? Am liebsten würde ich mich auch in mein Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen. Mein hässliches Ich vor der Welt verstecken.
Die Tage kommen und gehen. Dannie wird immer blasser. Ihr bereits schlanker Körper schrumpft, die Schatten unter ihren Augen werden tiefer. Ich frage nicht mehr, woran sie sich erinnert. Fadenscheinig kann ich es Rücksicht nennen. Aber ich weiß es besser. Ich kenne meine dunklen Gefühle. Ich möchte es nicht wissen. Ich will nicht noch mehr lügen.
Eines Nachts wird es so schlimm wie nie. Dannie wirft sich hin und her, schreit. Als ich sie wachrüttle, schlägt sie um sich, flucht, wie ich es noch nie zuvor gehört habe.
„Dannie, bitte, komm zu dir! Ich will dir nur helfen.“
Die anderen schrecken ebenfalls hoch. Sie starren uns einfach nur an, rühren keinen Finger.
Diese verfluchten, gefühllosen Roboter, denke ich und stelle entsetzt fest, dass dieser Gedanke mir nicht neu ist, dass er von Anfang an in mir gelauert hat, um zum richtigen Zeitpunkt an die Oberfläche zu preschen.
Und jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Der Zeitpunkt für negative Gefühle wie Zweifel, Ärger, Unsicherheit. Ich fühle mich wie an dem Tag meiner Wiedergeburt. Einsam und unsicher. Ängstlich und zweifelnd. In einem Moment zerbricht mein sicherer Hafen, meine Hoffnungen und Träume auf eine ideale Zukunft. Der Traum von einer perfekten Gemeinschaft zerbricht an mir selbst. Wie kann ich nur so willensschwach sein?
„Nein! Sie wollen mir alles nehmen. Das Bisschen, das ich habe, wollen sie mir wegnehmen!“, schreit Dannie. Meine süße Dannie verzieht das Gesicht in Hass, Wut und Angst. Als hätte sich ein Monster in sie geschlichen und alles aufgefressen, was ich an ihr schätze. Ihre Lebensfreude, die Leichtigkeit ihres Lächelns und die Fröhlichkeit ihres Lachens. Es ist so einfach einen positiven Menschen zu mögen, sich mit ihm zu umgeben und sich von seinem Licht zu nähren. Doch wie soll ich ein Monster in meinem Herzen toben lassen? Es wird mich von innen heraus zerfetzen.
Dannie bäumt sich auf, ich nehme sie gewaltsam in meine Arme, versuche an meinen Gefühlen festzuhalten, in dem keifenden Wesen, das nach mir schlägt, meine Dannie zu sehen. Ihr Körper ist schwach, sie kann sich nicht lange wehren, liegt zitternd in meinen Armen und ich treffe eine Entscheidung.
„Holt Sunshine!“, sage ich zu niemand bestimmten.
Werden die Apathen reagieren? Mehr tun, als einfach nur zu existieren, und endlich handeln? Können sie Befehle ausführen? Ein hässlicher Gedanke kommt mir: Gibt es Rettung für leere Geister, die über ein Jahr nur Wärme, Licht und Liebe erfahren haben und doch nicht wachsen? Ich schrecke vor dem Gedanken zurück, als hätte ich mich verbrannt. Sie sind hilfsbedürftig, sie brauchen Zuspruch und Führung.
Bevor ich mich in meine Negativität steigern kann, kniet Sunshine neben Dannies Bett.
„Was ist nur los mit Dannie?“, fragt sie voller Sorge und ich würge die Wahrheit aus mir heraus: „Sie erinnert sich.“ Alle Farbe weicht aus Sunshines Gesicht und sie befielt in einem harschen Ton, den ich noch nie bei ihr gehört habe: „Raus! Alle raus!“ Die Mädchen eilen zur gläsernen Tür. Ich will aufstehen und ebenfalls gehen, aber Sunshine sagt: „Du bleibst hier, Oktober Montag!“ Ich verharre. Als die anderen alle draußen sind, drückt Sunshine etwas an ihrem Armband, das rot pulsiert und die Welt um uns herum wird schwarz.
Angst füllt mein Herz, als zusätzliche Lampen angehen. Es dauert, bis mein Gehirn versteht, was passiert ist. Die Glaswände haben sich verdunkelt, wie in den Badezimmern. Sie riegeln die Krankheit ab! Werden sie die verseuchten Zellen mitsamt Arm amputieren? Sorge webt ihr giftiges Netz um mein Herz. Bin ich Teil des Geschwüres? Wird man auch mich entfernen?
Männer in schwarzen Anzügen betreten den Raum, reißen mich von Dannie weg. Seit meiner Wiedergeburt sind es die ersten männlichen Wesen, die ich sehe und sie machen mir Angst. Ihre Gesichter sind ausdruckslos, wie die der anderen. Sie sind grob und kräftig. Ihre Hände tun mir weh.
Ich habe nichts Falsches getan, will ich schreien und weiß es doch besser.
„Bringt Oktober in den Verhörraum! Dannie ins Labor!“ Die Männer hören auf Mutter Sunshine, packen Dannie an Armen und Beinen, schleppen sie zur Tür.
„Nein!“, schreit Dannie. Ihre Stimme schneidet wie Messer in mein Fleisch.
„Du hast es versprochen, Mo! Du hast versprochen, es niemandem zu sagen!“ Sie tritt um sich. Dann trifft mich ihr Blick und sie wird ruhig. Das letzte, was ich höre ist: „Sie werden mich wieder töten und es ist deine Schuld, Mo.“
Ich zittere. Ich bin erleichtert. Ich habe die Wahrheit wieder. Doch der Moment des Glücks hält nicht an. Mir wird klar, dass ich Sunshine die Wahrheit nicht um Dannies Willen gesagt habe. Purer Egoismus war mein Führer. Ich wollte die Schuld los werden, das schlechte Gewissen.
Die Tür öffnet sich und anstatt in eine Welt aus Glas, starre ich auf schwarze Wände. Schwarz, die Farbe der Trauer. Ich heule auf. Etwas pikst mich im Nacken und die Welt wird dunkel, wie mit Ruß bemaltes Glas.
Als ich zu mir komme, schmerzt mein Kopf. Ich bin an einen Stuhl gefesselt. Wie am Tag meiner Wiedergeburt, saugen sich Elektroden in mein Hirn. Ein Scheinwerfer blendet mich. Ich höre das Rascheln von Kleidung.
„Mutter Sunshine?“, krächze ich. Wo ist meine Sicherheit? Wo ist meine ideale Welt? Ich bin im freien Fall und suche nach einem Netz, das mich auffängt. Wird Sunshine mich auffangen oder auf der kalten Erde zerschmettern lassen?
„Ich bin hier, meine Tochter“, erwidert sie mit kalter Stimme. Alle Wärme ist verschwunden. Was habe ich nur getan?
„Was passiert mit Dannie? Wo hat man sie hingebracht?“, frage ich und kneife die schmerzenden Augen zusammen.
„Wir kümmern uns um Dannie. Es wird ihr bald wieder gut gehen. Doch jetzt solltest du an dich denken.“
Ich huste.
„Wie lange weißt du, dass sie sich erinnert?“ Es ist Sunshines Stimme und doch nicht. Sie ist bar jeder Emotion. So habe ich sie noch nie erlebt. Angst schwappt über mich und ich reiße an meinen Ketten.
„Wie lange weißt du, dass sie sich erinnert?“, fragt Sunshine erneut.
„Ich … seit dem Tag … kurz vor Novembers Abschluss.“ Sunshine zieht die Augenbrauen zusammen, etwas wühlt in meinem Kopf.
„Du hast mich also angelogen.“ Enttäuschung kann ich nicht hören und doch erfüllt mich Scham, ich senke den Blick. Mit einem Finger hebt Sunshine mein Kinn an, zwingt mich, ihr in die Augen zu sehen.
„So jung, kaum wiedergeboren, und schon lügst du. Ist es doch nicht die Erfahrung, die uns verdirbt? Liegt es in unserem Erbgut?“ Sie runzelt die Stirn.
Scham wird zu Schmerz und ich weine. Ich bin unrein, verdorben. Unter Schluchzen zwänge ich hervor: „Ich wollte nicht lügen … aber … Dannie … ich habe es ihr versprochen.“
„Du willst aus Freundschaft gelogen haben?“, fragt die Frau, die ich Mutter nenne, eiskalt.
„Ich wollte es nicht. Ich habe mich so schlecht gefühlt. Es tut mir leid!“ Ich kann die Tränen nicht aufhalten. Mein Körper zittert.
„Was wird jetzt aus mir?“ Flehentlich suchen meine Augen nach Trost und ich bekomme ihn, als Sunshines Hand über mein Haar streichelt. Es ist eine kleine Geste, die mir so viel bedeutet. Ich würde alles tun, um wieder von dem warmen Gefühl der Sicherheit umhüllt zu werden.
„Ich muss dich bestrafen. Auch wenn es aus Freundschaft war, hast du gelogen. Die Lüge ist eine Seuche, die sich von Vertrauen ernährt. Du wirst mit dem Gedanken leben, dass ich dir nicht mehr vertraue. Jedes deiner Worte anzweifle. Auch deine Schwestern werden jede deiner Aussagen mit Vorsicht behandelt.“ Ich schluchze lauter, weine heftiger. Was habe ich nur getan? Ich habe die Wahrheit in mir getötet und habe Dannies Leiden nur verlängert, anstatt ihr zu helfen.
„Wirst du wieder lügen?“ Ich schüttle eifrig den Kopf und schreie fast: „Nie wieder! Ich werde nie wieder lügen!“
„Und warum?“ Verwirrt sehe ich Sunshine an.
„Warum wirst du nicht mehr lügen?“, wiederholt sie.
„Lügen gebären Lügen. Sie machen unrein und vergiften Geist und Seele. Sie fressen die Wahrheit und bringen am Ende nichts als Trauer.“ Die Worte kommen aus meinem Herzen. Sunshine scheint zu frieden. Sie nickt, lässt von meinem Kinn ab.
„Das ist gut, meine Tochter. Gut! Doch ich muss dir noch ein paar Fragen stellen. Ich hoffe inbrünstig, dass du mir die Wahrheit sagst.“ Ich nicke eifrig, erfüllt von dem Wunsch zu gefallen.
„An was hat Dannie sich erinnert?“ Stille folgt. Ich durchsuche mein Gehirn.
„Sie … sie hat nicht viel gesagt. Nur, dass sie sich an Gefühle erinnert. An Wut und Hass“, erwidere ich zögernd.
„Mehr nicht?“, fragt Sunshine zweifelnd und als ich den Kopf schüttle, spüre ich, wie etwas in meinem Gehirn herumtastet.
„Mehr nicht?“, wiederholt Sunshine und ich sage: „Nein, nur das.“ Verstehend nickt Sunshine.
„Gefühle sind stark und häufig irrational. Ihr altes Ich muss sehr intensiv gehasst haben und voll gewesen sein mit Wut. Nur so kann ich mir das Überbleibsel erklären. Aber keine Angst, Dannies Geist wird gereinigt.“ Ein Funken Hoffnung keimt in mir. Dannie wird mich wieder fröhlich anlächeln. Tief in mir bewegt sich das Licht, das ich nicht fassen kann, lacht mich leise aus.
„Ich lasse dich wieder zurück zu deinen Schwestern. Deine Strafe werden ihre Blicke sein. Außerdem wirst du solange nicht wieder ‚Ich spreche die Wahrheit‘ mit uns sagen, bis ich dir wieder vollkommen vertraue. Es wird dich und die anderen daran erinnern, dass du gelogen hast.“
Ich nicke ergeben. Ich habe diese Strafe verdient.
Sunshine macht die Ketten los und ich folge ihr beschämt mit hängendem Kopf. Nicht einmal der Anblick des Glaslabyrinthes mit seinen unzähligen Rolltreppen kann mich bewegen. Ich fühle nichts außer Scham.
Es vergehen drei Wochen, in denen Dannie nicht wiederkehrt. Dauert eine Wiedergeburt so lange?
Jeden Tag, der verstreicht, ziehe ich mich tiefer in mich selbst zurück. Die anderen bedenken mich nicht mit verachtenden Blicken. Sie beachten mich überhaupt nicht. Als wäre ich weniger als Luft. Und mir wird zum ersten Mal bewusst, dass es Dannies Wärme und Freundlichkeit gewesen sind, die es mir leicht gemacht haben, mich hier einzuleben.
Ohne Dannie erscheint mir die Welt kalt, leer und gleichgültig. Nur Sunshine lächelt und strahlt. Doch der Argwohn in ihren Augen erinnert mich an meinen Frevel. Ich fühle mich leer und sehne den Tag herbei, an dem Dannie wiederkommt. Doch sie kommt nicht. Eintausend Mal öffne ich den Mund, will nach Dannie fragen und schließe ihn, ohne dass ein Laut entkommen kann.
Es ist an einem langweiligen Tag, während dem Mittagessen. Mein üblicher Platz, abseits von meinen Schwestern, ist besetzt und ich muss weit durch das Meer von Weiß laufen, bis ich ein freies Fleckchen finde. Ich setze mich und esse lustlos, verabscheue mich für meine eigene Undankbarkeit. Mein Teller ist leer, als ich aufblicke und das Mädchen mir gegenüber ansehe. Meine Lungen schreien nach Sauerstoff, doch ich kann nicht atmen.
Dannie! Sie sieht anders aus. Ihre Schultern sind nach unten gesunken, sie sitzt seltsam gebeugt da, doch es sind ihre wilden Locken und ihre feinen, schmalen Finger, die so gekonnt stricken, häkeln und nähen können.
„Dannie!“, rufe ich und erhalte keine Reaktion. Automatisch greift meine Hand nach ihrer. Der Kopf hebt sich und ich erwarte den gerechtfertigten Vorwurf. Doch was ich sehe, ist wie ein Tritt in die Eingeweide. Dannies Augen sind leer. Keine Fröhlichkeit, kein Glitzern. Als hätte jemand ein T-Shirt zu oft gewaschen und über Tage in der brennenden Sonne hängen lassen, das einstige Himmelblau zu einem Blaugrau verwaschen und ausgebleicht.
Sie wollen mir alles nehmen. Das bisschen, das ich habe, wollen sie mir wegnehmen!
Dannies angsterfüllte Worte ziehen sich wie die Krallen eines Raubtieres durch mein Gehirn.
Du hast es versprochen, Mo! Du hast versprochen, es niemandem zu sagen!
Die Erleichterung, als die Wahrheit aus mir herausbricht, malt meine Welt dunkel.
Sie werden mich wieder töten und es ist deine Schuld, Mo.
Die Bedeutung von Dannies letzten Worten erreicht mein Gehirn.
Ich will schreien, doch meine Hände fangen jeden Laut auf. Meine Beine tragen mich immer schneller, immer weiter weg von der Puppe, die einst Dannie gewesen ist. Ich habe das Dannie angetan. Ich bin schuld, dass Dannie tot ist. Sie haben meine Dannie getötet und nur eine leere Hülle übriggelassen.
Ich eile durch gläserne Gänge. Die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Ich fühle, wie sich die Treppen unter meinen Beinen bewegen. Doch ich eile weiter. Weg, ich muss weg. Ich fliehe vor Dannies leeren Augen, will der Schuld fortlaufen. Doch je schneller ich bin, desto enger presst sie sich an meine Brust, umgarnt mich. Ich taumle durch eine Tür, laufe einen langen Gang entlang, stolpere über meine eigenen Beine und falle.
Der Aufprall schmerzt und ich heiße den Schmerz als Strafe willkommen, bleibe liegen und weine. Wie lange ich daliege, weiß ich nicht, als ich plötzlich eine freundliche Stimme höre.
„Geht es dir nicht gut? Kann ich dir helfen?“
Ich wische mir die Tränen von den Wangen, richte mich auf und blicke in tiefe blaue Augen. Wärme strahlt aus ihnen und Mitgefühl. Ich greife nach der dargebotenen Hand, als das Mädchen die Augen aufreißt und mich mit Entsetzen anstarrt. Als ich ihrem Blick folge, lande ich bei meinem weißen Armband. Schnell zieht sie ihre Hand zurück, greift nach ihrem Handgelenk. Ihr Armband hebt sich leuchtend rot von ihrer hellen Haut ab.
„Du … bist eine von ihnen! Du bist eine Mörderin!“, flüstert sie leise, dreht sich um und rennt. Mein Herz krampft sich zusammen. Was hat das zu bedeuten? Wie kommt sie darauf, dass ich eine Mörderin bin? Ich habe niemandem etwas getan! Ich bin … Mein Blick fällt auf mein Armband und etwas in mir weiß, dass das Mädchen recht hat.
…Tröste dich damit, dass es deine freie Entscheidung war. Du wolltest einen Neuanfang … hallen Sunshines Worte in mir, während ich in Gedanken wieder und wieder erlebe, wie Dannie sich gegen die Männer wehrt. Dannie hatte die Wiedergeburt nicht gewollt. Und etwas in mir flüstert von einem alten Ich, das nicht sterben wollte. Das sich so sehr an eine Erinnerung krallte, dass es selbst die Wiedergeburt überlebt hat.
Das Licht in mir flackert auf. Jetzt in diesem Moment ist es in Reichweite, doch ich fürchte mich, verstecke mich vor einer Realität, die ich nicht anerkennen will. Ich mag die Welt, die Sunshine für mich gemalt hat. Eine Welt, in der niemand lügt, betrügt, anderen schadet … doch je fester ich mich an diese ideale Welt klammere, desto schneller zerrinnt sie in meiner Hand.
Das erste, was mir in dieser idealen Gesellschaft erzählt worden ist, war eine Lüge. Es ist unser Wille. Dannie hat es nicht gewollt. Meine Hand zittert, als mir klar wird, dass ich es nicht gewollt habe. Wahre Schuld überschwemmt mich und ich verstehe nicht nur die Bedeutung von Verrat, ich empfinde ihn. Ich habe meine einzige Freundin für eine falsche Erleichterung eines Gewissens verkauft, das nur eine Farce ist.
Ich starre auf meine Hände und frage mich, wen ich getötet habe, um das weiße Armband zu verdienen. Meine Augen wandern von meinen schuldigen Händen, die sich nicht erinnern, den Boden entlang und suchen Glaswände, finden jedoch nur weiße Wände. Wo bin ich? Ich höre Schritte, renne zu einer Tür und finde mich in einer Toilette wieder. Schnell eile ich in eine Kabine und schließe hinter mir ab.
Der eigene Atem raschelt in meinen Ohren, als ich höre, wie die Tür geöffnet wird und Stimmen mein Röcheln überdecken.
„Hast du Claudia gesehen? Sie glaubt doch wirklich etwas Besseres zu sein, nur weil sie ein schwarzes Armband trägt.“
„Nun, sie ist etwas Besseres …“
„Nur weil ihre Eltern Geld haben, macht sie das nicht zu etwas Besserem!“
„Sie haben ihr verbessertes analytisches Denken und Zahlenverständnis gekauft.“
„Sie hätten ihr Bescheidenheit implantieren lassen sollen. Was der Kuh fehlt, ist nicht analytisches Denken, sondern Menschenverstand und ein Herz!“
„Du bist doch auch …“ Ein Lachen klingt in dem Vorwurf mit.
„Haha … erwischt“, erwidert die andere und legt die Gehässigkeit wie eine zweite Haut ab, „lass uns über etwas anderes reden. Hast du mitbekommen, dass Maria vorhin rumgeschrien hat, es sei eine White hier? Bei uns im siebten Stock! Lächerlich! Die würden doch keine Mörder hier einfach hochlassen. Wir bezahlen gutes Geld, um Verbesserungen vorzunehmen. Die würden nie wagen, uns mit solchem Dreck in Berührung kommen zu lassen.“ Ihre Worte sind hart, treffen mich in meiner verwundeten Brust. Doch in der Stimme ist keine Gemeinheit zu hören.
„Ist Maria nicht eine Red?“, fragt die zweite nachdenklich.
„Ja, sie ist hier, weil sie die Erinnerung, ein Opfer gewesen zu sein, auslöschen will. Aber es scheint sich bei ihr, um einen schwierigen Fall zu handeln. Wenn sie sich auch nicht mehr daran erinnert, was passiert ist, wird sie die Angst nicht los.“ Höre ich nach den kalten Worten Sympathie in der Stimme des gehässigen Mädchens?
„Ja, Gefühle sind schwerer auszulöschen als Erinnerungen. Es ist wirklich nicht fair. Wenn man bedenkt, dass die Verbrecher sich an ihre Taten nicht mehr erinnern und einfach so weiterleben. Sie dürfen sogar einen Neuanfang machen, während die Opfer immer wieder unter unerklärlichen Panikattacken leiden.“ Mein Herz schlägt hart gegen meine Brust, es schmerzt und ich bin mir sicher, dass es jeden Moment aus mir herausbluten wird. Ich presse beide Hände dagegen, will es beruhigen und daran hindern mich zu verlassen. Mein Gehirn fühlt sich taub an, weigert sich das Gehörte zu verarbeiten.
Ist meine ideale Welt eine Lüge? Ist nichts, was ich geglaubt habe, wahr? Übelkeit breitet sich in meinem Magen aus, meine linke Hand umklammert mein rechtes Handgelenk und streichelt sanft über die Unebenheiten der Haut, ertastet die Narben. Ich wünschte, ich wäre nicht mehr, würde mich auflösen und nicht mehr existieren.
„Aber das Gute ist, dass sie unter Aufsicht sind und für immer hier eingeschlossen. Wenn unsere Behandlung fertig ist, dürfen wir wieder zurück in die Gesellschaft. Die White bleiben hier. Man sagt, dass sie aussehen wie Geister und einigen schon so oft Erinnerungen gelöscht wurden, dass sie nur noch vor sich hinstarren und sabbern können.“ Ein fröhliches Lachen folgt den harten Worten.
Dannies leere Augen, die ich versucht habe zu verdrängen, erfüllen mich. Kann die Zeit wieder Licht in ihre Augen bringen? Noch habe ich niemanden gesehen, der wahrhafte Besserungen gezeigt hat. Ich fange mit einer Hand ein Schluchzen auf, als mir wieder Tränen die Wangen herunterlaufen und ich wünschte, sie könnten meine Schuld wegspülen.
„Dass das nötig ist, zeigt nur, dass ihre Schlechtigkeit in ihnen verwurzelt ist. Anstatt, dass man sie hinrichtet, gibt die Gesellschaft horrende Summen aus, um ihnen ein gewaltfreies Leben zu ermöglichen. Wenn man bedenkt, was so ein Eingriff kostet …“ Die Tür schlägt zu und mein Inneres explodiert unter dem Einschlag eines Meteoriten, der meinen Kern erschüttert und Löcher in meine sündige Seele reißt.
Sie haben uns angelogen. Die Wahrheit hat nie in meiner idealen Welt existiert. Wir sind nicht freiwillig den Weg der Wiedergeburt gegangen. Wir sind verurteilte Verbrecher. Meine Hände zittern, als ich auf sie herabblicke. Was habe ich getan? Wessen Blut klebt an mir? Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht laut zu schreien, um nicht laut zu lachen. Es gibt keine Gleichheit. Wir werden hier festgehalten, damit wir mit unserer Existenz nicht die Gesellschaft verpesten.
Ich habe Angst vor mir selbst und doch steigt in mir ein unstillbarer Hunger hoch. Ich muss wissen, was ich getan habe. Und ich muss wissen, wie die Welt da draußen aussieht. Eine Welt ohne Glaswände. Ein Wort kommt mir in den Sinn, poppt aus dem Nichts auf: Freiheit. Ich will wissen, wie Freiheit schmeckt, wie sie sich anfühlt.
Ich bin fassungslos über meinen Egoismus. Die Trauer um Dannie und die Schuld an ihrem geistigen Tod werden verdrängt von der Angst vor mir selbst, von dem Wunsch nach Freiheit. Bin ich wirklich eine lügende, egoistische Mörderin?
Lange bleibe ich auf der geschlossenen Toilette sitzen. Weine lautlos um eine ideale Welt, in der ich gerne gelebt hätte. Irgendwie schaffe ich es, ungesehen zurück ins gläserne Rolltreppenlabyrinth. Da ich vorher hochgefahren bin, laufe ich gegen die Fahrtrichtung herunter, muss nur etwas schneller sein als die Treppe. Ich finde einen Ruhepol in all dem sinnlosen Rotieren, rolle mich zu einer Kugel zusammen und warte.
Es dauert nicht lange, bis Sunshine auftaucht. Sie blickt auf mich herunter, ohne etwas zu sagen. Meine Augen fressen sich kurz an dem Weiß ihres Armbandes fest. Weiß sie, was die Nichtexistenz von Farbe bedeutet? Weiß ist keine Farbe. Sie ist die Abwesenheit von ihr. Und so sollen wir sein. Neugeboren, um neu beschriftet zu werden.
Ich stehe auf und sage mit verheulten Augen: „Ich habe mich verlaufen.“ Sunshine starrt mich weiterhin nur an, wartet auf eine Erklärung, eine Wahrheit, die sie vermutlich nicht verkraften könnte. Oder weiß sie es? Könnte sie uns wirklich lieben, wenn sie es wüsste? Könnte sie so viel Freundlichkeit und Liebe ausstrahlen, wenn sie wüsste, dass ihre eigene Seele sündenbeladen ist? Ich gebe ihr so viel Wahrheit, wie ich kann.
„Ich … bin Dannie begegnet. Sie hat mich nicht erkannt.“ Verständnis leuchtet mir entgegen. Ich senke den Kopf und Sunshine nimmt mich in den Arm. Trotz allem, was ich heute erfahren habe, gibt mir ihre Berührung Geborgenheit.
„Wir können dir einen schmerzlosen Neuanfang schenken, wenn du es möchtest.“ Ich schüttle den Kopf und spreche die Wahrheit: „Es wäre schön, wenn Dannie ein wenig länger in mir weiterlebt.“ Meine Gedanken gelten dem fröhlichen, lächelnden Mädchen, das mich so herzlich willkommen geheißen hat. Dem Mädchen, das zu meiner ersten Freundin wurde. Und ich erkenne die Schwere der Strafe, die uns auferlegt wurde für Sünden, an die wir uns nicht erinnern.
Sie haben uns unsere Erinnerungen genommen.
Unser Ich getötet.
Alles ausgelöscht, was uns ausgemacht hat.
Wie kann ich solch eine harte Bestrafung akzeptieren, wenn ich das Verbrechen nicht kenne, das ich begangen habe? Es muss da draußen jemanden geben, der sich an mein altes Ich erinnert. Jemand der mich vielleicht einmal gemocht hat … oder sogar geliebt? Das kleine Licht in mir, das sie nicht löschen konnten, zuckt unruhig bei diesem Gedanken hin und her. Und ich bin entschlossen, zu finden, was sie mir genommen haben. Berechtigt oder nicht.