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Kapitel 05 - Verlorene Wärme

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Wieder weckt mich ein unbekannter Geruch. Ich setze mich vorsichtig auf und stoße mit meiner Hand … gegen meinen Rucksack. Onmma hat Wort gehalten.

„Ich dachte schon, du verschläfst das Mittagessen. So wertvoll Schlaf auch ist, so nötig ist Nahrung für die Regeneration des Körpers.“

Ich suche die Person zur Stimme und entdecke Kirril nahe dem Ofen. Er schiebt sich mit der Hand dampfendes Essen in den Mund. Der fremde Geruch ist Essen?

„Hier! Das ist deine Portion. Onmma hat sie einfach aus den Anteil der anderen genommen. Es ist Reis mit Ziegenfleisch in einer würzigen Soße. Die Einheimischen sagen Dal Bhat dazu. Ich habe für dich einen Löffel auftreiben können. Hier isst man normalerweise mit der Hand.“

Ich nicke dankend und mein Magen schreit nach Essen. Eilig befreie ich mich aus der Decke und robbe zu der warmen Mahlzeit, so gut es mit einer Hand eben geht. Ich will vorsichtig sein, mich herantasten. Doch stattdessen falle ich darüber her wie ein Tier, stopfe den warmen Reis mitsamt dem Fleisch in den Mund und ersticke fast, als ich versuche alles zu schlucken.

Kirril lacht mich aus, reicht mir eine Flasche und ich gieße schnell nach. Husten schüttelt mich und es dauert, bis sich meine Atmung beruhigt hat und ich darüber nachdenken kann, wieder etwas zu essen.

„Niemand macht dir deine Portion streitig. Du kannst in aller Ruhe essen.“

Ein Schmunzeln in seiner Stimme lacht mich aus und meine Wangen brennen. Ich versuche mich zu zügeln und das Essen zu genießen. Der Geschmack ist neu. Ich erinnere mich nicht daran, dass wir jemals Fleisch in der Anstalt bekommen haben.

„Wie … wie ist es in dem Refugium? Behandeln sie euch gut?“, fragt Kirril nach einer Weile zögerlich.

Ich schlucke das herunter, was es in meine Mund geschafft hat und denke laut nach: „Sie … kümmern sich um uns. Wir bekommen zu essen, wir frieren nicht. Für alles ist gesorgt. Regelmäßiger Unterricht richtet sich nach unseren Bedürfnissen. Wir leben in Gruppen. In jeder Gruppe sind zwölf Mädchen oder Frauen.“

„Das hört sich doch gar nicht schlecht an. Warum bist du geflohen?“, fragt Kirril.

„Ich … ich wurde hinausgejagt, von jemandem, den ich in der Vergangenheit verletzt habe“, sage ich vorsichtig.

„Würdest du denn zurück wollen? In die Anstalt meine ich. Wenn du die Wahl hättest.“

Ich denke über Kirrils Worte nach und schüttele den Kopf, finde in mir die Antwort, die ich gesucht habe.

„Ich möchte die Welt sehen, die außerhalb dem Glas liegt. Ich möchte herausfinden, wer ich war und wer ich jetzt bin.“

„Ist das nicht dieselbe Person?“, fragt Kirril leise.

„Ich weiß es nicht“, sage ich laut und hoffe, dass es nicht so ist. Dass ich jemand anderes sein kann, als eine verurteilte Mörderin.

„Was würde mit dir passieren, wenn sie dich zurückbringen?“ Kirrils Augen und Ohren saugen hungrig alles an Information in sich auf, was ich ihm gebe. Kann es bloße Neugier sein? Interesse an einem Leben, das so anders ist als das hier?

„Man wird mir vermutlich die Erinnerungen nehmen und versuchen mich wieder ins System zu integrieren.“ … Wenn Cailan mich nicht vorher tötet. Meine Gedanken wandern zu Dannies leeren Augen und ich schließe meine Lider.

„Du bist sicher noch müde, ich lasse dich schlafen. In fünf Stunden gibt es Abendessen“, sagt Kirril und erhebt sich.

Ich flüstere ein Danke und denke darüber nach, ob die Männer hier nichts weiter machen als schlafen und essen. Und selbst wenn, wäre das so schlimm? Was müsste es mehr geben? Was könnte es mehr geben? Onmma hat von Familie gesprochen. Die Männer hier haben keine. Sie verstecken sich vor einem System, das mir die Erinnerungen genommen hat. Die Erinnerungen an einen Mord. Ich zucke unter dem Gedanken zusammen und liege einfach nur mit geschlossenen Augen da, gehe auf in dem Schmerz meiner Schulter und meiner Beine.

Heißt leben leiden? Schmerzen ertragen, den Hunger stillen … schlafen?

Als die Sonne langsam untergeht, kommen die Männer wieder ins Haus. Sie zünden den Ofen an. Ich sitze in einer Ecke und versuche unsichtbar zu werden. Ab und an wirft man mir einen seltsamen Blick zu. Doch ansonsten ignorieren mich die Männer. Ich studiere ihre Bewegungen, ihre Mimik. Sie sind so anders als die neugeborenen Frauen, als Mutter Sunshine.

Sie sind grob zueinander. Lachen laut, rülpsen und beleidigen sich am laufenden Band. Sie sind anders als Cailan. Ich denke an seine dunklen Augen, die sich in mich fressen, erinnere mich an die sanften Berührungen, von denen ich mir mehr gewünscht habe. Doch alles, was Cailan in sich trägt, alles, was er mir geben kann, ist Hass. Gerechtfertigter Hass.

Meine Augen finden Kirril, der um einen Baumstamm mit anderen Männern sitzt. Sie lachen, werfen Würfel, klopfen sich auf die Schultern und Gegenstände wechseln ihren Besitzer. Ein Wort kommt mir zugeflogen: Glücksspiel. Die Männer spielen um das Bisschen, das sie besitzen … für die kleine Chance, mehr zu besitzen? Ich verstehe es nicht wirklich und bin doch fasziniert von all den Gefühlen, die über die Gesichter tanzen. Freude, Ärger, Belustigung, kurz aufwallende Wut, Schadenfreude, … die Gefühle wechseln sich so schnell ab, dass ich ihnen nicht folgen kann.

Es ist befremdlich. Es macht mir Angst. Und doch kann ich nicht genug davon bekommen, kann meine Augen nur von einem Gesicht zum nächsten tanzen lassen.

„Sie sind grob, ungehobelt und haben keine Manieren. Aber es sind gute Männer. Sie wissen nicht, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollen.“ Kirril sitzt plötzlich neben mir.

Ich bin so fasziniert von dem Schauspiel, das sich mir bietet, dass ich nicht merke, wie nahe er mir ist, bis ich seine Körperwärme spüre. Überrascht drehe ich mich um und blicke ihm direkt in die Augen. Der Feuerschein der Kerzen fängt sich in dem hellen Blau seiner Iris, tanzt fröhlich in der Farbe des Himmels. Unsere Schultern berühren sich. Kirrils Nähe ist mir nicht unangenehm und doch pocht mein Herz schneller.

Mein Blick fährt zu seinen Lippen und verliert sich in dem Bogen der Freude. Wie kann so eine kleine Geste meinen Puls zum Rasen bringen? Als seine Hand zu meinem Gesicht fährt und mir eine Strähne aus der Stirn streicht, halte ich still, wage es nicht zu atmen. Kirrils Gesicht kommt näher und mein Körper reagiert ohne mein Zutun. Kirrils Hand fährt zu meiner Wange und ich hebe ihm mein Gesicht entgegen, begegne seinem suchenden Blick. Ich tauche ab in der Tiefe seiner Augen, werde gefangengenommen von dem Gefühl seiner Finger auf meiner Haut.

Dann werden seine Augen dunkel. Schwarz überschwemmt Blau. Leises Interesse wird zu Begierde und Lust. Besitzergreifend und wütend.

Ich schrecke zurück, schaffe mit wenigen Bewegungen Platz zwischen uns und starre Kirril erschrocken an. Mein Herz klopft immer noch schnell, doch es ist Angst, die es in einen Dauerlauf schickt, es jagt und daran erinnert, wem diese Hülle gehört und wozu sie bestimmt ist. Und das alles wegen den Entscheidungen einer Person, die ich nicht mehr bin.

Der Körper und mein jetziges Ich, so jung es auch sein mag, nicht mehr unschuldig, sind Wild, das gejagt und erlegt wird als Sühne für die Sünde von Anuva. Ein altes Ego, an das ich mich nicht erinnere. Ich weiß, dass mein Gehirn mir einen Streich spielt, dass Kirril nicht Cailan ist. Doch selbst diese kleine Berührung seiner Hand hat ein Band zwischen uns geschaffen, die uns unwiderruflich verbindet.

Was hätte ein Kuss bewirkt? Ein Kuss … Lippen auf Lippen. Ich blicke wieder zu Kirrils Mund, frage mich, wie es sich anfühlen würde, seine Lippen sanft auf meinen, meine fest auf seine gepresst.

Ein Kuss … eine Berührung, die tiefer geht als ein Blick, ein Band der Zuneigung. Ich mag Kirril. Sein Lächeln ist voller Freude, seine Worte quellen über mit Freundlichkeit und ich finde ihn schön, möchte, dass er in mir etwas entdeckt, das er schön finden kann. Er ist hilfsbereit und anstatt mich zu ignorieren, wie die anderen Männer, zieht er mich mit Zuvorkommenheit in seinen Bann. Er sucht meine Nähe und ich will mehr davon, bin verführt von dem leisen Versprechen von Wärme, Zuflucht und Sicherheit.

Und wieder denke ich an das Brennen in Cailans Augen und baue eine unsichtbare Mauer zwischen Kirril und mir, panzere mein Herz und weigere mich, meiner Sehnsucht nachzugeben. Das hier ist nur eine Zwischenstation. Ein Moment, in dem ich tief einatmen kann, ohne die Angst verbrannt zu werden.

Mehr nicht.

Ich muss noch heute Nacht in die Kälte hinaus. Ich darf Kirril nicht in Gefahr bringen. Mein Herz sagt mir, dass Cailan nicht davor zurückschrecken würde, Kirril seinem Zorn und seiner Wut zu opfern, in der Hoffnung mehr Befriedigung zu erfahren, auf dass sein Hass in sich selbst verbrennt.

Ich glaube Enttäuschung in Kirrils Augen zu sehen, doch er respektiert den Abstand zwischen uns, erhebt sich wortlos und lässt mir mehr Raum. Zu viel freier Platz um mich herum in einer überfüllten Hütte. Ich rolle mich zusammen und vertraue mich den Geräuschen an, lasse mich wie ein Kind von Lachen, Gegröle und Flüchen in den Schlaf wiegen. Ein seichtes Dösen, in dem ich versuche Kraft zu schöpfen für das, was vor mir liegt. Eine Wärme erfüllt mein kaltes Herz und ich bin froh, dass mir dieser Augenblick geschenkt wird.

Ein Geschmack von Wärme und Sicherheit, von dem Ansatz einer Romanze. Die Idee von einem Leben ohne Glaswände, ohne Schuld. Der Gedanke, dass ich all das nicht haben kann, wird groß und zerschneidet wie Rasierklingen diesen Haucht von einer Möglichkeit und verwandelt ihn in einen unerreichbaren Traum. Ich versuche loszulassen und den Wunsch abzuschütteln, das alles für immer in mich aufzusaugen und ein Teil dieser Welt zu werden.

Das kleine Glück dieser Gruppe kann ich nur bewahren, wenn ich die Möglichkeit aufgebe und sie als Traum in mir einschließe.

Und so warte ich, bis das Gelächter leiser wird, Stille und schließlich Schnarchen überwiegen. Die Hütte wird nur von dem Schein der glühenden Kohlen im Ofen erleuchtet. Ich hänge meinen Rucksack über die gute Schulter und wickle mich in die geliehene Decke. Meine Hände tasten sich die grobe Holzwand entlang und ich schreite durch die Tür der Kälte entgegen, der Einsamkeit ... und bin doch nicht alleine. Über mir leuchten die Sterne aufmunternd für mich. Unendlich weiter als der blaue Himmel. Mehr Tiefe als mein Herz vertragen kann. Plötzlich komme ich mir klein vor und unbedeutend. Dieser Gedanke hat etwas Tröstendes. Ich ziehe die gestohlene Decke enger um mich und stapfe los. Wohin? Ich weiß es nicht.

Von der kleinen Hütte führt ein schmaler Pfad fort. Es ist dumm und einfältig, aber ich folge ihm, so gut es geht in der Dunkelheit. Mein Herz ruft leise Kirrils Namen zum Abschied und flüstert mir das Gefühl einer verpassten Umarmung zu, eines in Angst zerflossenen Kusses. Der Gedanke, nicht allein sein zu müssen, ist schön und schmerzhaft zugleich. Ich halte mich an ihm fest. Es gibt jemanden, der an meiner Seite sein wollte. Doch Onmma hat recht. Ich kann Kirrils Leben nicht auch noch auf meinen Schultern tragen. Er kennt mich nicht, weiß nicht, warum ich bestraft wurde. Diese kurze Zeit in Ruhe und Wärme ist mehr, als ich verdiene.

Mein Blick fällt auf mein Armband und ich komme mir töricht vor. Es hat bestimmt einen Peilsender. Meine klammen Finger ziehen. Harte Kanten bohren sich in meine Haut, aber ich zerre weiter. Blut tropft in den Schnee, doch es will nicht reißen. Ich umklammere es, als wäre es mein Leben.

Ich muss schnell weg von der Hütte. Die Männer haben mir mein Leben gerettet. Ohne sie wäre ich im Schnee erfroren. Und wie habe ich es ihnen gedankt? Ich habe ihnen eine Decke gestohlen. Was auch immer war, jetzt bin ich eine Lügnerin und eine Diebin.

Meine Finger bohren sich tief in den rauen Stoff der Decke. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Die Sterne sind mein einziger Lichtquell. Lange laufe ich und als die ersten Sonnenstrahlen die schneebedeckten Berggipfel küssen, schreckt mich ein lautes Knurren aus meiner Lethargie.

Ich zucke zusammen und es vergehen Minuten, in denen mein Herz aus der Brust zu springen droht, bis ich bemerke, dass es mein Magen ist, der diese Geräusche macht.

Hunger … ich habe Hunger. Ich denke an mein Gespräch mit Dannie und heiße Tränen kullern über meine Wangen. Ich sinniere über die ideale Welt, an die ich damals noch geglaubt habe, trauere um eine Freundin, deren freien Geist und Fröhlichkeit ich mit wenigen Worten getötet habe. Wie konnte ich je so dumm sein und an diese ideale Welt glauben?

In meinem Schmerz gefangen, bemerke ich ihn zu spät.

„Ich wollte dir nicht aus Nächstenliebe helfen, Mo.“

Ich schrecke zusammen und wirble herum. Hinter mir steht Kirril. Ich weiche vor der Dunkelheit zurück, die in seinem Gesicht lauert. Seine Lippen umspielt ein Lächeln. Wie kann derselbe Mund, den ich so gerne berührt hätte, hier und jetzt grausam wirken? Wo ist die Unschuld hin?

„Was willst du von mir, Kirril?“, frage ich zögerlich, vorsichtig, kann nicht glauben, dass es derselbe Mensch ist, der meine Füße verarztet und sein Essen mit mir geteilt hat.

„Du wirst mich zum Refugium begleiten.“

Ich weiche bei seinen Worten zurück. Dort erwartet mich im besten Fall eine Löschung. Und als der Schmerz in meiner verbundenen Schulter wütet, weiß ich nicht, ob ich das wirklich schlimm finde.

„Ist ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt?“, frage ich leise und Kirril … lacht.

„Sei nicht albern. Ich will dich nicht ausliefern. Ich brauche deine Hilfe.“

Doch alles an ihm sagt mir, dass er mich nicht um Hilfe bittet. Er fordert sie ein und würde nicht vor Gewalt zurückschrecken. Wohin ist der süße Junge mit den Grübchen verschwunden? Versteckt er sich unter dem grausamen Bogen der Dunkelheit oder hat er nie existiert?

„Meine Hilfe?“ Wie kann ich irgendjemand bei irgendetwas nützlich sein?

„Ich muss in die Anstalt. Und du weißt, wie man rauskommt, also auch wie mein reinkommt.“

Ich werde blass und mir wird schlecht. „Warum willst du dort rein?“, frage ich und weiche einen Schritt zurück, kann sehen, wie sich Kirril anspannt, bereit mir jeden Fluchtweg abzuschneiden.

„Sie … sie haben meine Schwester.“

Ich vergesse, wie man atmet. Eine Schwester. Eine von den Insassinnen hat einen Bruder, der sie retten will. Gibt es jemand da draußen, der mich, wenn auch nicht retten, vielleicht wiedersehen will? Liege ich irgendjemandem am Herzen, trotz meiner Schuld? Ich blicke auf mein blutverschmiertes Armband.

„Welche … wie wurde deine Schwester eingestuft?“, flüstere ich und die Zeichnung des Rolltreppenlabyrinths brennt in der Innenseite meines BHs.

„Sie … sie haben sie zu einer White erklärt. Sie haben uns angelogen. Sie haben gesagt, wenn Mira sich stellt, dann würde sie mildernde Umstände bekommen. Man sagte, sie hätte aus Selbstverteidigung gehandelt und würde die mildeste Strafe bekommen. Sie würden ihr als Blue nur die schlimmen Erinnerungen nehmen und sie wieder zurück in die Gesellschaft einführen.“ Kirrils Stimme zittert. Er geht in die Knie. Sein Gesicht ist weiß wie der Schnee. Keine Fröhlichkeit, keine Grausamkeit, nur noch Schmerz ist zu sehen.

Der Mensch Kirril verschwimmt vor mir. Kann eine Person so vielschichtig sein? Was definiert Kirril, macht ihn aus? Ich habe geglaubt, dass es Freundlichkeit und Fröhlichkeit seien. Doch können diese Eigenschaften auf einem Boden der Grausamkeit wachsen? Oder ist der Schmerz Nährboden für Grausamkeit geworden? Die Fröhlichkeit begraben oder zerfressen von der Falschheit anderer?

Ist Cailan vielleicht auch gütig gewesen? Habe ich nicht nur seine Schwester, sondern auch Cailans guten Kern auf dem Gewissen?

„Sie hat … sie hat es für mich getan. Sie hat ihn wegen mir getötet.“

Warum wird mir schlecht? Warum tragen mich meine Beine zu Kirril? Warum nehme ich den Mann in den Arm, der mich alles kosten wird, was ich mir in kurzer Zeit erarbeitet habe?

„Wie sieht deine Schwester aus? Kannst du sie beschreiben?“, höre ich mich fragen und bin mir nicht sicher warum. Habe ich mich schon entschieden? Werde ich ihn zur Anstalt begleiten?

„Ich habe ein Foto. Es ist alt … aber es ist alles, was ich besitze.“ Kirril greift in seine Brusttasche und zeigt mir das Bild seiner Schwester.

Ich drehe mich um und übergebe mich in den Schnee. Mein Magen ist leer und doch kann ich nicht aufhören zu würgen.

„Was ist mit dir?“, fragt Kirril besorgt und ich weiß, dass der nette Junge noch in ihm steckt.

Sein Lächeln … ich weiß jetzt, warum es mir so bekannt vorgekommen ist.

Das Mädchen auf dem Bild ist Dannie.

Als ich nur noch unkontrolliert atmen kann, drückt Kirril mir ein Behältnis an die Lippen. Es brennt, als die Flüssigkeit meine Kehle heruntergleitet. Doch die Spannung löst sich etwas in meinem Körper. Ich verdränge das Bild von einer goldenen Flüssigkeit und einem filigranen, zerbrochenen Glas.

Schweigend starrt Kirril mich an und ich weiß nicht, wie viel ich sagen kann, ohne ihn zu brechen und ihm alle Hoffnung zu nehmen.

Nach langem Schweigen sagt Kirril: „Du kennst sie. Du kennst Mira.“

Als ich nichts erwidere, bohren sich seine Finger in das Fleisch meiner Oberarme.

„Sag mir, was du weißt!“, zischt er. In seinen Augen brennt ein Feuer, das alles verschlingen könnte.

„Manchmal ist Unwissenheit besser als Gewissheit“, flüstere ich.

„… Ist sie tot …?“, fragt er schwach, kaum hörbar.

Wenn ich jetzt nicke, wenn ich jetzt ihren geistigen Tod als körperlich deklariere, bin ich frei.

Entsetzen über meinen Egoismus erfüllt mich. Eine Lüge hätte Dannie retten können. Doch ich habe mich für die Wahrheit entschieden, um mein Gewissen zu erleichtern. Es ist die falsche Entscheidung gewesen. Aber etwas hält mich zurück. Ein verletztes, zerbrochenes Ich, das weiß, wie es ist, in der Dunkelheit zu leben und nach der Wahrheit zu streben? Ich atme tief ein und aus, bete, dass es die richtige Entscheidung ist.

„Dannie … Mira … sie, sie hat sich an etwas erinnert.“

Ein Leuchten des Glücks tritt in Kirrils Augen und es schmerzt, als ich diese neugeborene Hoffnung noch in ihrem Kindsbett erwürge.

„Sie hat gelitten und die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich gezogen. Sie … sie haben eine zweite Extraktion durchgeführt. Danach war sie … wie die anderen.“

Schmerz tanzt über Kirrils Gesicht, aber ich sehe noch einen Glimmer der Hoffnung.

Ich schließe die Augen und hole zum finalen Schlag aus. „Die meisten Whites sind apathisch, reglos, wie leere Hüllen. Dannie war nicht so. Sie war wie ich. Nein, sie war mehr als ich. Sie war fröhlich und freundlich. Sie hat mich willkommen geheißen und sich um mich gekümmert. Bis zu dem Tag, an dem sie sich plötzlich an etwas erinnerte. Ein Gefühl. Man holte sie ab und als ich sie das nächste Mal sah, erkannte sie mich nicht. Ihr Lächeln war verschwunden und das Licht in ihren Augen erloschen.“

Kirril zittert, er packt mich am Kragen, schüttelt mich und schreit: „Warum hast du ihr nicht geholfen? Warum hast du sie nicht beschützt?“

Ich weine und habe keine Antwort auf die Fragen, die ich mir selbst tausend Mal gestellt habe.

Dann lässt mich Kirril los, er weint und sagt: „Es tut mir leid. Du kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld. Ich bin schuld, ich hätte ihr helfen müssen. Sie haben sie zwei Mal getötet. Ich habe sie zwei Mal sterben lassen.“

Scham hält mich zurück und ich umgarne die Wahrheit mit Stille. Kirrils Worte treffen auf mich zu. Ich habe Dannie sterben lassen.

Nein!

Mit meiner Wahrheitsbesessenheit habe ich Dannie getötet. Das muss der Grund für meine folgenden Worte sein: „Die Erinnerungen werden in sogenannten Zeugen zwischengespeichert. Ein Jahr lang. Sie gehen in dieser Zeit alle Erinnerungen durch und verifizieren die Schuldigkeit des Insassen.“ Bin ich gnädig oder grausam?

„Wenn wir diesen Zeugen finden, können wir Miras Erinnerungen wiederherstellen?“, fragt Kirril hoffnungsvoll und ich sehe einen verzweifelten Jungen vor mir, nicht mehr den grausamen Mann.

„Die Implementierung ist sehr selten und nur in wenigen Fällen erfolgreich“, sage ich und denke an die nächtlichen Schreie, die Panik und Angst, die in Dannies Gesicht regiert haben, nachdem sie sich nur an einen Bruchteil erinnerte. Was würde passieren, wenn sie wieder alles wüsste?

Mein Blick gleitet zu Kirril. Was ist Dannie zugestoßen? Was hat sie getan, um ihren Bruder zu beschützen? Doch da ich auf meinen Geheimnissen schlafe, habe ich kein Recht Kirril nach seinen zu fragen.

„Aber es ist nicht unmöglich!“

Ich sage nicht nein. Ich kenne keine Statistiken. Mein Gehirn rast und die Worte verlassen meinen Mund ungefiltert: „Vielleicht schaffe ich es, Dannie rauszuholen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich an die Zeugen komme, geschweige denn an den richtigen Zeugen.“

„Kennst du jemanden, der es wissen könnte?“

Langsam nicke ich.

„Wer ist es?“

„Cailan van Matthews, derjenige, der mich freigelassen hat. Derjenige, der mich jagt.“ Ich presse die Lippen aufeinander. Kann ich, wenn sich die Chance ergibt, Cailan wirklich noch mehr antun? Ihn entführen, aus ihm Informationen herauspressen?

„Warum jagt er dich, wenn er dich freigelassen hat?“, fragt Kirril.

„Er hat mich freigelassen, damit er mich jagen kann. Er sagt, ich bin schuld an dem Tod seiner neunjährigen Schwester.“ Ich blicke zu Boden und verliere mich in der Unschuld des weißen Schnees. Ich spüre Kirrils Blick auf mir.

Nach einem Moment des unendlichen Schweigens, sagt er: „Mir ist egal, was du getan hast.“

Solange du mir hilfst, meine Schwester zu befreien, spricht er nicht aus. Doch es ist okay. Ein Ziel ist besser, als sinnloses Herumwandern und darauf warten, erlegt zu werden. Ich kann meine Schuld vielleicht wieder gut machen. Das ist das einzige, was zählt.

Und so erhebt sich Kirril, sieht mich stumm an, eine unausgesprochene Frage in den Augen und ich nicke langsam. Er scheint erleichtert und flüstert leise: „Danke.“

Ich reagiere nicht. Hätte ich anders gehandelt, wenn es nicht um Dannie ginge? Wenn ich nicht eine schwere Schuld wiedergutzumachen hätte? Kann ich überhaupt selbstlos sein?

Ein schmerzhaftes Grinsen verzieht mein Gesicht. Selbstlos … ich kenne das hässliche Gesicht der Selbstlosigkeit. Habe es in den stumpfen Augen so vieler gesehen. Mir entgeht die positive Konnotation, die mir mein unerfahrenes Gehirn vorgaukelt.

Kirril nimmt mir den Rucksack ab und legt die Decke um mich. Ich bin dankbar, nehme die unverdiente Nettigkeit geizig entgegen. Es könnte die letzte sein.

Kirril scheint den Weg zu kennen und ich folge ihm. Unser schweigsamer Aufstieg beginnt mit Lügen und Halbwahrheiten, falscher Freundlichkeit, grausamer Hoffnung, verstecktem Zwang und in der Luft hängender Gewalt.

Gelöscht - Die komplette Reihe

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