Читать книгу Gelöscht - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider - Страница 6
Kapitel 04 - Freier Fall
ОглавлениеIch bin unruhig, kann mich nicht konzentrieren. Die Angst davor, Cailan wiederzusehen, rumort in mir. Furcht vor dem, was unser nächstes Treffen mir offenbaren wird. Und doch sehne ich es herbei, will alles in mich aufsaugen, was er zu bieten hat. Fast eine Woche vergeht, bis er mich wieder aufsucht. Es ist morgens, kurz nach dem Frühstück. Aus dem Nichts taucht er vor mir auf und ich folge ihm wortlos. Wo bringt er mich dieses Mal hin?
„Cailan … wohin gehen wir?“ Ich bin nervös, aufgeregt und ängstlich zu gleich. Mein Herz klopft wild in meiner Brust und droht unter all den Gefühlen zu zerbersten.
„Ich will dir etwas zeigen“, ist alles, was er sagt.
Wir laufen dunkle Gänge entlang, steigen Stufen hoch, die sich nicht bewegen. Wir biegen rechts ab, links. So oft, dass ich vergesse, wo ich bin. Dann ist da eine schmale Gittertreppe, die zu einer schweren Eisentür führt. Etwas stimmt nicht. Mein Herz klopft wild, flüstert mir zu, ich solle umdrehen und um mein Leben rennen. Doch stattdessen folge ich Cailan. Er öffnet die Tür und lässt mich zuerst hindurchtreten. Mein Herz bleibt mir im Hals stecken. Der Anblick ist atemberaubend und fürchterlich. Weiß, wo das Auge hinreicht. Spitze Gipfel ragen schneebedeckt in einen hellblauen Himmel.
Ich weiß, was ein Himmel ist. Unendlich weit, erstreckt er sich über mir. Der Wind ist eiskalt, reißt an meinen Haaren und an meiner Kleidung. Freiheit, schreit mein Herz und ich trete mit zitternden Beinen an die Brüstung. Mein Gehirn schaltet die Kälte aus und meine Augen können sich nicht sattsehen.
„Wir sind im Himalaya. Hoch oben in den Bergen. Man sagt, vor vielen Jahren seien hier Menschen zum Vergnügen hochgewandert. Scharenweise. Doch als man beschloss hier eines der Refugien zu bauen, wurden die Wege geschlossen und die Hütten dem Verfall preisgegeben. Die Bewohner sollen umgesiedelt worden sein.“
Ich zittere vor Kälte, Angst, aber auch aus Erwartung.
„Zieh dich aus!“, befiehlt Cailan plötzlich.
Ich drehe mich erschrocken um und blicke in einen Lauf.
„Zieh dich aus!“, wiederholt Cailan, entsichert langsam die Waffe und ich verstehe, wozu das Schusstraining gut gewesen ist. Cailan wollte, dass ich weiß, was eine Waffe ist und was er damit tun kann.
Ich gehorche, lege die dünnen Schichten meiner weißen Kleidung ab, bis ich nur mit BH und Schlüpfer am Leib in der eisigen Kälte stehe. Der Frost frisst Teile meiner Haut und doch ist es Angst, die mich völlig vereinnahmt. Ich mache Anstalt den BH zu öffnen, doch Cailan bellt: „Das genügt!“
Erleichterung erfüllt mich und ein wenig Enttäuschung. Warum bin ich enttäuscht?
Er wirft Kleidung vor meine Füße. Eine dicke, weiße Hose, feste Schuhe, Socken und eine weiße Jacke mit einem roten Punkt. Dünne, schwarze Kreise umringen die feurige Mitte. Ich kenne dieses Zeichen. Es ist eine Zielscheibe. Auf der Jacke ist eine Zielscheibe! Pure Angst fließt durch meine Venen, als die Erkenntnis einschlägt.
„Zieh das an!“, sagt Cailan kalt und ich gehorche ihm mit klammen Fingern.
Als ich in Hose und Jacke, Socken und Schuhe geschlüpft bin, umgibt mich Wärme. Doch ich kann sie nicht genießen, würde mir am liebsten die Jacke vom Leib reißen und mich nackt in den eisigen Wind stellen. Doch der Lauf, der immer noch auf mich gerichtet ist, hindert mich daran.
Cailan tritt immer näher an mich heran, unsere Körper berühren sich, doch ich kann ihn nicht durch meine gepolsterte Kleidung fühlen. Er hält jetzt die Pistole gegen meine Schläfe und flüstert: „Es wäre so viel einfacher, wenn du nicht so schön wärst. Wenn du verlogen und abscheulich wärst.“
Ich spanne mich an, mein Blut rauscht durch meine Ohren.
„Du bist intelligent und eine Überlebenskünstlerin. Das ist gut so. Denn wo bliebe sonst der Spaß? Möchtest du immer noch wissen, warum du hier bist?“, fragt er und ich nicke stumm.
„Du bist hier, weil wegen dir ein neunjähriges Kind gestorben ist. Ein Mädchen. Süßer als jeder Engel im Himmel. Ihr Name war Klara van Matthews. Sie war meine Schwester.“
Mein Herz bleibt stehen. Ich habe ein neunjähriges Mädchen getötet?
„Der Richterspruch war eindeutig: schuldig. Und doch bist du hier, in diesem verfluchten Refugium. Dir geht es gut. Du weißt nichts mehr von deiner Schuld. Aber Klara ist tot. Dieser Gedanke macht mich wahnsinnig. Deine Existenz macht mich wahnsinnig. Es wird wie ein Fluchtversuch aussehen und man wird dich jagen. Ich werde dich jagen, wie Wild erlegen und ausweiden. Weißt du noch, was ich dir über meine Zielsicherheit gesagt habe?“
Natürlich weiß ich es noch. Ich habe die Antwort bereits an jenem Tag gespürt.
„Du bist es. Du bist der Mensch, den ich am meisten hasse.“ Cailan drückt mir etwas Schweres an die Brust, dann fühle ich einen Stoß und bin frei, falle über die Brüstung und höre noch Cailans Worte mir folgen: „Überlebe, Anuva! Damit ich dich bis ans Ende der Welt jagen kann!“
Kalter Wind peitscht mir ins Gesicht. Ich falle und schreie. Wie soll irgendjemand diesen Sturz überleben? Dann umgibt mich warme Luft. Meine Jacke und Hose plustern sich wie Ballons auf. Doch der Boden kommt immer noch rasend näher. Ich schließe panisch die Augen. In wenigen Herzschlägen bin ich tot. Ich fürchte um mein Leben und habe Angst vor den Schmerzen, bitte um einen schnellen Tod und will doch überleben. Warum?
Der Aufprall presst alle Luft aus meinen Lungen und es dauert, bis meine abgehackte Atmung genug Sauerstoff in mein System bekommt, um mein Gehirn zu versorgen. Mein Körper schmerzt, doch ich kann Arme und Beine bewegen. Ein Zischen erklingt in meinen Ohren und ich schreie, hyperventiliere und weine. Meine Hände ertasten etwas Weiches, Kaltes. Es zerrinnt unter meinen Fingern zu Wasser. Schnee?
Das Zischen wird lauter und die weiße, kalte Watte schmilzt um mich herum, weicht die Erde auf und das reine Weiß meiner Kleidung bekommt braune Flecken. Schwer atmend, fühle ich, wie sich der Stoff meiner Jacke und Hose wieder enger um mich legt. Ich lache und weine, als ich den Ursprung des furchtbaren Geräusches erkenne. Es ist meine Kleidung! Sie lässt die warme Luft entfliehen.
Noch geistig und körperlich betäubt, sehe ich mich um und finde etwas im Schnee liegen. Das Ding, das mir Cailan gegeben hat. Cailan … mein Geist zuckt vor dem Namen zurück, weigert sich darüber nachzudenken, was passiert ist, was er gesagt hat. Ich krabbele auf den Gegenstand zu, ertaste ihn mit zitternden Händen. Es ist … es ist ein Rucksack.
Als ich ihn öffnen will, höre ich sie: Schüsse. Kugeln dringen in die Erde neben und hinter mir. Ich packe den Rucksack, springe auf und laufe. Renne um mein Leben. Warum, weiß ich nicht. Die Sonne reflektiert sich im Schnee und blendet mich. Habe ich doch den Tod verdient, weigert sich etwas in mir einfach so zu sterben. Das Licht, das mich schon so oft ausgelacht hat, brennt heller, verleiht mir Kraft und ich glaube, das Gesicht eines jungen Mädchens zu sehen.
Cailans Worte hallen wie Gewehrschüsse in mir. Und sie verfehlen ihr Ziel nicht: mein Herz. Ich habe nicht nur gemordet. Ich bin schuld an dem Tod eines Kindes! Ist sie es, die mich aus dem Licht in mir vorwurfsvoll anstarrt? Ist das Klara? Habe ich an dem Gesicht meines Opfers festgehalten, als man mir alles andere genommen hat?
Was ist passiert? Wie konnte ich ein Kind ermorden? Wieso? Fragen zischen durch meinen Geist, während meine Beine mich immer schneller durch den Schnee tragen. Ich renne blind, zu grell sind Sonne und Schnee für meine Augen. Die kalte Luft brennt in meinen Lungen. Doch ich höre noch die Schüsse, stelle mir vor, wie die Kugeln mich durchbohren, wie sie die Zielscheibe an der Wand durchlöchert haben.
Wo wird Cailan hinzielen? Mein Herz? Mein Leben mit einem Schuss beenden? Oder wird er mich quälen, mir in die Beine schießen, mich verkrüppeln und zusehen, wie ich im weißen Schnee ausblute, wie sich langsam um mich alles rot färbt und mir aus meiner Vergangenheit erzählen? Mir sagen, was ich seiner Schwester angetan habe?
Erschrocken stelle ich fest, dass ein Teil von mir genau das will. Wissen, erfahren und dann für meine Sünden leiden, um geläutert zu sterben. Auch wenn der Gedanke verführerisch ist, tragen meine schmerzenden Beine mich weiter und weiter.
Anuva, hallt der Name in meinem Kopf. Ich taste ihn ab, suche nach etwas Vertrautem und finde nur Befremdung in mir. War mein Name wirklich Anuva?
Ich keuche, schnappe nach Luft, mein Herz schlägt zu schnell, mir wird schlecht. Ich halte an, sehe mich um und finde nur Weiß. Ich drehe mich einmal um mich selbst. Dann höre ich sie: Schritte. Cailan! Angst und Sehnsucht erfüllen mich. Mein ganzer Körper schmerzt.
„Ich bin enttäuscht, Anuva! Du machst es mir zu leicht. Geht deine Grausamkeit so weit, dass du meiner schmerzenden Seele nicht einmal die Genugtuung einer Jagd gönnst? Geben wir dir doch einen Anreiz.“
Ich höre einen Schuss, fühle die Kugel in meine Schulter eindringen und schreie. Meine Welt färbt sich rot, Schmerz ist alles, was mich ausmacht. Ich keuche, überlasse mich meinem Instinkt, versinke in mir selbst.
Mein Körper dreht sich im Kreis, findet einen schwarzen Punkt, der immer größer wird. Cailan. Mein Herzschlag flimmert. Ich stolpere rückwärts, kneife meine Augen gegen den grellen Schnee zu, drehe mich um, will rennen, doch meine Füße treten ins Leere. Ich falle wieder, glaube zu hören, wie Cailan meinen Namen ruft. Die Jacke plustert sich auf, doch heiße Luft strömt aus dem Loch, das Cailans Kugel in mich und die Jacke gerissen hat.
Ich fliege, falle, bin der Schmerz selbst. Ich pralle auf, federe ab und die Welt dreht sich um mich. Immer schneller. Ich bekomme keine Luft. Blau und Weiß wechseln sich immer wieder ab, dann liege ich still und Schwärze nimmt meinen Geist ein.
Schmerz ist es, der mich weckt. Ich öffne die Augen und erblicke Blau. Es war kein Traum, schreit der Schmerz in meiner Schulter. Es ist wirklich passiert, murmelt mein lädierter Körper. Ich richte mich vorsichtig auf und wimmere unter dem Schmerz, der sich an mich krallt und mich wohl nie wieder loslassen wird. Der Schnee um mich herum ist geschmolzen. Die Jacke hat trotz dem Loch einen Großteil vom Sturz abgefangen. Nur mein linker Arm hat etwas abbekommen. Ich kann ihn nicht bewegen. Leblos hängt er an meiner Seite, als ich mich aufrappele.
Ich habe immer noch den Rucksack um meine Schulter hängen. Er ist zerbeult und hat Risse. Vorsichtig nehme ich ihn ab, öffne ihn und finde eine Metallflasche mit einer Flüssigkeit. Auch sie hat Beulen, scheint jedoch sonst noch intakt. Außerdem finde ich noch zerquetschte Energieriegel, die aus ihrer Verpackung herausquellen. Cailan will sichergehen, dass es seine Hand ist, die mich tötet, und nicht Durst oder Hunger.
Hastig nehme ich einen Schluck aus der Flasche. Die Flüssigkeit brennt in meiner Kehle, wärmt meinen Körper und drängt den Schmerz zurück. Er ist noch da, doch er macht Platz für Gedanken und andere Gefühle. Ich blicke zurück, sehe einen steilen Abhang. Wie tief bin ich gefallen? Wird Cailan mir folgen? Ich reiße die Verpackung eines Riegels auf, schlinge ihn gierig hinunter. Dann hänge ich mir den Rucksack über meine unverletzte Schulter und zwinge meinen Körper weiter. Ich kann weder rennen noch laufen. Alles was mir gelingt, ist ein Schritt nach dem anderen. Also setze ich einen Fuß vor den anderen.
Warum lege ich mich nicht einfach in den Schnee und schlafe für immer ein? Wenn Cailan die Wahrheit gesagt hat und ich für den Tod eines neunjährigen Mädchens verantwortlich bin, dann habe ich den Tod verdient. Doch Cailan will, dass ich lebe, er will mich jagen und ein Teil von mir will für ihn leben. Ihm die Chance auf Rache gewähren. Und ein anderer Teil, der weder Schuld noch Scham kennt, krallt sich am Leben fest. Weigert sich Cailan zu glauben.
Du bist nicht mehr diese Frau. Du bist ein neuer Mensch. Du hast mit deinem alten Leben bezahlt, was auch in der Vergangenheit passiert sein mag. Der Gedanke, an den ich nicht wirklich glauben kann, lullt mich ein. Wenn Cailan mich das nächste Mal findet, wird er mich töten? Immer wieder drehen sich meine Gedanken umeinander. Sünde. Tod. Läuterung. Leben. Cailan. Klara. Anuva.
Die Sonne sinkt immer tiefer. Es wird Abend und ich setze immer noch einen Fuß vor den anderen, fixiere meinen Blick im Schnee. Doch dann verlässt meine Beine jede Kraft. Ich falle auf die Knie und richte voller Verzweiflung meinen Blick nach oben. Was suche ich dort? Was auch immer ich mir erhofft habe, ist es nicht das. Ich schnappe nach Luft, mein Herz schlägt schneller und ich glaube das erste Mal wahrhafte Schönheit zu sehen.
Die Sonne küsst den weißen Rand der Berge. Als würde sie sich an den spitzen Kanten aufreißen, fließt rotes Blut aus ihr und sie taucht das Blau des Himmels um sich in ein feuerrotes Licht. Ich falle auf den Rücken, die Augen immer noch an den Sonnenuntergang geheftet, die Erkenntnis von wahrer Schönheit im Herzen. Rot wird zu Rosa, leuchtet orange auf. Hellblau macht Dunkelblau Platz und als die Sonne ganz verschwunden ist, breitet sich nicht Schwarz aus, sondern ein Meer von kleinen Sonnen. Sie glitzern und funkeln. Die Nacht hier ist nicht Schwarz, der Schnee leuchtet sanft, die Sterne tanzen über mir.
Wie lange es dauert, bis der wundervolle Anblick von Schwärze überlagert wird, und ich erneut das Bewusstsein verliere, weiß ich nicht. Aber was auch immer war. Was auch immer noch kommen mag, ich bin dankbar, geboren worden zu sein. Dankbar, dass mir jemand die Chance gegeben hat, so etwas Schönes sehen zu dürfen. Dann fallen meine Augen zu und die wahre Schwärze legt sich auf mich, deckt mich zu. Wird Cailan enttäuscht sein, wenn ich hier und jetzt sterbe, ist mein letzter Gedanke. Dann drifte ich in die Dunkelheit ab. Wohl für immer …
Aufgeregte Stimmen wecken mich. Anstatt Kälte, umgibt mich Wärme. Wo bin ich? Hat Cailan mich gefunden?
„Wir müssen ihr helfen, sie wird sonst sterben. Sie ist beinahe gestorben!“, zischt eine Stimme. Sie klingt tief, aber trotzdem jung.
„Sie trägt ein weißes Armband! Sie ist eine von ihnen. Das ist eine verfluchte Schusswunde in ihrer Schulter! Eine Schusswunde! Sie ist sicher geflohen. Jäger werden kommen und sie suchen. Wenn sie uns hier finden, werden sie auch uns töten. Uns alle!“
„Keiner von uns ist unschuldig. Außerdem werden sie uns nicht töten. Sie werden uns richten.“ Trotz des dunklen Gehalts sind die Worte ruhig gesprochen. Die tiefe Ruhe, das Gleichgewicht, das dieser Mann in Worten transportiert, die grausam sein müssten, ist erschreckend.
„Nein, du hast recht. Töten werden sie uns nicht. In sabbernde Zombies werden sie uns verwandeln. All unsere Erinnerungen werden sie uns nehmen, nur weil wir einen Fehler begangen haben. Einen!“ Die dritte Stimme trägt Zorn in sich, keine Angst.
„Wir werden schuld sein an ihrem Tod, wenn wir ihr nicht helfen. Bevor die Jäger sie finden, wird sie erfrieren oder verdursten! Dann sind wir wahre Mörder“, sagt die erste Stimme und schürt Hoffnung in meinem gebrochenen Herzen.
„Du hast keine Ahnung, Junge, wovon du redest! Wir alle werden weiß sein wie der Schnee, einfach nur, weil wir uns gegen das System aufgelehnt haben“, sagt die Wut.
„Das hört sich an, als hätten wir eine Revolution geplant. Wir sind einfach nur abgehauen“, fügt die Angst hinzu.
„Das reicht völlig. Regime, Diktatoren, Cherub, sie sind alle gleich. Was ihnen gefährlich werden kann, löschen sie aus. Meine Nichte, sie hat in der neunten Klasse einen kritischen Aufsatz geschrieben und wurde verurteilt. Sie war 14 Jahre alt und der Lehrer hat sie einfach ausgeliefert“, schreit die Wut in die Welt hinaus.
„In dieser verkommenen Gesellschaft hat doch jeder schon eine Gehirnwäsche bekommen. Nur Outlaws, wie wir, sind noch unberührt. Wenn sie uns in die Finger kriegen, ist der freie Wille der Menschheit gestorben“, fügt der Argwohn mit Angst hinzu.
„Wenn der freie Wille der Menschheit nicht einmal einem jungen Mädchen helfen kann … wenn der freie Wille der Menschheit sie einfach dem Tod überlässt, sollte er vielleicht nicht mehr leben“, wirft ihnen die hoffnungsvolle Jugend entgegen.
„Junge, du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Idealismus ist etwas Gefährliches. Woraus, glaubst du, sind die Anstalten entstanden? Was, glaubst du, wird den Menschen dort in die Gehirne gepflanzt? Ideologien, die nicht mit dem menschlichen Sein kombinierbar sind. Sie rösten die Gehirne so oft, bis nur noch Mus übrig ist. Vor allem bei den Whites haben sie alles ausgebrannt. Die da kann weniger empfinden als eine Pflanze, da bin ich mir sicher!“
Die Worte der Wut schneiden in mein Herz und widerlegen ihre Aussage. Ich fühle. Doch ich wünschte, seine Worte wären wahr. Ich wünschte, die Art, wie diese Menschen über mich sprechen, würde nicht wie Rasiermesser in mein Fleisch schneiden. Ich öffne den Mund, doch alles, was herauskommt, ist ein Husten. Alles um mich verstummt. Ich kann ihre Augen auf mir spüren. Als ich wieder Luft bekomme, versuche ich es noch einmal: „Ich werde nicht hierbleiben. Ich will niemanden in Gefahr bringen.“ Ich erwarte keinen Applaus und doch tut die Stille weh. Mühsam setze ich mich auf und sage: „Mir wird ein Mann folgen. Er jagt mich. Ich danke euch für die Rettung und die Wärme, aber ich bringe euch allein durch meine Anwesenheit in Gefahr.“
„Ich kann nicht für alle sprechen, aber ich würde dir gerne helfen“, höre ich die Stimme, die für mich Partei ergriffen hat. Die Jugend ist wagemutig und halsbrecherisch. Deswegen wird sie von dem Alter getötet und kann nie lange leben.
Ich blicke mich zum ersten Mal um und sehe einen jungen Mann. Seine Augen sind blau wie der Himmel, sein Haar dunkelbraun wie der Stamm einer kräftigen Tanne. Die anderen Männer scheinen älter. Ihre Gesichter von der Zeit gezeichnet, tragen sie Bärte und blicken mich argwöhnisch an.
„Das ist freundlich, aber ich will euch keine Schwierigkeiten bereiten“, erwidere ich und versuche mich aufzurichten. Der rechte Ärmel meiner Jacke ist verschwunden. Meine Schulter ist bandagiert und mein Arm hängt in einer Schlinge.
„Dafür ist es zu spät“, brummt einer von ihnen.
Ich zucke zusammen, suche den Sprecher und meine Augen finden einen riesigen Mann, der breitbeinig dasteht und auf mich hinunterblickt. Selbst unter der dicken Kleidung kann ich erkennen, dass sein Körper nur aus Muskeln bestehen muss. Er strahlt Härte aus, aber vor allem innere Ruhe. Lange sieht er mich stumm an, dann sagt er: „Der Junge hat Recht. Dich einfach in die Kälte zu schicken, ist unmenschlich. Doch hierbehalten können wir dich auch nicht. Wir werden deinen Vorrat mit Wasser aufstocken und Nahrung. Du kannst ein paar Tage hierbleiben und zu Kräften kommen. Mehr können wir nicht für dich tun.“
Die Männer um mich herum werden unruhig. Doch niemand widerspricht dem Riesen. Ich blicke mich um, zähle zwölf Männer und überlege, wie lange ich bleiben kann, ohne sie zu gefährden. Cailan hat es auf mich abgesehen, doch was wird er mit den Männern tun? Wird er sie ignorieren? Mich töten und Verstärkung holen, um sie auszulöschen oder gefangen zu nehmen?
„Danke! Das ist mehr, als ich je erhoffen konnte.“ Eine Nacht. Ich könnte hier eine Nacht verbringen, Wärme und Kraft tanken. Vielleicht Informationen sammeln.
„Ich begleite sie“, sagt plötzlich der junge Mann mit den himmelblauen Augen.
„Tu, was du nicht lassen kannst! Da sieht er das erste Weibsbild seit ein paar Monaten und verliebt sich gleich in das nächstbeste Wesen mit Brüsten“, brummt der große Mann.
„Onmma!“, ruft der junge Mann aufgebracht und sein Gesicht wird dunkler. Er wendet sich zu mir und sagt: „Hör nicht auf den alten Brummbären! Er wohnt schon so lange hier draußen nur mit Männern, die selten mehr als ein Rülpsen oder Gurgeln herausbringen, dass er vergessen hat, wie man mit einer Dame spricht.“ Ein abfälliges Prusten folgt seinen Worten.
„Ich heiße Kirril. Hast du einen Namen?“
Ohne darüber nachzudenken, erwidere ich: „Mo. Ich heiße Mo.“
„Hallo Mo! Wenn wir die Feiglinge in ein paar Tagen hinter uns lassen, kann ich dich auch tragen, solltest du noch nicht laufen können.“
Kirril klingt übereifrig und ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken.
„In deinen Träumen, Junge! Sie bleibt hier, bis sie auf eigenen Beinen stehen kann und sie schläft alleine, ist das klar? Keiner nähert sich ihr auf mehr als einen Meter. Wer nicht gehorcht, wird erschossen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“, sagt Onmma.
Erschrocken blicke ich mich um und entdecke Enttäuschung in einigen der Blicke. Verschreckt, kauere ich mich zusammen.
Onmma dreht sich zu mir und sagt: „Männer, die länger als drei Monate keine Frau gesehen haben, sind wie Tiere. Merk dir das! Am besten siehst du alles, was einen Schwanz hat, als Tier. Der Kleine ist noch jung und weiß es noch nicht besser. Er ist ein guter Junger. Es wäre eine Schande, wenn er wegen dir sterben müsste.“
Ich nicke und verstehe die Botschaft.
Man gibt mir eine Decke und ein Kissen. Trotz des Feuers in dem Ofen, der in der Mitte des Zimmers steht, sind meine Finger klamm. Ich blicke mich um und finde Wände aus Holz. An der Decke sind Bretter kreuz und quer übereinander genagelt.
„Das ist eine alte Lodge. Hier haben früher Menschen auf Wanderschaft genächtigt. Die meisten sind unbewohnbar, nichts mehr als Ruinen. Viele sind aus Stein gebaut. Einige, wie diese, aus Holz. Wir haben hier sogar eine Küche. Wenn du auf Toilette musst, findest du vor dem Haus eine einfache Sanitäranlage. Wir Männer waschen uns meist mit kaltem Wasser. Aber für dich können wir auch Wasser heiß machen. Soll ich dir helfen, die Schuhe auszuziehen? Beim Schlafen sind die sicher störend. Ich gebe dir ein Paar von meinen Socken, dann werden deine Füße nicht kalt. Die meisten von uns schlafen mit den Füßen zum Ofen. Es träumt sich schlecht mit kalten Füßen.“
Der Redeschwall überfordert mich und ich muss an meinen ersten Tag in der Anstalt … dem Refugium denken.
Bevor ich antworten kann, packt Kirril mein Bein, öffnet mit wenigen Griffen gekonnt die Verschlüsse meiner Schuhe und zieht sie mir von den Füßen. Leise pfeift er durch die Zähne. Ich will es nicht sehen und doch gleitet mein Blick meine Wade entlang. Die weißen Socken sind an mehreren Stellen rot gefärbt. Kurz frage ich mich, ob es mein Blut ist. Eine dumme Frage. Wessen sonst? Ich versuche mit den Zehen zu wackeln. Doch nichts bewegt sich. Meine Füße sind taub.
Vorsichtig zieht Kirril an den Socken.
„Einen Meter Abstand habe ich gesagt!“, donnert Onmma. Zum ersten Mal ist es nicht Ruhe, die er ausstrahlt.
„Jaja, natürlich. Dann musst du jedoch ihre Füße behandeln. Sonst darf ich sie wirklich die ganze Zeit über tragen. Mir soll es recht sein.“ Ein herausforderndes Lachen liegt in seiner Stimme.
„Also gut, behandle ihre Füße und dann hältst du zwei Meter Abstand von ihr!“, brummt Onmma.
„Ich werde schon nicht über sie herfallen, wenn sie es nicht will“, erwidert Kirril, sieht mich dabei lächelnd an und zwinkert mir zu.
Ich schrecke zurück. Sein Lächeln hat etwas schmerzhaft Vertrautes.
Seinen Grübchen verschwinden, als er mir in die Augen sieht. „Entschuldige! Ich wollte dir keine Angst machen. Ich finde dich hübsch, aber ich werde mich benehmen. Ehrenwort! Ich will dir nur helfen.“
Ich nicke wortlos.
Kirril steht auf, holt eine Schüssel mit Wasser, Pflaster und Verbände. Er wäscht meine geschundenen Fußsohlen, trocknet sie vorsichtig ab, reibt eine Salbe darauf und verbindet die wunden Stellen. Dann zieht er sanft ein frisches Paar Socken über meine Füße.
„Danke“, murmele ich und starre auf seine großen, warmen Hände, die noch um meine Fesseln liegen. Bilde ich es mir nur ein oder zieht sein Daumen sanfte Kreise auf meiner Haut? Ich blicke verwirrt hoch zu ihm, starre in seine Augen. Ein sanftes Feuer brennt in ihnen, sie blicken in mich, suchen. Doch nach was? Die Stellen, die er berührt werden warm, brennen. Ich wünschte … ich wünschte …
Cailans Blick, in dem eine ähnliche Flamme gebrannt hat, taucht vor meinem inneren Auge auf und ich zucke zurück. Sofort lässt Kirril mein Bein los und ich verstecke mich unter der Decke, rolle mich zusammen und mache mich klein.
Ich kneife meine Lider fest zusammen und doch sehe ich brennende Augen mal hellblau wie der Himmel, mal schwarz, wie eine sternenlose Nacht. Mein Herz klopft schneller und ich versuche es zu beruhigen, lenke mich ab und denke über die heutigen Begebenheiten nach. Mein Gehirn dreht sich in alle Richtungen und ich versuche das Gehörte zu verdauen. Steht es wirklich so schlimm um die Menschheit? Sind wir alle gehirngewaschen?
Meine Gedanken kreisen um sich selbst und bleiben bei einer Frage hängen: Wie lange kann ich hier bleiben, ohne jemanden in Gefahr zu bringen? Wärme fährt in meine Glieder, breitet sich von meinen pochenden Füßen über meine Beine, meinen Bauch bis zu meiner Brust aus. Sie erreicht meine Wangen und bevor ich eine Antwort gefunden habe, hat sie mich eingelullt und ich drifte weg.
Ein seltsamer Geruch weckt mich und ich schieße hoch. Wo bin ich? Schmerz durchzuckt meine Schulter und es fällt mir wieder ein. Der Fall, die Jagd, der Sturz und die Männer. Doch in dem Raum mit dem Ofen ist niemand. Ich richte mich auf, suche nach meinen Schuhen und schlüpfe hinein. Meine Füße schmerzen, meine Schulter auch, mein ganzer Körper schreit und lässt sich nur schwer bewegen. Ein Wort fällt mir ein: Muskelkater. Ein seltsamer Klang und doch bin ich mir sicher, dass es passt. Die ungewohnte Bewegung auf der Flucht hat meine Muskeln ermüdet.
Langsam und steif wie ein Roboter suche ich eine Tür und finde den Weg nach draußen, bleibe jedoch wie angewurzelt stehen. Zwölf nackte Männer stehen um Eimer gefüllt mit Wasser und schrubben sich sauber. Meine Augen fahren geweitet von nackten Waden hoch zu nackten Oberkörpern und springen zurück zwischen die Beine. Meine Wangen brennen, aus einem mir unerfindlichen Grund entspringt ein schriller Schrei meiner Kehle. Alle Augen richten sich auf mich und ich drehe ihnen den Rücken zu, stammle: „Tu … tuut … tut mir leid.“
Ich muss den Drang, mich wieder umzudrehen und weiter zu starren, unterdrücken. Warum will ich wieder hinsehen?
„Die feine Dame tut so, als hätte sie noch nie einen nackten Mann gesehen!“, ruft jemand.
„Vielleicht haben wir hier eine Jungfrau“, fügt ein anderer hinzu und lacht.
Das Brennen in meinen Wangen kühlt ab. Das, was ich jetzt als Scham erkenne, stirbt bei den Worten, die ich weder bestätigen noch abstreiten kann. Ich habe heute zum ersten Mal einen nackten Mann gesehen, doch ich weiß nicht, ob dieser Körper, der mir immer noch fremd ist, der sich an mehr erinnert als mein Geist, noch jungfräulich ist.
Ich erinnere mich nicht an mein erstes Mal.
Ich erinnere mich an so viele erste Male nicht.
Tränen quellen mir aus den Augen, ich kann es nicht verhindern. Also eile ich zurück in den Raum mit dem Ofen. Es ist kein Versteck, es ist kein Zuhause. Ich will von der Welt nicht in meiner Schwäche gesehen werden und ziehe die Decke über den Kopf, sitze unbeweglich da und versuche eins zu werden mit dem rauen Stoff. Ich höre Schritte und wünschte, ich wäre Luft.
„Es tut mir leid. Die anderen wollten dich sicher nicht erschrecken. Sie … wir sind es nicht gewohnt, eine Frau um uns zu haben. Wir hätten … dich warnen sollen oder uns wo anders waschen. Ich hoffe, wir haben dich nicht für immer für die Männerwelt verdorben.“
Ich erkenne Kirrils Stimme und wünsche mir, er würde einfach verschwinden und mich mit meinem Trauma alleine lassen.
„Hast du Hunger? Ich habe Frühstück mitgebracht.“
Mein Magen antwortet an meiner Stelle und ich strecke vorsichtig die Nase unter der Decke hervor. Der Geruch der mich geweckt hat! Langsam ziehe ich die Decke über den Kopf, blicke in Kirrils leuchtende Augen, die so voller Emotionen sind, dass es mich fast erschlägt.
Seine Grübchen, kleine Krater rechts und links in seinen Wangen, verleihen ihm etwas Spitzbübisches. Er hält mir einen Holzteller hin. Ein runder, gelber Klecks ist von Weiß umgeben. Ich ziehe den Duft erneut durch die Nase und frage schließlich: „Ist das … ein gebratenes Ei?“
Kirril nickt lächelnd. „Wir halten hier ein paar Hühner und Ziegen. Käse, Milch und Eier sind also immer frisch und griffbereit. Alles andere, was wir zum Leben brauchen, holen wir abwechselnd in der nächsten Stadt. Es ist ein weiter Weg und wir müssen immer horrende Summen zahlen, sonst verkaufen uns die Einheimischen nichts. Es ist für sie ein Risiko mit uns Geschäfte zu machen. Sollte Cherub Matthew davon erfahren … sagen wir, es hätte Konsequenzen.“
Kirrils Worte enthalten so viele Informationen, dass ich sie nicht sofort verdauen kann. Außerdem gehe ich vollkommen in meinem Hunger auf, greife gierig nach dem Teller, packe das Ei mit der Hand, rolle es zusammen und stopfe es mir in den Mund. Es ist noch heiß, doch der Geschmack ist einmalig. Ich schließe die Augen und kaue ganz langsam. Der Hunger ist in den Hintergrund getreten und ich gehe auf in der Erfahrung.
Als alles von meinem Mund in den Magen gewandert ist, schwelge ich noch einen Moment länger in der Erinnerung, genieße das Ei noch einmal in Gedanken und erfreue mich daran, mich zu erinnern. Kirril lächelt mich verschmitzt an und sagt: „Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob es geschmeckt hat. Willst du meins?“ Er streckt mir seinen Teller hin.
Es ist verlockend und ich will das Ei. Aber ich habe schon zu viel bekommen für nichts. Nein, ich mache nur Umstände, nehme nur und kann nichts zurückgeben. Also schüttle ich den Kopf und sage: „Danke, aber nein. Ich möchte dein Ei nicht.“
Er zieht eine Augenbraue hoch, erwidert: „Dann eben nicht!“, und isst vor meinen Augen genüsslich das Ei.
Mein Blick klebt an seinen von Fett glänzenden Lippen und bevor ich auch nur daran denken kann sie daran zu hindern, gleitet meine Zunge über meine Lippen.
Kirril, der mich keinen Moment aus den Augen gelassen hat, lacht laut auf und sagt: „Das soll dir eine Lehre sein. Wenn dir das nächste Mal jemand etwas anbietet, solltest du es annehmen, wenn du es willst. Niemand fragt heutzutage aus Höflichkeit zweimal.“
Ich muss lächeln und nicke.
„Gib mir deinen Teller! Ich bringe das schmutzige Geschirr in die Küche.“
Ich reiche ihn Kirril, sage leise: „Danke“, und ernte ein Lächeln. Eine Geste, so vertraut, dass ich süchtig nach ihr werde. Mein Herz schlägt schneller in meiner Brust, als ich ihn dabei beobachte, wie er aus dem Raum verschwindet. Wird er wieder kommen, fragt sehnsüchtig eine Stimme in mir und ich schrecke auf. Wie habe ich mich so schnell an ihn binden können? Warum sehnt sich mein Herz so nach jemandes Nähe, den ich nur ein Augenzwinkern lang kenne?
„Wie ich sehe, bist du wach.“ Onmma ist durch die Tür getreten und starrt zu mir hinunter. Mit seinem Kopf berührt er fast die Decke. Ich komme mir im Vergleich zu ihm winzig vor.
„Danke für den warmen Schlafplatz und das Frühstück!“, sage ich schnell.
„Für das Frühstück kannst du Kirril danken. Er hat seine Ration mit dir geteilt. Die anderen waren … nicht begeistert von der Idee, etwas von ihrer Portion abzugeben. Es ist eine Weile her, dass einer von uns in der Stadt war. Die letzte Lieferung ist zu spät“, erwidert Onmma und ich bin unendlich erleichtert, dass ich Kirrils Angebot abgelehnt habe.
„Wie geht es dir?“, fragt Onmma und ich beeile mich zu sagen: „Besser! Viel besser! Ich werde heute noch aufbrechen. Ich will euch keine Umstände machen.“
„Die Umstände sind schon gemacht“, erwidert Onmma und ich schrumpfe in mich zusammen, habe das Gefühl, mich bei der Welt für meine Existenz entschuldigen zu müssen.
„Was ich sagen wollte: Die Männer haben verlernt, was es heißt für andere ihren Kopf hinzuhalten. Anstatt zu leben, denken sie nur ans Überleben. Sie haben vergessen, was die Anwesenheit einer Frau bringen kann“, führt Onmma aus und ich bin fraglos überrumpellt, denke nach und finde keine Antwort.
Alles was ich habe, sind Fragen: „Was kann … die Anwesenheit einer Frau bringen?“
Onmma sieht mich lange an und erwidert: „Mal von dem Augenscheinlichen abgesehen, könnte eine Frau diese stacheligen Kakteen zum Blühen bringen. Ihnen ein Leben zeigen, das sie vergessen haben. Sie daran erinnern, dass er mehr gibt, als nur das eigene Leben.“
„Mehr?“, frage ich leise.
„Eine Frau in der Nähe zu haben, ist der erste Schritt, sie daran zu erinnern, dass es mehr gibt als nur das eigene Ich. Dass es eine Zeit gegeben hat, in der sie liebten, davon träumten zu heiraten, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen.“
„Und das nur durch die Anwesenheit einer Frau?“, frage ich mich selbst laut.
„Wenn diese Frau liebreizend ist, sicherlich.“
Ich schlucke die nächste Frage herunter, als ein Schmerz durch meine Schulter zuckt, mich daran erinnert, dass ich nicht hier bleiben darf. Dass ich gejagt werde. Also sage ich einfach: „Ich hoffe, ihr findet solch eine Frau.“
„Das hoffe ich auch“, erwidert Onmma und schweigt eine Weile.
„Wie ist es da oben, in dem Refugium?“
Auch wenn ich auf diese Frage gewartet habe, kommt sie überraschend. Ich schlucke und weiß nicht, was ich sagen soll. „Es ist … es ist … einsam.“ Ich blicke auf mein Armband. „Es sind so viele von uns und doch ist jeder in seinem Körper gefangen, kann nicht mit den anderen kommunizieren.“
„Du scheinst gut genug kommunizieren zu können“, wirft Onmma grübelnd ein.
„Ich … bin eine der wenigen Ausnahmen“, gestehe ich.
„Wie viele Ausnahmen hast du in deiner Zeit dort getroffen?“ Onmmas Augen glitzern und ich glaube mehr zu sehen als bloße Neugier.
„Eine …“, flüstere ich leise in dem Wissen, dass ihm meine Antwort nicht gefallen wird.
„Wie viele seid ihr ungefähr?“
Ich kann ihm keine Zahl nennen, stelle mir den Frühstückssaal vor und erwidere zögerlich: „Tausend, vielleicht.“ Onmma atmet schwer ein und aus und flüstert: „Zwei aus tausend?“
Höre ich Verzweiflung in seiner sonst so ruhigen und kraftvollen Stimme?
„Wie bist du entkommen?“, fragt Onmma und ich erwidere wahrheitsgetreu: „Man hat mich gehen lassen.“
„Man hat dich gehen lassen?“
Ich kann Onmma den Zweifel in der Stimme nicht vorwerfen und sage: „Cailan hat ein Auge auf mich geworfen. Er … er hat mich gehen lassen, um mich jagen zu können.“
„Und der Streifschuss an der Schulter war ein Warnschuss“, sagt Onmma und ich nicke. Der ganze Horror schwappt über mich und ich weiß, ich kann nicht das Leben der anderen gefährden.
„Ich muss heute noch aufbrechen. Ich bin einen Abhang heruntergestürzt und noch so weit gelaufen, wie ich konnte. Es wird dauern, bis er meine Spur wieder aufnehmen kann. Aber er wird nicht aufgeben.“
„Okay. Aber bleib noch diese Nacht. Am kommenden Morgen kannst du aufbrechen.“
Ich presse die Lippen aufeinander und nicke.
„Leg dich hin und schlafe! Du wirst jede Kraftreserve brauchen.“
„Wo … wo ist mein Rucksack?“, frage ich vorsichtig.
„Du legst dich schlafen und ich sorge dafür, dass er gefüllt neben dir liegt, wenn du das nächste Mal erwachst.“
Ich nicke und lege mich an meinen Platz, schließe die Augen und versuche die Frage zu ignorieren, die hinter meiner Schläfe pocht: Wozu werde ich Kraftreserven brauchen? Um Cailan zu entkommen? Selbst wenn es mir gelingen sollte, was erwartet mich da draußen? Meine Gedanken kreisen um sich selbst, bis die Müdigkeit mich einholt und in die erholsame Schwärze herunterzieht.