Читать книгу Die Nebelwölfin - Sabine Bieber - Страница 5
Kapitel 2
Оглавление„Der Vogel singt, das Reh es springt, es kommt die Frühlingszeit“ sang eine piepsige Kinderstimme.
Die Melodie kam mir seltsam vertraut vor und doch konnte ich schwören, dass ich das Lied noch nie zuvor gehört hatte.
„Das Gras es grünt, der Wald...“ Der Gesang brach abrupt ab und irgendwas stupste mich an meinem Hinterteil an. Ich schaute auf und starrte in das Gesicht eines vielleicht sieben- jährigen Mädchens mit blonden Zöpfen und auffallend grünen Augen. Sie trug nur ein Kleidchen aus ungefärbter Wolle und war barfuß. Mit ihrem linken Fuß trat sie mir nun recht energisch in die Kehrseite.
„Wer bist du denn?“, fragte sie fröhlich. „Kommst du aus den Hügeln und willst zum Fest? Warum trägst du so einen dicken Mantel, ist dir nicht warm?“ Völlig unbedarft ließ sie sich vor mir auf dem Boden nieder. „Du bist sehr schmutzig im Gesicht, du solltest dich waschen“, plapperte sie ungehemmt weiter. „Faolane wäre sehr böse auf mich, wenn ich so herumlaufen würde. Warum liegst du hier eigentlich? Bist du müde, willst du schlafen?“ Das Kind wartete keine Antwort von mir ab. Ich hätte ihr ohnehin keine geben können. Ich lag bäuchlings im Gras. Es war ziemlich warm und in meiner dicken Winterjacke begann ich bereits heftig zu schwitzen. Mein Schal hatte sich irgendwie um meinen Hals geknotet, so dass ich das unangenehme Gefühl hatte, gerade langsam stranguliert zu werden. Mühsam setzte ich mich auf. Mein Kopf drohte zu explodieren. Wo zum Teufel war ich? Ich löste den Schal und sog erleichtert Luft in meine Lungen. Dann sah ich mich um.
Ich saß in meiner dicken Winterjacke, völlig mit feuchter Erde und Matsch beschmiert auf einem kleinen Hügel. Vor mir erstreckte sich ein üppiges grünes Tal. In der Nähe konnte ich eine kleine Ansammlung von Lehmhütten sehen, die mit Stroh gedeckt waren. Das Tal wurde von einem kleinen Fluss geteilt, der sich munter sprudelnd durch die Ebene schlängelte und im Westen in einem kleinen Waldstück verschwand. Hinter mir konnte ich eine sanfte Hügellandschaft ausmachen, in der Ferne erhoben sich graue, schroffe Berge. Die Sonne schien warm vom blauen Himmel und Grillen zirpten im hohen Gras, das sich im lauen Wind sanft hin und her wiegte.
Ich rieb mir die Augen und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Das muss ein Traum sein, dachte ich mir und kniff mich selbst herzhaft in den linken Unterarm. Ich erwartete eigentlich, dass das idyllische Bild vor meinen Augen verschwand und ich wieder in dem herbstlichen, nass-kalten Wald zu mir kam. „Ich muss gestürzt sein und muss mir irgendwo den Kopf angeschlagen haben“, schlussfolgerte ich. Aber zu meinem Erstaunen und Entsetzen verschwand das Bild nicht, sondern das Mädchen, das ich eben noch für ein Trugbild meiner überreizten Nerven gehalten hatte, hockte noch immer vor mir im Gras. Mein Arm schmerzte an der Stelle, an der sich meine manikürten Nägel ins Fleisch gegraben hatten.
„Wie heißt du?“, fragte das Mädchen und sah mich mit ihren grünen Augen treuherzig und neugierig an. „Na prima“, dachte ich mir, „das ist mal eine Frage, die ich beantworten kann.“
„Lana“, sagte ich und meine Stimme klang schwach und piepsig. „Lana“, wiederholte das Kind fast andächtig. „Ich bin Elea“, verkündete sie dann fröhlich und begann Blätter aus meinen Haaren zu zupfen. „Willst du mit mir fangen spielen, oder verstecken?“, fragte sie dann. Ihr Gesicht strahlte.
„Elea“, ertönte in diesem Augenblick eine Stimme. „Elea, wo steckst du denn schon wieder?“ Ich rappelte mich auf und stand einer Frau gegenüber, an der mir als allererstes ihre irrsinnig faszinierenden Augen auffielen. Sie waren golden und standen leicht schräg. Die Frau schien vollkommen alterslos zu sein. Ihr Gesicht war leicht von der Sonne gebräunt, ihr langes silbrig schimmerndes Haar wurde von einer Spange aus Horn gehalten. Sie trug ein Kleid aus ungefärbter Wolle, das in der Taille von einem breiten Gürtel aus derbem Leder zusammen gehalten wurde. Sie war ungefähr so groß wie ich, sehr zart und feingliedrig und doch wirkten ihre Bewegungen unglaublich kraftvoll und elegant.
Sie sah mich durchdringend an, ihre goldenen Augen schienen geradewegs auf den Grund meiner Seele zu schauen. Ich schluckte hart und wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sie mir sanft die Hand auf den Arm legte und schlicht sagte: „Willkommen. Ich bin Faolane und wie ist dein Name?“ Ihre Stimme klang wie flüssiges Gold. Sie ließ irgendetwas in mir vibrieren. Ich fühlte mich plötzlich zittrig und noch verwirrter, wenn mein derzeitiger Zustand überhaupt noch steigerungsfähig war. Vor meinen Augen begann sich alles zu drehen. Ich plumpste unsanft auf mein Hinterteil ins Gras und schloss die Augen. Mir war schrecklich schwindlig und mein Mund war furchtbar trocken. Als ich die Augen wieder öffnete, stand die Frau immer noch vor mir und sah freundlich lächelnd auf mich herab. „Mein Name ist Lana“, würgte ich hervor. „Ich weiß nicht…“, wollte ich fortfahren, aber sie unterbrach mich, indem sie nach meiner Hand griff und mir auf die Füße half. Ihre Berührung fühlte sich unglaublich sanft auf meiner Haut an und wieder hatte ich das Gefühl, dass mit ihren Augen irgendetwas nicht stimmte. Nie hatte mich jemand so intensiv angesehen.
„Hallo Lana“, sagte sie sanft. Mein Name klang aus ihrem Mund sonderbar fremd und doch sehr vertraut. „Willkommen in Salandor. Dir muss schrecklich warm sein. Möchtest du nicht mit hinunter ins Tal zu meiner Hütte gehen und die dicke Jacke ausziehen? Dort könntest du dich auch etwas waschen.“ Ich blickte sie völlig verwirrt an. „Ich muss mich verlaufen haben“, stammelte ich. „Gerade war hier noch der Weg, der mich durch den Wald…“ Wieder unterbrach sie mich, indem sie mich einfach nur unverwandt ansah und seltsam wissend lächelte. Meine Stimme erstarb. Komischerweise fühlte ich keine Angst und auch die Panik, die zwischendurch in mir aufgestiegen war, ebbte ab. „Erzähl mir später davon“, sagte sie dann ruhig. „Zunächst sei mein Gast, du musst schrecklich durstig sein. Es ist ein warmer Tag heute.“ Komischerweise widersprach ich nicht, sondern begann einfach stumm neben ihr den Hügel hinab zu steigen. Mein Kopf war vollkommen leer und doch war ich unglaublich ruhig. So ruhig, wie ich schon seit Monaten nicht mehr gewesen war. „Du musst sehr stark mit dem Kopf aufgeschlagen sein“, dachte ich und wischte mir den Schweiß aus dem Gesicht.
Elea hüpfte vor uns den Hügel hinunter und hatte wieder zu singen begonnen. Die Frau, die sich als Faolane vorgestellt hatte, bewegte sich mit einer fließenden Eleganz leichtfüßig den schmalen Pfad hinunter, auf die kleine Ansammlung der Hütten zu.
Ich fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen. Sie waren salzig. Ich war verwundert. „Ist hier das Meer in der Nähe?“, fragte ich völlig zusammenhangslos. Anstatt mich anzustarren, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf, drehte sich die Frau zu mir um, lächelte freundlich und sagte: „Ja, gleich hinter dem Tal fallen steile Klippen zum Meer ab. Man kann das Salz deutlich in der Luft schmecken, nicht wahr?“
Wir erreichten die Hütten und sie führte mich zu einem kleinen Haus am Rande der Siedlung. Es war aus Lehm gebaut, das Dach war mit Stroh gedeckt. Vor der kleinen niedrigen Tür stand eine verwitterte Holzbank.
„Setz dich hier hin und zieh deine warme Jacke aus, ich hole uns einen Schluck Wasser“, sagte Faolane.
Ich ließ mich auf die Bank plumpsen und legte Jacke und Schal über die Lehne. Auch meinen Wollpullover zog ich aus und atmete tief durch. Die Sonne schien warm auf meine nackten Arme und ich blinzelte, um meine Umgebung genauer zu betrachten. Die Hütte stand etwas außerhalb der Ansammlung der anderen Gebäude. Auf einer kleinen Fläche neben dem Haus war liebevoll ein Garten mit allerlei Gemüse angelegt. Da ich meine Nahrungsmittel eigentlich nur in klimatisierten Supermärkten kaufte, erkannte ich außer Karotten recht wenig von dem, was da wuchs.
Eine kleine, pummelige Katze kam gemütlich auf mich zu geschlendert, betrachtete mich kurz interessiert und sprang dann mit einem großen Satz auf meinen Schoß. Dort rollte sie sich leise schnurrend zusammen. Ich begann, wie automatisch ihr weißes Fell zu kraulen. „Wo bin ich nur?“, fragte ich halblaut. Die Katze gab zum Glück keine Antwort, ansonsten wäre ich wohl vor Schreck gestorben, sondern veränderte nur kurz ihre Position, um dann sofort wieder einzuschlummern. Faolane kam aus der Hütte und reichte mir einen Tonbecher mit Wasser, außerdem stellte sie einen Teller mit getrockneten Apfelringen und dunklem Früchtebrot auf einen abgesägten Baumstamm, der als Tisch diente.
„Oh, Palja hat dich gleich als sein Opfer auserkoren. Nun wirst du Probleme haben, den kleinen Tiger wieder loszuwerden. Er ist sehr besitzergreifend“, sagte sie lächelnd. Ihre Stimme jagte mir einen sanften Schauer über den Rücken. Ihr Klang war unbeschreiblich, melodisch, dunkel und warm.
Ich trank einen großen Schluck und glaubte nie etwas Besseres getrunken zu haben, als dieses Wasser. Es war kühl und schmeckte leicht erdig. Durstig leerte ich den Becher fast in einem Zug. Sie schenkte mir ungefragt aus einem tönernen Krug nach.
„Es ist wunderschön hier“, sagte ich, „aber doch habe ich keine Ahnung, wo ich bin und wie ich hier hergekommen bin.“ Faolane sah mich an und sagte dann leise: „Du wirst viele, vielleicht alle Antworten bekommen und noch mehr Fragen werden sich dir stellen. Aber für den Moment sollst du nur wissen, dass du hier bist. Vertrau mir, alles ist gut, jetzt wo du da bist.“
Ich sah sie verwirrt an und wollte eigentlich gerade entnervt und energisch ansetzen, dass ich jetzt wissen wollte, wo ich war und vor allem, wie ich wieder nach Hause kam. Der Blick in ihre goldenen Augen ließ mich abermals meine Stimme verlieren und ich sah sie nur stumm und verwundert an. „Lerne Vertrauen, Sehen und Verstehen“, sagte sie dann weich und sanft. „Du sprichst in Rätseln“, krächzte ich hilflos.
„Ja, ich weiß, aber für den Moment, vertraue mir. Ich verspreche dir, dass du jederzeit zurückkehren kannst. Dorthin, wo du hergekommen bist. Schenk mir ein paar Stunden und dann geleite ich dich zurück. Dann werden schon einige deiner Fragen beantwortet sein.“
„Aber ich muss jetzt Antworten haben“, begehrte ich auf und fühlte Panik in mir aufsteigen.
Sie sah mich unverwandt an und legte mir dann sanft die Hand auf meinen nackten Arm. Obwohl ich nur noch ein dünnes T-Shirt trug, schwitze ich.
Ihre Berührung ließ mich wieder ruhiger werden und ich entspannte mich. Mein Gehirn und meine hektischen, wirren Gedanken wurden träge. Ich fühlte mich fast wie hypnotisiert.
„Heute ist ein großes Fest hier im Dorf. Bleib hier und lass dich ein paar Stunden treiben.
Du wirst rechtzeitig zurück sein.“
Ihre Worte waren freundlich und mild und doch hatte ich das unbestimmte Gefühl nicht widersprechen zu können und zu dürfen. Es war eine eigenartige, fast magische Stimmung hier vor der kleinen Hütte im Sonnenschein.
In diesem Augenblick bog Elea um die Ecke und zerrte einen großen, gelben Hund an einem Seil hinter sich her. „Du musst Zasko kennenlernen“, rief sie und ruckte an der Leine. Der Hund hatte es überhaupt nicht eilig, sondern schlurfte gemütlich hinter der Kleinen her.
Mit ernsten Augen sah das Mädchen den Hund an und sagte dann würdevoll: „Das ist Lana, sie kommt aus den Hügeln. Sag guten Tag Zasko.“ Ich wollte mir gerade darüber Gedanken machen, warum das Mädchen so selbstverständlich eine mit Lehm und Dreck beschmierte, völlig fremde Frau akzeptierte, die einfach so im Gras lag. Doch bevor ich dazu kam, sah der Hund kurz hoch, entdeckte den Kater auf meinem Schoss, fixierte ihn mit einem schnellen Blick und schoss los. Palja sprang wie der Blitz auf, machte einen Buckel und fauchte. Aber schon war der Hund nach vorne gesprungen, um sich den Kater zu greifen. Der suchte sein Heil in der Flucht, sprang in einem großen Satz von meinem Schoss, gerade in dem Moment, als der Hund auf selbigem landete. Nun ist ein gut Fünfundreißig Kilogramm schwerer, sehr großer Hund nicht dazu gemacht, um auf dem Schoss zu sitzen. Hund und ich verloren das Gleichgewicht, plumpsten in einem Knäuel von der Bank auf den Boden und rissen dabei den Teller mit den Köstlichkeiten vom Baumstumpf.
Noch ehe ich wieder Herr meiner Sinne war, hatte der Hund sich darauf besonnen, dass Früchtebrot viel besser schmeckte, als Katze, schnappte sich ein großes Stück und machte sich mit schleifender Leine davon. Elea machte ein böses Gesicht, dann sah sie mich an und wir begannen zeitgleich zu kichern. Faolane stimmte in unser Gelächter ein.
Es war, als wenn das Eis in diesem Moment gebrochen war. Ich sah die Frau lange an. Wieder war ich fasziniert von ihren Augen und ihrer ruhigen Schönheit. Irgendetwas in mir sagte: „Du kannst ihr tatsächlich vertrauen.“ Die andere Stimme der Vernunft, die die ganze Zeit immer wieder laut gesagt hatte, dass das hier alles absolut irrsinnig war, wurde leiser und verstummte dann ganz. Faolane lächelte zufrieden.
Nach dem Stand der Sonne zu urteilen musste es bereits Mittag sein, es war schwül warm und ich hatte das Gefühl, langsam zu zerfließen. Mit Jeans und warmen Socken in den Wanderstiefeln war ich für einen Ausflug in den Herbstwald ausgestattet, aber nicht für ein Sonnenbad im Hochsommer.
Faolane machte sich daran, die Apfelringe und das restliche Früchtebrot vom Boden aufzusammeln. Elea kam ihr zuvor, steckte sich ein großes Stück Apfel in den Mund und begann, genüsslich darauf herum zu kauen.
„Es gibt noch Einiges vorzubereiten für heute Abend“, sagte Faolane und sah mich auffordernd an. Für sie schien es nicht mehr in Frage zu stehen, dass ich zunächst einmal hier bleiben würde. „Dir muss schrecklich warm sein, liebe Lana, willst du dich nicht waschen und dann gebe ich dir etwas Luftigeres zum Anziehen“. Komischerweise dachte ich nur einen ganz kurzen Augenblick darüber nach, noch einmal zu protestieren, dann war ich mich plötzlich sicher, dass ich zumindest einen Teil dieser mysteriösen Welt von Faolane und Elea kennen lernen wollte. Sie hatte gesagt, dass ich ihr vertrauen konnte und merkwürdigerweise glaubte ich ihr das. Ich schüttelte über mich selber den Kopf.
„Elea, sei so lieb, geh und zeig Lana die Stelle am Fluss, wo sie sich waschen kann“, sagte Faolane zu dem Mädchen. Diese war sofort begeistert und sprang auf.
„Warte einen Moment, ich suche noch schnell etwas Passendes zum Anziehen für dich.“ Sie verschwand in der Hütte, kehrte kurz darauf mit einem Kleid aus ungefärbter Wolle zurück und reichte mir dazu einen Gürtel, der aus Leder geflochten war. „Hier“, sagte sie freundlich und lächelte, „das sollte dir passen.“ Sie reichte mir noch ein eine flache Holzschale in der ein Stück Seife lag. Es hatte zwar wenig Ähnlichkeit mit dem, was ich aus dem Drogeriemarkt kannte, es handelte sich aber eindeutig um Seife. Geruch von Lavendel und Apfel stieg mir in die Nase. Mir schossen hundert Fragen durch den Kopf und doch stellte ich keine von ihnen, sondern griff nach den Sachen, bedankte mich artig und war froh, einfach ein wenig Zeit für mich zu haben. Diese Frau brachte mich total aus der Fassung und doch fühlte ich mich in ihrer Gegenwart ruhiger und entspannter, als ich es in letzter Zeit je gewesen war.
Elea stapfte vor mir her und begann wieder zu singen. Ich war froh, dass sie nicht versuchte mit mir zu reden, denn so hatte ich Zeit, mich weiter umzusehen. Wir gingen in Richtung Fluss und kamen schon bald an eine Stelle, an der ein kleiner Holzsteg ins Wasser ragte. Das Ufer war dicht bewachsen und die Äste eines Baumes ragten fast bis in das klare, sprudelnde Wasser. Ich folge dem Flusslauf mit den Augen, bis dahin, wo er im Wald verschwand. „Im Wald gibt es einen Weiher“, erklärte mir Elea wichtig und riss mich aus meinen Gedanken. „Aber bis dahin ist es schon noch etwas weiter zu gehen. Wenn du lieber dort baden möchtest?“ Auffordernd sah sie mich an und ich konnte deutlich in ihren Augen lesen, dass sie zu gerne mit mir einen Abstecher in den Wald gemacht hätte. „Nein“, sagte ich matt, „danke dir, aber ich bin froh, wenn ich meine warmen Sachen ausziehen und mich gründlich waschen kann.“ Ich sah mich um, konnte aber weit und breit niemanden entdecken. Eigentlich war es nicht meine Art, splitterfasernackt in fremde Gewässer zu steigen. „Wo sind denn die anderen Leute, die hier wohnen?“, fragte ich die Kleine vorsichtig. „Sie sind alle unterwegs und bereiten das Fest am Meer vor“, sagte Elea. Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte, aber mittlerweile war mir auch schon fast alles egal. Mir war brütend heiß und der Fluss sah unglaublich einladend aus.
Ich kletterte etwas ungelenk vom Steg ins Wasser und quietschte. Das Wasser war wirklich sehr kalt. Ich hatte Mühe, Atem zu holen. Der Fluss war hier am Rand nicht tief und ich stand nur bis zur Hüfte im Wasser. Das Wasser fühlte sich wie Seide auf meiner Haut an und ich begann diesen Ausflug zu genießen. Ich machte probeweise ein paar Schwimmzüge und ließ mich dann auf dem Rücken ein wenig treiben. Elea saß auf dem Steg und beobachtete mich kritisch. „Willst du nicht ins Wasser?“, fragte ich sie. „Doch“, sagte sie, sprang behände auf und begann, sich auszuziehen, „Aber ich musste doch erst einmal sehen, ob du schwimmen kannst. Sonst hätte ich nämlich schnell Hilfe geholt“. Sie machte ein wichtiges Gesicht und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Wir planschten im kühlen Wasser und lagen hinterher Seite an Seite auf dem Steg in der Sonne und ließen uns trocknen. Ich musste kurz eingedöst sein und als ich aufwachte war ich im ersten Moment völlig verwirrt. Dann sah ich Eleas strahlendes Gesicht vor mir. „Bist du jetzt ausgeschlafen?“, fragte sie fast vorwurfsvoll. Es war so langweilig darauf zu warten, dass du wieder aufwachst. Ich rappelte mich auf und begann dass fremdartige Kleid anzuziehen.
Es passte mir erstaunlich gut. Ich wand den Gürtel um meine Taille und knotete die Bänder an der Seite fest. Der raue Stoff fühlte sich ungewohnt auf der Haut an.
Elea inspizierte derweil meine Jeans und befühlte fast andächtig den Stoff. „Aus was für Wolle wird das denn hergestellt?“, fragte sie neugierig. Ich sah sie verdattert an. Ich hatte mir noch nie ernsthaft darüber Gedanken gemacht, wie und aus welchem Material Kleidung hergestellt wurde. „Ich kann es dir nicht erklären, ich glaube aber, es ist Baumwolle“, sagte ich ehrlich. Sie sah mich irritiert an und mir wurde klar, dass sie noch niemals etwas von Baumwolle oder gar von Kleidung, die in Fabriken hergestellt wurde, gehörte haben mochte.
„Komische Schafe müsst ihr dort haben, wo du herkommst“, verkündete sie dann einfach. Damit war die Sache aber bereits für sie wieder erledigt und sie begann ein paar Wiesenblumen zu pflücken.
Ich begann meine nassen Haare mit den Fingern zu entwirren und flocht mir einen dicken Zopf. Elea steckte mir ein paar ihrer Blüten in die Haare und sagte dann zufrieden: „Hübsch siehst du jetzt aus. So kannst du mit zum Fest gehen.“
Als wir zur Hütte zurückkehrten, entdeckte ich, dass auch das restliche Dorf lebendig geworden war. Männer und Frauen, zumeist in einfacher Wollkleidung, liefen geschäftig hin und her und in der Nähe der Hütten entdeckte ich einen Pferch mit Schweinen, der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. Ich war froh, als ich wieder vor Faolanes Hütte ankam, ohne dass ich mit jemandem zusammengetroffen war. Das fröhliche Mädchen an meiner Seite war eine Sache, aber was sollte ich sagen, wenn mich ein anderer fragte, wer ich war und woher ich kam?
Faolane saß vor ihrer Hütte und wusch Kartoffeln. Als sie uns kommen sah, wischte sie sich die nassen Hände in ihrer fleckigen Schürze ab und lächelte. „Hübsch siehst du aus“, lobte sie mich. Ich wand mich verlegen. Seltsamerweise war ich noch nie besonders gut darin gewesen, Komplimente von anderen entgegen zu nehmen. „Ach“, sagte ich etwas matt, „wenigstens bin ich jetzt sauber und schwitze nicht mehr so schrecklich.“
Es war mittlerweile Nachmittag geworden und die größte Hitze hatte etwas nachgelassen. Ich ließ mich neben Faolane nieder und sah ihr zu, wie sie eine große Menge Kartoffeln von Erde und Schlamm befreite und sie in eine Schale legte, die aus Holz geschnitzt war. Ich hatte tausend Fragen und doch war ich so angenehm träge und müde, dass ich zufrieden damit war, nicht zu sprechen, sondern ihr einfach nur zuzusehen und die friedliche Stimmung vor der Hütte auf mich wirken zu lassen. Alles war so intensiv, ich hatte das Gefühl, dass die Farben hier klarer und frischer waren. Seit langer Zeit nahm ich erstmals wieder die verschiedenen Gerüche von Erde, Wiesenblumen und frisch geernteten Kartoffeln wahr. Wann hatte ich das letzte Mal so intensiv gefühlt, geatmet, gerochen? Vielleicht als ich noch ein Kind war und meine Großeltern in den Ferien auf dem Land besucht hatte ? Meine Gedanken wurden immer träger. Alles schien irgendwie gedämpft und gleichzeitig unglaublich echt und nah. Ich saß einfach da, fühlte die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut und betrachtete die Schattenmuster der Bäume.
„Es wird langsam Zeit“, sagte sie irgendwann, legte die letzten Kartoffeln in die Schüssel und riss mich aus meinen Tagträumen.
„Das Fest findet unten am Strand statt, wir sollten uns auf den Weg machen.“ „Aber“, stammelte ich, „was soll ich sagen, wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme?“ Sie lächelte geheimnisvoll und antwortete: „Ich glaube kaum, dass jemand fragen wird und wenn, dann sage einfach, vom Hügel hinter dem Dorf.“ Ich schluckte. Das war ja im Grunde genommen nicht einmal gelogen. Damit schien das Thema für Faolane bereits erledigt zu sein.
Sie erhob sich mit einer fließenden, weichen Bewegung und zum wiederholten Male fragte ich mich, wie alt sie wohl sein mochte.
Ich folgte ihr auf einem schmalen Pfad am Dorf vorbei durch die Wiesen in Richtung Küste. Ich konnte bereits das Meer rauschen hören. Meine Füße schmerzten vom ungewohnten barfuß gehen und doch fühlte ich mich wunderbar und leicht.
Faolane schritt schnell und geschmeidig aus. Ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten und gleichzeitig weiter die Umgebung zu bestaunen. Hinter dem Dorf wand sich der Pfad weiter durch Wiesen, auf denen unzählige Sommerblumen wuchsen. Bald darauf erreichten wir eine steile Küste. Rote Felsen fielen hier schroff zum Meer ab und gerade, als ich mich ängstlich fragte, ob ich vielleicht an der Felswand hinunter krabbeln müsste, machte der Pfad einen Bogen und wand sich an einer weniger steilen Stelle zum Meer hinab. Auf dem Weg trafen wir auf verschiedene Gruppen von Männern, Frauen und Kindern, die beladen mit Köstlichkeiten auf dem Weg zum Strand waren. Alle trugen fließende Kleider aus ungefärbter Wolle. De Männer hatten zumeist kurze Tuniken und halb lange Hosen aus demselben Material an. Die Frauen trugen ähnliche Kleider wie ich, aber ich sah auch gefärbte Mieder, lange, weite Röcken und Schürzen. Alle schienen fröhlich und gut gelaunt und begrüßten uns freundlich. Keiner starrte mich an. Ich war zutiefst verwundert und irritiert.
Der Pfad wand sich in großen Serpentinen auf einen langen breiteren Strandabschnitt zu. Das Meer war tief blau und die Brandung wurde von vor der Küste vorgelagerten Felsen und Riffen gebrochen.
Ich atmete tief den würzig, salzigen Geruch des Meeres ein und sah Möwen in der Luft ihre Kreise ziehen. Sie schrien in der rauschenden Brandung und landeten in den Wellen. Gischt spritzte auf.
Unten am Strand waren auf großen Tüchern verschiedene einfache Speisen ausgebreitet und von mehreren, kleinen Feuerstellen zog ein Geruch zu mir, der mir das Wasser im Munde zusammen laufen ließ. Es roch nach Gebratenem und an einem Feuer drehte ein kleiner, etwas untersetzter Mann einen Spieß auf dem Fisch und Gemüse steckten. Faolane stellte ihre Kartoffeln in die Nähe einer Feuerstelle und eine Frau legte die Erdäpfel in die Glut.
Etwas abseits von den Feuern und dem Essen standen ein paar Männer mit Trommeln und anderen Instrumenten, die mir auf den ersten Blick nicht bekannt vorkamen. Einer hatte eine Art Geige in der Hand, die er gerade hingebungsvoll stimmte. „Das ist wohl die Band“, dachte ich und grinste in mich hinein.
Der Strand füllte sich zusehend und alle schwatzen und lachten miteinander. Ich stand etwas unsicher neben Faolane, die sich gerade mit einer jungen Frau unterhielt, die ein strammes Baby auf dem Arm hatte. Das alles war völlig unwirklich und ich kniff mich probehalber in den Arm. Es schmerzte, das Bild vor meinen Augen veränderte sich nicht.
Ich entdeckte Elea, die mit einem Knaben ihres Alters in der Brandung tobte. Eine Frau mit auffallend schwarzem, lockigem Haar mahnte die beiden mit einem Lächeln, sich nicht komplett nass und dreckig zu machen.
„Du musst sicher hungrig sein“, sagte Faolane dann und gemeinsam schlenderten wir auf eine der Feuerstellen zu. Auf einer Holzplatte reichte man mir gebratenen Fisch, Kartoffeln aus dem Feuer und gegrillte Tomate. Ich saß im Sand und genoss jeden Bissen. Ich hatte das Gefühl, dass ich noch nie etwas Besseres gegessen hatte. Dazu gab es süßen, schweren Wein, der meine Gedanken einlullte, wie Watte.
Die Sonne stand jetzt tief und berührte beinahe das Meer. Wie ein rotgoldener Ball tauchte sie ins Wasser und am Strand wurden einzelne Fackeln entzündet. Die Musiker hatten begonnen zu spielen. Der Rhythmus der Trommeln war wild und zwischendurch erklang die klagende Melodie eines Dudelsacks. Auch die Geige, oder das, was ich dafür hielt, fiel schluchzend in den Kanon ein. Ich wippte mit den Füßen und bestaunte die Menschen um mich herum. Jeder hatte etwas zu dem Festessen beigetragen, alles wurde geteilt und niemand schien alleine auf diesem Fest zu sein. Überall standen und saßen schwatzende Gruppen zusammen, Kinder und Hunde tobten dazwischen umher. Die Ersten hatten bereits begonnen zu tanzen. Alleine oder zu zweit hüpften oder wiegten sie sich im Takt der Musik. „Was feiert ihr eigentlich heute Abend?“, wollte ich von Faolane wissen, die neben mir saß und nur etwas Brot und Tomate aß. „Wir feiern das Leben, das Licht, die Sonne. Wir feiern das Lachen, die Freude. Wir danken IHR für die Nahrung, für das Rad des Lebens und wir feiern uns selbst und unser Glück Teil IHRES Traums zu sein“, sagte sie. Ihre Stimme klang weich und obwohl ich die Hälfte von dem, was sie sagte nicht verstand, fühlte ich mich unglaublich wohl, sicher und geborgen in ihrer Gegenwart. Dieses eigenartige Gefühl, dass ich schon in der ersten Minute unseres Treffens gehabt hatte, verstärkte sich noch. Obwohl sie mir völlig fremd war, schien ich sie schon eine Ewigkeit zu kennen.
Eine junge Frau mit langem blondem Haar, das mit einem Blütenkranz geschmückt war, tanzte vor mir barfuß im Sand. Sie sah mich an, lächelte über meine wippenden Füße und reichte mir ihre Hand um mich hochzuziehen. „Komm und tanz“, rief sie mir fröhlich zu. Ich schaute mich nach Faolane um, aber die unterhielt sich mit einem Mann, der eisgraues, langes Haar und tiefschwarze Augen hatte und an einem Stück Brot nagte.
Ich sprang auf, eilte hinter der jungen Frau her und wiegte mich im Rhythmus der Trommeln. Der Sand war warm unter meinen Füßen, die Sonne war nun fast gänzlich im Meer versunken. Das Licht am Strand war gold und rot. Es war dieses eigenartige, weiche Licht, dass es nur wenige Minuten am Tag gab. Die Zeit bevor der Tag der Nacht weichen muss und die letzten Strahlen der Sonne bereits von der aufkommenden Dunkelheit aufgesogen werden. Ich hatte es noch nie so intensiv wahrgenommen und gespürt. Die Musik riss mich mit, meine Füße bewegten sich wie von selber. Meine nackten Zehen krallten sich in den warmen Sand. War ich sonst stets darauf bedacht, wenn ich tanzte, möglichst cool und etwas sexy zu wirken, hier war es mir plötzlich egal. Ich ließ mich vom Rhythmus und der Stimmung mitreißen. Die junge Frau lachte mich an und ich wirbelte mit ihr im Kreis herum. Ihre Röcke flogen. Einige Paare tanzten ganz ineinander versunken. Andere tanzten wie ich alleine und keiner schien den anderen zu beobachten oder sich gar über die anderen und deren Bewegungen zu amüsieren. Mittlerweile senkte sich die Dunkelheit über den Strand. Im Schein der Fackeln warfen die Tänzer lange Schatten auf den hellen Sand.
Ich drehte mich im Kreis, berauscht von der Stimmung, dem Meer und dem Mond der nun voll und strahlend hell über der Bucht stand. Dann sah ich ihn plötzlich. Nur für einen kurzen Augenblick und doch reichte es, dass mir der Atem stockte. Er war größer als die anderen Männer, sehnig und seine Muskeln zeichneten sich unter der dünnen Wolltunika ab. Er hatte dunkle Haare und seine Augen schienen fast schwarz und blitzen im Fackelschein. Er tanzte mit einer jungen, blassen, rothaarigen Frau, der die dicken Locken bis zur Hüfte fielen. Seine Bewegungen waren geschmeidig und kraftvoll.
„Mein Gott, was für ein Mann“, entfuhr es mir unbewusst. Die junge Frau die mit mir tanzte, dreht sich um und folgte meinem Blick. Dann lächelte sie. „Ach, du meinst Dornat. Ja, er sieht wirklich ganz gut aus. Aber leider redet er nicht besonders viel. Er ist auch erst seit ein paar Wochen gesund. Faolane hat ihn her gebracht und lange gepflegt. Wenn du mich fragst, er ist ein wenig eigenartig, aber er versteht sich scheinbar gut mit Kellye.“ „War er krank?“ fragte ich neugierig, aber die junge Frau hatte sich schon abgewandt und drehte sich zum Klang der Musik.
„Ah, da ist Tomasz“, rief sie dann, „ich hab ihn schon gesucht.“ Sie tanzte auf einen blonden Mann zu, der sie herzlich umarmte und auf den Mund küsste. Ich drehte mich noch einmal um, aber der große, dunkelhaarige Mann war verschwunden.
Da die blonde Frau nun mit ihrem Freund tanzte, beschloss ich, Faolane zu suchen. Langsam wurde es Zeit für mich, ein paar Fragen zu stellen. War ich eben noch völlig hingerissen von der Stimmung gewesen, dachte ich nun doch plötzlich daran, wie ich eigentlich zurückkommen sollte. Die Wirkung von Wein und Mond schien nachzulassen. Mein Geist wurde wieder wacher und klarer. Faolane hatte es mir versprochen und eigenartigerweise vertraute und glaubte ich ihr, obwohl ich nicht einmal wusste, wer oder was sie war. Suchend sah ich mich um. Es wurde kühl und ich sehnte mich nach meiner Jacke. Ich entdeckte Faolane vor einem der Feuer. Ungefragt reichte sie mir einen Becher, der mit dem schweren, süßen Wein gefüllt war. „Fühlst du dich wohl?“, fragte sie. „Ja, sehr“, gab ich zu. „Aber ich muss jetzt nach Hause“, sagte ich dann fast trotzig, „man wird mich vermissen.“
„Ich weiß“, sagte sie und sah mich mit ihren goldenen Augen lange an. „Stell deine Fragen“, sagte sie dann sanft, als wenn sie gewusst hatte, dass ich genau das tun wollte.
Ich sah mich um, mittlerweile waren wohl über zweihundert Männer und Frauen am Strand. Kinder lagen schlafend an den Feuern und irgendwo wurde gesungen. Die Musik war leiser geworden.
„Sind das alles Menschen aus dem Dorf?“, fragte ich sie erstaunt. Ich hatte höchstens vierzig Hütten gezählt. „Nein, es sind auch welche aus dem Weiler hinter den Hügeln gekommen, andere aus dem Dorf am Fuße der Berge und wieder andere kommen von den Hütten drüben am Meer. Wir leben überall verstreut, aber zu den wichtigen Festen kommen viele zusammen, um gemeinsam zu danken und zu feiern.“ „Sind noch andere hier? Andere, also solche wie ich, aus…“ Ich fand nicht die richtigen Worte. „Also Männer und Frauen, die irgendwie hier herein geraten sind?“ fuhr ich stockend fort. „Du meinst Menschen von deiner Art“, sagte sie völlig ruhig und abgeklärt, als wäre es das Normalste der Welt. „Ja, einige. Es kommen immer mal wieder Menschen durch die Nebel zu uns. Einige kommen und bleiben, andere kehren in ihre Welt zurück. Die meisten kommen dann nie wieder.“ „Aber ich habe noch nie von jemandem gehört, der hier war“, platze es aus mir heraus. Sie lächelte wieder sanft und fragte dann: „Lana, was würdest du sagen, wenn dir jemand erzählen würde, dass er durch die Nebel gegangen ist und dir dann von uns erzählen würde?“ „Ich würde sagen, dass er entweder völlig verrückt oder sehr betrunken ist“, sagte ich trocken. „Siehst du, deshalb weiß niemand in deiner Welt von Salandor.“ Sie lächelte wieder.
„Aber wie kommt man her und warum? Und warum kehren Menschen zurück in meine Welt und kommen nie wieder und überhaupt, was seid ihr und wer seid ihr?“ Meine Stimme überschlug sich fast. Ich war sehr durcheinander. Hatte ich in den letzten Stunden all das verdrängt, so war ich nun umso verwirrter.
„Das sind viele Fragen, nicht alle kann und will ich dir heute Nacht beantworten. Nur so viel: Der Weg durch die Nebel ist nicht immer offen und nur wenige können ihn gehen. Kaum einer geht ihn zweimal. Wer wir sind und was wir sind, das musst du selber herausfinden. Ihr Menschen glaubt, es gibt nur vier Dimensionen, hast du je darüber nachgedacht, dass es mehr gibt, zwischen Himmel und Erde, als du und die klugen Männer und Frauen deiner Welt bisher herausgefunden haben?“ Ich schwieg. Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht.
„Ich bringe dich jetzt zurück“, sagte sie dann weich. „Ich bin mir sicher, wir werden uns wieder sehen.“
Ich machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Da war wieder diese Berührung, dieser Blick, der mich verstummen ließ und jede Widerrede im Keim erstickte. Obwohl ich noch hundert Sachen sagen oder fragen wollte, brachte ich kein Wort mehr heraus.
Sie nahm eine Fackel und führte mich den steinigen Pfad die Felsen hinauf. Noch einmal sah ich mich um und blickte auf den von Feuerschein erhellten Strand. Immer noch drangen der Rhythmus der Trommeln und die Melodie von Geige und Dudelsack an mein Ohr. Ich könnte einfach umdrehen. Mich wieder in den warmen Sand setzen, oder im Fackelschein tanzen, bis die Musik verstummte. Es wären nur wenige Schritte. Mein Herz und meine Seele schienen stumm zu weinen. Dabei kannte ich doch Nichts und Niemanden hier und doch, tief in meinem Inneren fühlte ich, dass ich Salandor vermissen würde. Ich schluckte hart, es war, als hätte ich etwas Wichtiges verloren. Ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln, mich zu sammeln, aber es wollte mir nicht richtig gelingen. Wir gingen weiter, kamen am Dorf vorbei, das im Mondschein friedlich da lag. Nur ein verschlafener Hund betrachtete uns neugierig. Irgendwo wieherte ein Pferd. Als wir an Faolanes Hütte vorbei kamen, sagte sie knapp: „Warte hier“. Kurze Zeit später reichte sie mir wortlos meine Jacke und meine anderen Kleidungsstücke. Die Schuhe fehlten, aber ich fragte nicht danach. Ich war einfach zu traurig und zu durcheinander, um mir Gedanken über ein paar fehlende, alte Wanderstiefel zu machen.
Sie führte mich zurück auf den Hügel. Schweigend schritt sie durch die im Mondlicht hell erleuchteten Wiesen. Das Gras wiegte sich silbrig und flüsternd im warmen Wind. Ich wagte kaum zu atmen, so intensiv war ihr Schweigen und die Magie dieser Nacht.
Wir erreichten den Platz, an dem ich vor ein paar Stunden gelegen hatte. War es wirklich erst wenige Stunden her? Es hätten genauso gut Tage oder Jahre gewesen sein können.
Sie sah mich lange an. Ich fühlte ihren Blick fast wie eine körperliche Berührung. Dann griff sie in ihren Beutel, der an ihrer Taille hing und holte ein kleines Amulett hervor. Es war an einem schmalen Lederband befestigt. Ohne zu fragen, hob sie meinen Zopf und legte es mir um den Hals. Es fühlte sich pulsierend und warm auf meiner Haut an. „Was ist das?“, fragte ich flüsternd.
„Als du ankamst, sagte ich dir, dass du vertrauen, sehen und verstehen sollst. Du hast mir vertraut und du hast mich und mein Volk gesehen. Nun gehe zurück in deine Welt und verstehe“, sagte sie geheimnisvoll. „Nur noch eins“, fuhr sie dann fort, „ich sehe, dass wir uns nicht für immer trennen. Solltest du Sehnsucht nach Salandor haben, gehe in den Wald, wenn der Vollmond scheint und Nebel aufsteigen. Dann und erst dann, bist du soweit und wirst alle Antworten bekommen.“ Ich sah sie fragend an, aber ihr Blick ließ keine weiteren Fragen zu.
Sie legte mir ihre schlanken Hände sanft aufs Haar. Ich schluckte hart und wollte etwas sagen, aber es kam kein Ton über meine Lippen.
„Knie dich hin“, sagte sie sanft. Ich gehorchte, völlig willenlos und sah, wie sie die Arme hob. Nebel zogen plötzlich wie aus dem Nichts auf, ich konnte nur noch ihre Silhouette vor mir sehen. Ich roch feuchte Erde, den Duft von Sommerwiesen und spürte einen sanften Windhauch. Dann sah ich vor mir den Schatten eines Wolfes. Das Tier legte den Kopf in den Nacken und stieß ein lang gezogenes Geheul aus, das in meinen Ohren widerhallte. Langsam wurde es dunkel um mich herum und die Ohnmacht erschien mir fast wie ein Geschenk.