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Peter Lentwojt Bacharach, St. Goarshausen und die Loreley

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Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) ist die poetische Umformung eines realen Schriftverkehrs betitelt, den Bettine von Arnim, geborene Brentano (1785–1859), mit Goethe (1749–1832) und seiner Mutter Catharina Elisabeth (1731–1808) geführt hat. Auf den 26. Juli 1808 datiert die Verfasserin ihre Eindrücke von einer Besteigung des Loreley-Felsens: „Hier oben sieht es so feierlich und düster aus: […] Ich sah still und einsam in die tobende Flut, die Riesengesichter der Felsen schüchterten mich ein; ich getraute kaum den Blick zu heben; […] alles wankte, – ich mußte die Augen abwenden.“1

Was Clemens Brentanos Schwester über den Felsen bei St. Goarshausen schreibt, liest sich wie die Beschreibung einer Hochgebirgstour. Zeitgenössische Illustrationen vermitteln ebenfalls Landschaftseindrücke, die eher in die Schweiz zu passen scheinen als an den Mittelrhein.

Noch Jahrzehnte später erscheint die Landschaft zwischen Bingen [→ Bingen] und Koblenz [→ Koblenz] den Rheinreisenden als zivilisationsfernes Terrain. Victor Hugo (1802–1885) lässt 1840 Bacharach vom Dampfschiff aus an sich vorüberziehen und zeigt sich erschüttert von der vermeintlich ungezähmten Natur:

Bacharach liegt in einer wilden Gegend. Wolken, fast immer über seinen Ruinen hängend, jähe Felsen und ein wilder Felsenbach umgeben würdig die alte ernste Stadt, […] Merkwürdig, ein Gürtel von Klippen hindert an allen Seiten die Anfahrt der Dampfschiffe und hält die Zivilisation fern. 2

Den gesamten Mittelrhein beschreiben Schriftzeugnisse aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Worten, die an eine alpine Szenerie denken lassen. Kulminationspunkt dieser Beschreibungen ist der Loreley-Fels bei St. Goarshausen.

Im 21. Jahrhundert wird dieser Ort den Erwartungen vieler Besucher nicht mehr gerecht. Der 132 Meter hohe Schieferfelsen ist für moderne Touristen kein Gebirge mehr. Zu beiden Seiten des Stroms lärmt der Verkehr der Straßen- und Schienenstränge, dazwischen schieben sich die Frachtkähne an den Orten St. Goar zur linken und St. Goarshausen zur rechten Rheinseite vorüber. Wenn die Fahrgastschiffe der Köln-Düsseldorfer den Felsen passieren, beschallen deren Bordlautsprecher die von Ausflüglern bevölkerten Decks mit Friedrich Silchers Melodie zu Heinrich Heines Versen: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …“3. Dann recken die Touristen die Köpfe zum Gipfel des Berges empor und sehen: nichts. Keine Loreley sitzt auf der Loreley.

Von Anfang an war da nur dieser Fels und etwas sehr viel Wichtigeres: sein Name. Der Historiker Johann Friedrich Böhmer (1795–1863) schrieb am 1. Februar 1862 in einem Brief an Alexander Kaufmann: „Daß er die Lorelei auf keine andere Grundlage als den Namen Lurlei erfunden habe, hat mir Clemens Brentano gesagt.“4 Damit ist die Entstehungsgeschichte der Loreley-Gestalt zwar nur grob, immerhin aber im Kern richtig beschrieben.5 Der Fels bei St. Goarshausen steht im Zentrum eines romantischen Schaffensprozesses, der die reale Landschaft in eine literarische überführt und sich dabei um geographische Vorgaben wenig kümmert. So tritt die bekannte Frauengestalt zunächst auch nicht hier in Erscheinung, sondern rund 14 Kilometer stromaufwärts in Bacharach:

Zu Bacharach am Rheine Wohnt eine Zauberin, Sie war so schön feine Und riß viel Herzen hin. 6

Mit diesen Versen beginnt eine Ballade in Clemens Brentanos 1801 erschienenem Roman Godwi. In ihr ist zum ersten Mal überhaupt von einer Frau die Rede, die den Namen des Loreley-Felsens trägt. Über das Schicksal seiner „Lore Lay“, wie sie zunächst in der Ballade heißt, schafft Brentano eine Verbindungslinie von jenem Ort mit dem melodisch dreifach dunklen „a“ zu jenem mit dem Echofelsen. Der Sammler schöner Klänge verknüpft zwei Orte zu einem einzigen. Zuvor erzählt er von der schönen Lore, die auf Geheiß des Bischofs von drei Rittern in ein Kloster gebracht werden soll, weil ihrem Zauber alle Männer verfallen. Unterwegs stürzt sich die junge Frau aber von einem Fels, der seitdem ihren Namen trägt:

Wer hat dies Lied gesungen? Ein Schiffer auf dem Rhein, Und immer hats geklungen Von dem drei Ritterstein:

Lore Lay, Lore Lay, Lore Lay, Als wären es meiner drei. 7

Brentano selbst versieht „drei Ritterstein“ im Godwi mit einer Fußnote und merkt an: „Bei Bacharach steht dieser Felsen, Lore Lay genannt, alle vorbeifahrende Schiffer rufen ihn an, und freuen sich des vielfachen Echo’s.“8 Bei Bacharach? Die schon erwähnte Distanz zwischen der Stadt und dem Berg dürfte Brentano ebenso bekannt wie bewusst gewesen sein. Er könnte die Legitimation für die Verlegung des Berges aber einer älteren Reisebeschreibung entlehnt haben. Im 1744 erschienenen Rheinischen Antiquarius zitiert Johann Hermann Dielhelm eine Passage aus dem 13. Kapitel der 1645 veröffentlichten Topographia Palatinatus Rheni von Martin Zeiller. Das Zitat: „Es ziehet sich das Gebürge zu beyden Seiten des Rheins bey Bingen nach und unter Bacharach hinab, und ist von den Alten der Lurleyberg genennet worden. In diesem Gebürge befindet sich auch ein sonderbar lustiges Echo oder ein Wiederschall.“9


J. J. Tanner: Ansicht von Bacharach, Stich um 1850

Einen gewissen Bekanntheitsgrad des Rheinischen Antiquarius vorausgesetzt, konnte Brentano sich zu seiner Zeit auf eine gewohnte Verortung des Loreley-Felsens stützen und ihn damit bei Bacharach lokalisieren.10 Über die wahre Herkunft der Loreley äußert sich Clemens Brentano aber erst in den zwischen 1810 und 1812 entstandenen „Mährchen vom Rhein“11, in denen er aus der bürgerlichen Lore Lay die geheimnisvolle Frau Lureley gemacht hat:

Frau Lureley ist eine Tochter der Phantasie, welches eine berühmte Eigenschaft ist, die bei Erschaffung der Welt mitarbeitete und das allerbeste dabei tat; als sie unter der Arbeit ein schönes Lied sang, hörte sie es immer wiederholen und fand endlich den Widerhall, einen schönen Jüngling, in einem Felsen sitzen, mit dem sie sich verheiratete und mit ihm die Frau Lureley zeugte; sie hatten auch viele andere Kinder, zum Beispiel: die Echo, den Akkord, den Reim, deren Nachkommen sich noch auf der Welt herumtreiben. 12

Aus der Zauberin ist eine bezaubernde Kunstfigur geworden. Eine allegorische Gestalt, die selbst aus der Vereinigung göttlich-menschlicher Phantasie mit einer natürlich vorgefundenen Größe, dem Widerhall, hervorgegangen ist, und nun weitere Kinder in die Welt setzt. Kinder aber, von denen sich nur noch die „Nachkommen […] herumtreiben“: Je größer die Distanz zwischen der Verschmelzung von Natur und Phantasie wird, desto weniger Kunstfertigkeit zeichnet die Epigonen aus. Brentano nimmt an dieser Stelle das weitere Schicksal seiner Erfindung vorweg. Noch in Heines Gedicht war 1823 die allegorische Loreley deutlich zu identifzieren:


Carl Joseph Begas: die Lureley, Öl auf Leinwand, 1835

[…]

Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar; Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Landschaft und Loreley-Gestalt korrespondieren hier miteinander unmittelbar. Unten fließt der ruhige Strom, oben sitzt die Jungfrau und kämmt sich gelassen. Das Licht der Landschaft lässt das kunsthandwerklich gefertigte Geschmeide am Hals der Frau aufblitzen, während diese einen naturgewaltigen Gesang anhebt und ihr „goldenes Haar“ pflegt:

Sie kämmt es mit goldenem Kamme Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei.13

Heinrich Heine (1797–1856) führt das Konstrukt einer romantischen Allegorie nochmals klar vor Augen, ehe es im Klischee untergeht: Die Landschaft erzeugt eine Stimmung, die eine Menschengestalt befähigt, originäre Kunst hervorzubringen. Kunst, die wieder Natur geworden ist, in einer Natur, die Kunst evoziert.

Hunderte von Loreley-Texten später hat sich das romantische Konzept mit dem Landschaftsempfinden verflüchtigt, aus dem jenes einmal hervorging. Am Ende des 19. Jahrhunderts steht die Poesie der Rheinlandschaft in Frage. Der Kunstkritiker Ludwig Hevesi (1843–1910) gab 1892 einer ironischen Erzählung den Titel Lorelei. Darin schreibt er: „Wir stritten darüber, ob es hier oben poetisch sei oder nicht. Tief unten im Rhein wühlte der Bagger, der schon die ganzen ‚Felsenriffe‘ beseitigt hat, und ein neuer großer Winterhafen streckte seinen blanken Steindamm aus“14.

Der Felsen bei St. Goarshausen ist heute Teil der am 1. Juli 2012 gegründeten Verbandsgemeinde Loreley, der neben St. Goarshausen die Orte Braubach und Kaub sowie 19 eigenständige Ortsgemeinden angehören. Bacharach hat mit ihm nur noch in der Poesie des vorletzten Jahrhunderts zu tun.

1 BvA, Bd. 2, S. 181f.

2 Victor Hugo: Rheinreise. Mit einem Nachwort von Friedrich Wolfzettel. Frankfurt 1982, S. 93f.

3 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. 2. Auflage. Bd. 1. München/Wien 1975, S. 107.

4 Joh. Friedrich Böhmer‘s Briefe und Kleinere Schriften. Hrsg. von Johannes Janssen. Bd. 2. Freiburg 1868, S. 379.

5 Einzelheiten erschließt das Kapitel „Clemens Brentanos Erfindung der Loreley-Gestalt“ in Peter Lentwojt: Die Loreley in ihrer Landschaft. Romantische Dichtungsallegorie und Klischee. Ein literarisches Sujet bei Brentano, Eichendorff, Heine und anderen. Frankfurt 1998, S. 43–201.

6 FBA, Bd. 16, S. 535.

7 Ebd., S. 539.

8 Ebd.

9 Johann Hermann Dielhelm: Denkwürdiger und nützlicher Antiquarius […] des ganzen Rheinstroms […]. 2. Aufl. Frankfurt 1744, S. 610. Vgl. hierzu Wolfgang Bunzel: Clemens Brentano, die Loreley und Bacharach. Bacharach 2013 (= Verein für die Geschichte der Stadt Bacharach und der Viertäler e.V. – Kleine Schriftenreihe 26).

10 Vgl. Lentwojt 1998, S. 112.

11 Zum Titel der Märchensammlung vgl. Lentwojt 1998, S. 147f.

12 Clemens Brentano: Werke. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp. Bd. 3. 2., durchgesehene und im Anhang erweiterte Auflage. München 1978, S. 94.

13 Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 107.

14 Ludwig Hevesi: Von Kalau bis Säckingen. Ein gemütliches Kreuz und Quer. Stuttgart 1893. S. 176f.

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