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Hilmar Hoffmann Zur Einstimmung
ОглавлениеWenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen […] Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Novalis
Wie aufregend nah uns Heutigen die als Romantik verklärte Zeit, ihre Mentalität, ihre hochfliegenden Ideen und Utopien immer noch sind, das veranschaulichen die historischen Rückgriffe auf jene große geistesgeschichtliche Epoche in den hier vorliegenden Essays und Ortsartikeln. In dieser „Topographie der Romantik“ vermessen die Autoren deren Koordinaten im Rhein-Main-Gebiet.
Jenes Konzept der Romantik, in der Poesie, den bildenden Künste und der Musik die Welt im Überschwang der Gefühle zu betrachten, hat das Autorenteam in ihrem Ehrgeiz vereint, uns über diese nachhaltig wirkende Geistesepoche kenntnisreicher und ortskundiger zu machen, um so unsere Neugier zu entfachen. Um die Dimensionen der Romantik tiefer auszuschürfen, verspricht das Buch, das heute noch Gültige der romantischen Welterfahrung als schöne Bereicherung unserer „bleiernen Zeit“ zu entdecken. Die Autoren möchten den Nerv der damaligen Zeit freilegen, indem sie vorzüglich das kreative Erbe der Dichter und Erzähler würdigen und als reiches Vermächtnis wieder bewusst machen. Wir sollten so lernen, die einander über Ländergrenzen hinweg befruchtenden Interferenzen eines subjektiven Idealismus als Ausdruck der Einheit von landschaftlichen Impressionen und seelisch-geistigen Befindlichkeiten klarer wahrzunehmen. Ähnlich wie die Malerei von ehedem durch literarisches Ideengut inspiriert war, wurde in jener Stilepoche auch die Musik lyrisch innerviert. Berlioz bemüht sich um die Erweiterung der malerischen Ausdrucksmittel in der Musik. Und Franz Schubert beseelt in seinen Liedern lyrische Texte von Goethe (Heidenröschen), Heine (Am Meer), Rückert (Du bist die Ruh) oder Müller (Die schöne Müllerin), die in altersloser Schönheit noch heute unser Herz ergreifen.
„Die Welt muss romantisiert werden“, forderte einst Novalis und erklärte zugleich, wie dies zu bewerkstelligen sei: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, romantisiere ich es.“ Diese Sehnsucht nach einer Verwandlung der Welt durchpulst die einzigartige Sammlung von 130.000 Bänden und Bildern im Freien Deutschen Hochstift mit dem Schwerpunkt auf der Goethezeit, darunter berühmte Editionen von Clemens und Bettine Brentano, Novalis, Joseph von Eichendorff, Ludwig Tieck, Karoline von Günderrode und Friedrich Schlegel, der neben Ludwig Tieck und Novalis die „Romantische Schule“ mitbegründete. Seine Kunstlehre diente dem Zweck der Kunst, die „Schönheit des Lebens“ hervorzubringen. Wie an keinem anderen Ort der Welt ist in den reichen Beständen des Frankfurter Goethe-Museums die Romantik als einzigartiger Beitrag zur deutschen wie europäischen Geistesgeschichte dokumentiert.
Diese Romantik genannte geistes- und literaturgeschichtliche Epoche der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein gesamteuropäisches Ereignis. In Deutschland stieg sie zum damals dominierenden Kunstprinzip auf, wurde freilich aber erst vom „letzten abgedankten Fabelkönig der Romantik“, wie Heinrich Heine sich selbstironisch nannte, „populär“ gemacht. Indem die Künste und die Literatur der Romantik das Reale nicht einfach nur abbilden, sondern es auch verdichten, also poetisieren und in eine Funktion des Unendlichen der Seele und des Gemüts, des Gefühls und des Intellekts verwandeln, setzen sie das Endliche mit dem Unendlichen in eins. Denn „nichts ist dem Geist erreichbarer als das Unendliche“, sagt Novalis. Der Versuch, diese Semantik zu ergründen und die eigentliche Bedeutung solch schwärmerisch aufgeladener, heute oft pejorativ gebrauchter Begriffe wie arabesk, arkadisch, bukolisch, elegisch, elysisch oder magisch aufzuklären und sie damit zu rehabilitieren, scheint mir in den Buchbeiträgen gut gelungen.
Zur Analyse und Reflexion solcher Themen wie Naturbeseelung, Unendlichkeitssehnsucht, irrationale Fantastik und Erweckung eines neuen, teils auch chauvinistischen Nationalbewusstseins braucht es für das Nacherleben aber einen dauerhaften intellektuellen Diskurs. Und dafür wiederum brauchen wir eine Kunst der hedonistischen Vermittlung, weil nur mit neugierig machenden Anlässen für eine intellektuelle Besitzergreifung Vergnügung versprochen werden kann. Von deren vielerlei Möglichkeiten profitieren die Autoren wie auch ihre Leser.
Fünf ausführliche Essays vergegenwärtigen die romantische Konvergenz von Reise, Dichtung und Politik unter dem Aspekt der damaligen poetischen Weltbetrachtung, durch welche die romantischen Dichter und Erzähler das, was sie als absolut setzten, mit schwärmerischen Impetus und empfindsamer Feder zu vermitteln hofften: nichts Geringeres als die himmlische Unendlichkeit. Sie interpretieren die sehnsuchtsvolle Ergriffenheit der Romantiker als Fantasie von etwas, womit sich in der Realität kaum etwas in Beziehung setzen ließ. Einundzwanzig Ortsartikel vergegenwärtigen, wo Vertreter der deutschen und europäischen Romantik gelebt und gewirkt haben, wohin ihre Reisen sie geführt haben, welchen Eindruck die Landschaft der Region auf ihr Schaffen gemacht hat.
Die Autoren dieses Buches belegen mit ihren Beiträgen, dass diese Region allein schon durch die Vielzahl der Dichterreisen an die Ufer des Rheins und des Mains eine bedeutende Landschaft der Romantik ist. Sie möchten mit den in der Rhein-Main-Region zum Teil neu entdeckten Zeugnissen aus der Blütezeit der Romantik deren Botschaften entschlüsseln helfen. Ja, sie versuchen Antworten auf die Frage zu geben, wie sich im Rückgriff auf die Dichter jener ästhetischen Hochkultur in unserer algorithmengläubigen digitalen Welt der „Zahlen und Figuren“ (Novalis) das Nach-Denken über dieselbe befördern ließe. Ästhetik und Ethik der Romantischen Schule sind in den Buchbeiträgen durch konkrete Beispiele als idealischer Kosmos erkennbar gemacht worden, durch den die Kunst im Sinne Kants auch den Unbedarften durchs „Morgentor des Schönen“ in das Land der Sittlichkeit und Erkenntnis führt.