Читать книгу Kind der Drachen – Vernunft oder Liebe? - Sabine Hentschel - Страница 5
Der Schock sitzt tief
ОглавлениеGarushins düstere Worte klangen in Daamiens Ohren nach: Dann kommen wir überein, dass Cara Buradi für schuldig befunden wird. Um weitere Vorkommnisse zu vermeiden übergeben wir sie in die Obhut des Hüters Marces. Alle Entscheidungen und Belange, die sie und ihre Person betreffen, werden von ihm getroffen. Sie ist als sein Eigentum zu betrachten - Daamien schüttelte verärgert den Kopf.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, murmelte er wütend vor sich hin, während Nerifteri mit blassem Gesicht noch immer neben ihm auf der Bank saß. Sie vermochte kein Wort mehr zu sagen. Wie konnte es nur soweit kommen? Daamien gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn um sie zu beruhigen.
»Was wird jetzt mit Niel?«, wandte sich Varush an ihn.
»Ich habe keine Ahnung. Wirklich. Das habe ich nicht erwartet«, antwortete Daamien leise.
»Du musst zu ihm.«, flüsterte Nerifteri plötzlich. »Du musst ihm Mut machen.«
»Kann ich dich wirklich mit Varush allein lassen?«, hakte Daamien besorgt nach. Nerifteri nickte und versuchte ein wenig zu lächeln. Sie wusste, dass Niel Daamien jetzt mehr brauchte als irgendjemand sonst.
»Gut, ich suche ihn«, erwiderte Daamien und verließ daraufhin den Saal. Während er den anderen Unsterblichen durch die engen, dunklen Gänge zu den Treppen folgte, blickte er sich suchend nach Garushin um, in der Hoffnung, dass dieser wusste, wo man Niel hingebracht hatte. Ganz am Ende des Ganges konnte er ihn schließlich ausmachen.
»Garushin!« Aber Garushin reagierte nicht.
»Garushin!«, rief er erneut und blieb hartnäckig an ihm dran. Erst in dem Moment, als beide die Treppe erreichten, wandte sich Garushin zu ihm um. »Daamien, ich habe nicht viel Zeit. Ich habe noch andere Verpflichtungen. Was gibt es denn?«
»Wenn du erlaubst, würde ich gern noch einmal mit Niel reden, bevor wir abreisen«, antwortete Daamien ruhig und besonnen.
Garushin verzog kurz die Mundwinkel, ließ ihn aber gewähren. »Du hast meine Erlaubnis. Frag Tamilia, wo sie ihn untergebracht hat.«
Dann wandte er sich von Daamien ab und ließ ihn allein zurück. Daamien verbeugte sich, bevor er, über die Unsterblichen blickend, nach Tamilia Ausschau hielt. Der Großteil der Unsterblichen schien froh darüber zu sein, die Insel endlich wieder verlassen zu können. Sie drängten in Strömen nach draußen, als gäbe es kein Morgen. Man hatte das Gefühl, dass jederzeit eine Panik ausbrechen könnte und sie sich gegenseitig zertrampelten. Es dauerte eine Weile, bis Daamien Tamilia auf der anderen Seite des Treppenaufgangs ausmachen konnte.
»Wo ist Niel?«, rief er ihr zu. Sie reagierte zunächst nicht. Ihr mürrischer Blick zeigte ihm, dass sie sich insgeheim fragte, wieso ausgerechnet sie diese Aufgabe übernehmen musste. Sie war schließlich die Prinzessin und keine Bedienstete ihres Vaters.
»Niel ist im Kerker: dritte Ebene, rechter Turmabstieg.«,
rief sie ihm schließlich zu. »Aber du solltest dich etwas gedulden. Marces ist gerade bei ihm.«
Daamien nickte ihr dankend zu und lief hinunter zum Kerker. Weit kam er allerdings nicht. Darvu hielt ihn auf der ersten Eben auf und versperrte ihm den Weg. »Der Hüter ist bei dem Gefangenen. Er hat angeordnet, dass niemand sie stören darf. Nicht einmal Garushin.« Daamien runzelte verärgert die Stirn. Was sollte das?
Was hatte Marces bloß vor?
Er lief daraufhin schnellen Schrittes wieder nach oben zum Saal und suchte nach Varush und Nerifteri. In dem Gedrängel gestaltete sich das Ganze gar nicht so einfach. Er blickte sich mehrmals um. Die Vampire rempelten links und rechts an ihm vorbei. Man konnte ihre Abneigung ihm gegenüber im Raum spüren. Daamien versuchte sie so gut er konnte zu ignorieren. Er wusste, dass er sich von ihnen nicht aus der Reserve locken lassen durfte.
»Vater! Hier sind wir!«, rief ihm Varush zu, der seinen Vater von oben bereits entdeckt hatte. Er stand auf einem der Treppenabsätze und unterhielt sich mit seiner Mutter, Geremon und Tassi. Tassi schien sichtlich besorgt. Bei jedem Satz schüttelte sie ungläubig den Kopf.
Daamien trat zu ihnen und ergriff energisch den Arm seines Sohnes. Dann flüsterte er ihm ins Ohr: »Bring deine Mutter sofort nach Hause. Dann gehst du mit Andal zum Haus der Vampire und holst die anderen Drachen. Wenn irgendjemand versucht dich aufzuhalten, halt ihnen die Erklärung des Konzils vor. Sie sind alle mit dem Ende des Konzils freigesprochen. Eine Kopie dieser Erklärung liegt auf meinem Schreibtisch. Hol sie dir vorher. Ich werde ihnen erklären was passiert ist, wenn ich zurück bin.«
»Was ist los?«, hakte Nerifteri verunsichert nach.
Daamien gab ihr einen kurzen Kuss. »Ich bin mir nicht sicher. Sie lassen mich nicht zu Niel. Marces soll gerade bei ihm sein.«
Dann wandte er sich wieder an Varush: »Geht jetzt! Ihr müsst euch beeilen.«
Varush nahm sofort die Hand seiner Mutter und lief ohne ein weiteres Wort zu sagen, mit ihr davon.
Daamien blickte ihnen traurig nach und murmelte dabei in sich hinein: »Irgendwas stimmt hier nicht.«
Tassi sah ihn besorgt an. »Was meinst du, Daamien? Wo ist Cara? Wie geht es Niel?«
»Gilion hat Cara weggebracht. Ich nehme an, man hat sie in Marces’ Zimmer eingesperrt. Zu Niel lässt man mich im Moment nicht«, antwortete Daamien leise.
»Das ist nicht fair. Wir hatten gegen eine Bestrafung der beiden gestimmt«, fügte Tassi traurig an.
»Wie meinst du das?«, hakte Daamien verdutzt nach.
Tassi seufzte. Sie wusste ja selbst nicht so recht, wie sie das erklären sollte. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Aber wenn sie an den Morgen und die Abstimmung dachte, musste sie traurig den Kopf schütteln. Sie hatten lange diskutiert, geredet und versucht zu vermitteln. Aber der Großteil der Trolle war entweder so stur, dass es ihnen egal war, was passierte – sie würden ja schließlich länger leben als alle anderen – oder hatten einfach nur Angst vor Garushins Macht und seiner Vergeltung. Tassi blickte nachdenklich über die Unsterblichen.
Was war bloß aus ihnen geworden? Was hatte die Zeit aus ihnen gemacht?
»Es gab eine ziemlich heftige Debatte heute Morgen. Die meisten Trolle scheinen zu viel Angst vor Garushin zu haben. Nur deshalb kam es zu dieser Entscheidung. Unsere Stimmen haben nicht ausgereicht«, erklärte Geremon schließlich.
Daamien runzelte die Stirn. »Er versucht alles zu kontrollieren. Das ist keine Demokratie, das ist eine Diktatur. Ich muss zu Niel. Ich muss mit ihm reden.«
»Was ist mit Cara?«, wollte Tassi wissen, während Daamien bereits am Gehen war. Sie war sichtlich besorgt.
»Einer nach dem anderen. Niel braucht mich jetzt zuerst. Cara ist stark genug alleine klar zu kommen. Sie wird durchhalten«, antwortete er und verschwand.
»Hoffentlich hat er recht«, flüsterte Tassi Geremon zu, während sie bemerkte, dass Tamilia sie aus dem Augenwinkel beobachtete.
Geremon nickte zustimmend. »Das hat sie wirklich nicht verdient.«
»Wir sollten gehen. Man beobachtet uns«, fügte Tassi leise an.
Geremon blickte über die anderen Unsterblichen zu Tamilia. »Sie wird immer mehr wie ihr Vater. Wir sollten uns vor ihr in Acht nehmen. Unser Kampf für Cara und Niel wird Garushin und ihr nicht gefallen haben. Reise bitte nicht allein zurück.«
»Keine Sorge«, antwortete Tassi. »Mein Vater Kelpie und meine Schwester Nemie werden mich begleiten. Was ist mit dir?«
Geremon trat langsam die Treppe hinunter. »Ich werde mich den anderen Baumtrollen anschließen, auch wenn ich sie eigentlich nicht leiden kann. Wenigstens jetzt sollten wir zusammenhalten.«
Während Daamien mit den anderen redete, sprach Marces mit Niel. Darvu hatte ihn direkt nach der Urteilsverkündung zurück in den Kerker gebracht, allerdings auf eine tiefer gelegene Ebene als zuvor. Auch war die Zelle größer als die vorherige. Es standen ein größeres Bett, ein Tisch und ein Stuhl darin. Durch ein kleines Fenster konnte man nach draußen auf die Klippen sehen.
Niel trat zum Fenster und seufzte leise: »Ich fasse es einfach nicht.«
»Na sieh mal einer an. Der aufmüpfige Junge begreift endlich die Konsequenzen seines Handelns.« Marces trat mit energischem Schritt in die Zelle. »Und, hast du dir deine Zukunft so vorgestellt? Den Rest deines Lebens hier in diesem Kerker zu verbringen? War es das alles wirklich wert? Hast du jetzt das, was du wolltest? Du solltest endlich lernen dich anzupassen!«
Niel drehte sich verärgert zu ihm um. »Ich werde mich niemals an ein so korruptes System anpassen. Eher sterbe ich hier drin, als vor Garushins Füßen wie ein Wurm zu kriechen. Ich bin ein Drache, kein Haustier!«
Marces lachte laut.
»Natürlich. Vielleicht reden wir in 200 Jahren noch einmal darüber. Ich bin mir sicher, dass du jetzt genug Zeit haben wirst um nachzudenken«, rügte er ihn.
»Ich werde mich nicht beugen!«, erwiderte Niel entschlossen und zornig zugleich.
»Tamilia wird dir deinen Hochmut schon austreiben«, entgegnete Marces und wandte sich sichtlich gelangweilt von ihm ab. In dem Moment, wo er die Zelle verließ, fügte er noch hinzu: »Ich werde dasselbe auch mit Cara tun.«
Niel schnaubte vor Wut. Am liebsten hätte er Marces am Kragen gepackt und gegen die Wand geschleudert, aber Marces war schneller und schlug ihm die Kerkertür direkt vor der Nase zu.
»Wir sehen uns«, antwortete er höhnisch.
»Lass sie gefälligst in Ruhe! Wenn ich hier raus komme, bring ich dich um!«, schrie Niel im hinterher.
Marces reagierte nicht darauf. Er hatte erreicht, was er wollte. Als er grinsend die Stufen des Kerkers wieder nach oben trat, traf er auf Darvu.
»Mein Hüter, Daamien möchte mit dem Gefangenen sprechen. Erlaubt Ihr?«, fragte Darvu ihn.
Marces sah Darvu fragend an. »Weswegen?«
»Ich weiß es nicht, mein Hüter«, erwiderte Darvu. »Soll ich ihn holen, damit Ihr ihn fragen könnt?«
Marces nickte. Er traute Daamien nicht.
Während er darüber nachdachte was Daamien mit Niel besprechen wollte, lief Darvu nach oben zu den Treppenhäusern und fing ihn auf seinem erneuten Weg nach unten ab.
»Der Hüter möchte mit Ihnen reden«, sagte er zu Daamien und deutete ihm an ihm zu folgen. Dieser tat, wie es ihm geheißen wurde.
Als sie Marces erreichten, fragte dieser Daamien sogleich: »Weswegen willst du zu Niel?«
Daamien versuchte ihn mit ruhiger und besonnener Haltung zu überzeugen. »Ich will ihn nur etwas zur Besinnung bringen. Er wird Tamilia sonst nur noch mehr Ärger machen. Ich werde des Weiteren persönlich dafür sorgen, dass die Drachen nach Hause, nach Norwich, gebracht werden. Sie werden dir keine Probleme mehr machen.«
Marces musterte Daamiens Mimik, bevor er ihm antwortete: »Nun gut. Du kannst zu ihm. Treib ihm seinen Starrsinn aus. Ich werde umgehend abreisen. Es ist besser, wenn Cara vorläufig keinen weiteren Umgang mit den anderen Drachenkindern hat.«
Daamien bedankte sich mit einer Verbeugung um seinen Respekt zu zeigen. Er hatte jedoch alle Mühe dabei seinen Ärger zu verbergen, während Marces Darvu befahl: »Bring ihn runter.«
Dann wandte er sich von beiden ab und lief nach oben. Darvu führte Daamien schließlich zu Niels Zelle.
»Sie haben zehn Minuten«, sagte er zu Daamien, als er die Zellentür aufschloss. Daamien gab Darvu mit einem Nicken zu verstehen, dass er sich daran halten würde.
»Daamien, wo ist Cara?«, polterte es sogleich aus Niel heraus, als er Daamien erblickte.
Daamien schloss langsam die Kerkertür. Er seufzte leise: »Es tut mir leid.«
Daraufhin legte Niel die Hand auf Daamiens Schulter. »Es ist nicht deine Schuld. Aber ich glaube dir jetzt. Diese Welt ist korrupt und sie tanzen alle nach Garushins Pfeife. Es ist eine Diktatur, keine Demokratie!«
»Ich hatte dich gewarnt«, antwortete Daamien verhalten. »Sie werden sich nicht ohne triftigen Grund gegen Garushin stellen. Eher versinken sie in ihrem Elend und in ihrer Angst.«
»Ich weiß, mein Freund. Das habe ich jetzt begriffen. Ich stehe hinter dir. Egal was nun kommen mag«, antwortete Niel entschlossen. Dann trat er zurück an das Fenster.
Er blickte besorgt nach draußen. »Wo ist sie?«
Daamien folgte ihm zum Fenster und flüsterte: »Bei ihm. Sie werden umgehend abreisen. Er will sie unbedingt von Allen abschotten.«
Niel kochte vor Wut und schlug mit der Faust gegen die Wand, auf der sich sofort eine schimmernde Eisschicht bildete. Er hatte gehofft, dass der Schmerz, der ihn durchfuhr, jenen anderen um Cara überdecken würde. Aber es half nichts: sein Herz bebte, sein Puls kochte. Er mochte sich nicht ausmalen, was Marces mit Cara anstellen würde.
Daamien packte ihn an der Schulter. »Du musst dich zusammenreißen! Deine Wutausbrüche werden keinem helfen!«
»Was soll ich denn sonst machen? Mich ihnen ergeben?«, fragte Niel. »Soll ich mich in Ketten legen lassen wie Zephus?«
Daamien blickte ihn entschlossen an. »Ich will, dass du durchhältst. Mach, was sie sagen und versuch dich zurückzuhalten. Ich finde einen Weg dich hier wieder rauszuholen.«
Niel blickte ihn fragend an. »Was hast du vor?«
Um sicher zu gehen, dass Darvu sie nicht belauschte, sah Daamien sich um. »Ich lasse mir was einfallen. Bis dahin hältst du die Füße still. Verstanden?«
Niel nickte: »Aber eine Sache musst du mir versprechen!«
»Welche?«, wollte Daamien wissen.
»Versprich mir, dass du sie da rausholst!« erwidert Niel energisch. »Und zwar erst sie, dann mich!«
Daamien blickte ihn verwundert an. Er hätte gewettet, dass Niel alles dafür gegeben hätte so schnell wie möglich den Kerker verlassen zu können und nun wollte er warten?
Was verband Niel und Cara wirklich miteinander? Hatte er etwas übersehen? Daamien grübelte vor sich hin. Wie sollte er das Alles bloß anstellen? Die ganze Sache wurde immer verzwickter. Alles schien aus dem Ruder zu laufen. So hatte er das nicht geplant.
»Versprich es!«, forderte Niel erneut.
»Ich werde es versuchen. Aber sie wird eine Weile ohne uns durchhalten müssen. Das wird nämlich nicht einfach«, antwortete Daamien schließlich. Er hatte beim besten Willen keine Ahnung, wie er das in aller Welt bewerkstelligen sollte. Niel rauszuholen erschien ihm deutlich einfacher, als Cara zu befreien.
»Sie ist stark«, erklärte Niel ihm daraufhin. »Sie wird durchhalten. Ich glaube an sie.«
Daamien klopfte ihm auf die Schulter. »Wir schaffen das.«
Im selben Moment öffnete Darvu die Tür und bat Daamien wieder nach draußen. Niel seufzte leise, als ihm bewusst wurde, dass er nun auf sich allein gestellt war.
Er dachte an Cara und die anderen. Was würde nun aus ihnen werden? Wie sollte er diese quälende Einsamkeit überstehen? Er setzte sich auf das Bett und ließ sich an die Wand zurück sacken. Dann seufzte er und blickte nach draußen aufs Meer. »Ich bitte euch nur um eine einzige Sache, ihr Trolle der Meere und der Winde: Beschützt Cara! Beschützt die Liebe meines Lebens.«