Читать книгу Die Ahnen des Silberspiegels - Sabine Hoffelner - Страница 11
Kapitel 4
ОглавлениеCorum war es gar nicht wohl. Nachdem er sich von Anud verabschiedet hatte, war ein ungutes Gefühl in seinen Bauch hineingekrochen. Und dieses Gefühl ließ ihn nicht mehr los. Es hatte ihm auf dem Heimweg die Beine schwer gemacht. Und als er dann zu Hause war, hatte es seine Hände so ungeschickt werden lassen, dass Balothu ihn nass gespritzt und weggeschickt hatte, weil er auf der Harfe kaum einen Ton getroffen hatte.
Jetzt saß der Sänger in seiner Hütte und grübelte. Der Bärenwald war, soweit Corum das sagen konnte, schon ganz in Ordnung. Auch wenn die Wächterbäume so ihre Eigenarten hatten. Corum hatte sich noch nie wirklich mit ihnen unterhalten und besonders musikalisch waren sie auch nicht. Dafür aber ziemlich steif und eingebildet. Nur wer sie sehr höflich darum bat und ihnen schmeichelte, hatte eine Chance, in ihr Herrschaftsgebiet eingelassen zu werden. Ildagars Soldaten würden sich bestimmt nicht die Mühe machen, ihre Eitelkeit zu streicheln. Aber selbst wenn die Soldaten den Wald vermutlich nicht betreten konnten, gab es dort noch genügend Gefahren.
Auf einmal wurden Corums Beine so unruhig, dass er aufstehen musste. Er begann zu laufen, stolperte immer schneller im Kreis durch den kleinen Raum. Und mit jedem Schritt wurde die Angst in seinem Bauch größer. Schließlich rannte er, wie wenn all die Bären, Wölfe und Unholde des Waldes bereits hinter ihm her wären. War es wirklich eine so gute Idee gewesen, Anud in die Höhle zu bringen?
Da fingen seine Ohren etwas ein. Corum erstarrte. Er schüttelte den Kopf. Nein, da war nichts – oder doch? Er lauschte mit rasendem Herzen in die Stille. War es nur seine Angst, oder war da draußen wirklich etwas? Corum strengte seine Sinne aufs Äußerste an, und dann wurde ihm klar, dass er tatsächlich etwas hörte. Es war kein wirkliches Geräusch, eher eine Stimmung, die sich in der vertrauten Melodie der Landschaft um ihn herum, verändert hatte.
Mit zittrigen Knien drückte er seine Harfe an sich. Dann schlich er nach draußen. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Nichts.
Plötzlich hörte er, wie Balothu aufgeregt zu brausen begann. Der kleine Mann machte ein paar Schritte auf seinen Freund zu und erschrak. Der Fluss peitschte wild gegen sein Ufer, spritzte und gurgelte, wie der Sänger es noch nie erlebt hatte.
„Was ist los?“, quetschte Corum durch seine trockene Kehle.
„Gefahr“, antwortete der Fluss, und sein Wasser brodelte, wie wenn es kochen würde. „Die Bäume haben es mir gesagt. Geh in den Wald, Gefahr!“
Corums Knie gaben nach. „Ist Anud in Gefahr? O Balothu, ich habe es geahnt! Warum hab ich sie nur so leichtsinnig im Stich gelassen?“ Und im selben Moment war ihm die Antwort klar. Seine Angst vor dem Wald war es gewesen. Er hatte so schnell wie möglich wieder zu seiner Wiese zurück gewollt, wo er den Himmel über sich sehen konnte und lauter friedliche Wesen um ihn herum waren. Er hatte nur an sich gedacht.
Voller verzweifelter Wut schlug der kleine Mann seine Fäuste auf den Wiesenboden. Er wusste, dass er sofort loslaufen musste, um zu retten, was noch zu retten war. Aber seine Beine schlotterten vor Angst. Er fühlte sich wie gelähmt. Was würde ihn dort im Wald erwarten? Zerriss gerade ein wilder Eber seine Freundin? Oder hatte ein bösartiger Baum sie geschnappt, um sie mit seinen Ästen zu erwürgen? Oder war sie in eine Bärenfalle gestürzt? Lag sie bereits mit zerschmetterten Gliedern in einem Felsloch? Oder …
„Lauf los, Corum, lauf!“
Eine eisige Woge ergoss sich über den Sänger. Das half. Er rappelte sich hoch, umklammerte seine Harfe und begann zu rennen.
Einige Zeit später war er bei dem versteckten See angekommen. Er zitterte so sehr, dass er ein paar Mal fast ausgerutscht wäre, als er das Wasser auf den schmierigen Steinen überquerte. Dann kletterte er zur Höhle hoch. Sie war verlassen. Hastig blickte er sich nach seiner Freundin um. Doch sie war nicht da.
Plötzlich erfassten seine Ohren etwas. Corum ging hinaus und lauschte. Es war völlig windstill. Trotzdem bewegten sich die Wipfel und raunten. Das Geräusch wurde lauter, intensiver. Immer mehr Bäume stimmten in den eigenartigen Gesang mit ein. Etwas Bedrohliches lag in dieser Melodie. Ein jämmerliches, verzweifeltes Stöhnen erfüllte den ganzen Wald, die Stämme wanden sich, wie wenn sie furchtbare Schmerzen hätten. Corums Kehle wurde immer enger. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht!
Da veränderte sich der Chor der Bäume, und zu dem Stöhnen gesellte sich ein leises Flüstern. Aus dem Flüstern wurden Worte.
„Geh zu Orumban, beeil dich!“
Der kleine Mann kannte niemanden mit diesem Namen. Er kannte auch diese Bäume nicht. Was wollten sie von ihm?
„Wer ist Orumban? Was soll ich bei ihm? Wisst ihr, wo Anud ist, die ich gestern hierher gebracht habe?“
„Er ist unser Bruder. Er braucht dich. Anud braucht dich. Geh zu Orumban.“
Jetzt war Corum ganz schlecht vor Sorge. „Wo finde ich denn diesen Orumban?“
Da zeigten die Bäume dem Sänger den Weg, so, wie sie es heute schon einmal für Anud getan hatten. Corum rannte los, und dabei stolperte er immer wieder über Steine und Wurzeln. Mit jedem Schritt wurde ihm heißer. Und dann roch er den Qualm. Der Pfad, den ihm die Bäume wiesen, führte ihn genau auf eine kleine Lichtung zu, an deren Rand eine mächtige Eiche in Flammen stand.
Corum stieß einen entsetzten Schrei aus. Dann hielt er sich die Augen zu. Es war so schrecklich! Der Baum, in dessen Stamm schemenhaft die Gestalt eines Mannes zu erkennen war, wand sich in Todesqualen, während sich unzählige Flammen durch seine Rinde fraßen. Schmerzvoll verrenkte Äste standen nach allen Seiten unnatürlich ab. Sie hatten bereits die benachbarten Bäume und das Unterholz entzündet.
Es dauerte nicht lange, da war Orumbans Lichtung von dem Feuermeer vollständig umschlossen. Fassungslos starrte der kleine Sänger in das Inferno um ihn herum, das mit jedem Herzschlag schlimmer wurde. Doch selbst wenn er seine Beine noch dazu hätte überreden können, hätte er nicht mehr weglaufen können. Der Feuerring um ihn herum hatte sich längst geschlossen.
„Du musst etwas tun!“ Corum konnte das Flehen des Waldes hinter dem wilden Tosen des Feuers kaum noch hören.
„Was soll ich denn machen?“ Hilflos versuchte er, ein paar versprengte Glutnester am Boden mit den Füßen auszutreten. Dabei vermied er es, den brennenden Baum anzuschauen. Doch er wusste auch, dass das viel zu wenig war. Er musste das Feuer löschen, und zwar schnell. Ansonsten würde der ganze Wald niederbrennen. Und er selbst zusammen mit den Bäumen. Panik trieb ihm den Schweiß aus den Poren, während die Hitze der Flammen schon an seiner Haut nagte. Wie sollte er hier etwas löschen? Es gab weit und breit kein Wasser. Wenn doch nur Balothu hier wäre ...
Plötzlich fiel Corum etwas ein. Instinktiv tasteten seine Finger nach der Harfe und rangen ihr ein paar schräge Töne ab, die seinen Ohren wehtaten. Er schüttelte sich. Dann versuchte er es noch einmal. Und nun klang es schon eher nach Musik. Doch das reichte noch nicht. Der kleine Mann trat ein paar Schritte zurück, blickte verzweifelt zum wolkenlosen Himmel hinauf und sog die glutheiße Luft ein. Als er zum Singen ansetzte, kam aus seinem Mund nur ein heiseres Krächzen heraus. Corum musste husten, dass ihm die Augen tränten. Er rang nach Atem, während er hörte, wie die Feuersbrunst um ihn herum immer mächtiger wütete. Nein, er durfte jetzt nicht aufgeben. Er zog das Hemd über sein Gesicht. Das half zumindest ein wenig gegen den Qualm. Noch einmal versuchte er zu singen, und nun hatten die Töne schon eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Melodie. Er hustete sich von Wort zu Wort voran, und allmählich bekam seine Stimme mehr Kraft.
Als er die dritte Strophe beendet hatte, verdunkelte sich der Himmel. Dicke Wolken entstanden scheinbar aus dem Nichts heraus. Während der vierten Strophe ballten sie sich über dem Waldstück zu einer regenschweren Masse zusammen. Und als der Sänger die letzte Strophe anstimmte, entließen sie all das Wasser, das sie mit sich hierher getragen hatten, in einem mächtigen Schwall nach unten.
Das Feuer war gelöscht, noch bevor er das Lied zu Ende gesungen hatte. Von einem Moment zum nächsten herrschte eine gespenstische Stille. Da gaben Corums Knie nach, und er sackte auf den klitschnassen moosigen Boden. Eine ganze Weile lag er dort, bevor er sich traute, die Augen wieder aufzumachen. Er musste blinzeln, denn der rauchige Dampf, der nun über der Lichtung hing, brannte in seinen Augen. Doch auch so konnte er erkennen, dass das Feuer verschwunden war. Die Bäume um ihn herum waren völlig verbrannt, und auch der Eichenmann sah tot aus.
Der kleine Sänger starrte den Baum lange an. Wenn dieser verkohlte Kadaver Orumban war, wer konnte ihm nun noch sagen, was aus Anud geworden war? Hatten die Flammen sie verschlungen?
Verzweifelt rieb er sich die brennenden Augen. Tränenperlen tropften zwischen seinen Fingern zu Boden. Wo war Anud? Lebte sie noch? Warum hatte er sie nur im Stich gelassen!
Ohne dass der Sänger es bemerkte, kam Bewegung in den Baum-Mann. Millimeter für Millimeter schoben sich seine Augenlider nach oben. Dann bemühte er sich, etwas zu sagen. Doch er bekam nur ein heiseres Knirschen heraus, das Corums Ohren jedoch hörten.
Der Musiker blickte auf. Wieder bewegten sich die borkigen Lippen, doch der kleine Mann konnte nicht verstehen, was der Baum sagen wollte. Trotzdem rappelte er sich steif auf seine schmerzenden Beine hoch und ging ein paar Schritte näher heran.
„Orumban?“, fragte er zaghaft.
Der Baum versuchte, zu nicken, erstarrte aber sofort. Er keuchte vor Schmerzen. „Danke. Du hast uns allen das Leben gerettet.“ Angestrengt holte er Luft. „Wer bist du?“
Corum sagte es ihm. Und dann stellte er die Frage, die ihm auf der Seele brannte. „Was ist mit Anud? Du kennst sie doch, oder?“
Auf dem Gesicht des Baum-Mannes zeigte sich so etwas wie ein schmerzverzerrtes, verschwollenes Lächeln. „Ja, ich kenne sie. Schon lange.“ Er stockte. „Sie war hier. Dann sind die Soldaten gekommen. Sie haben sie mitgenommen ...“
Corum wurde bleich. „Soldaten des Königs?“
Der Baum nickte. „Sie bringen sie zu Shuruan. Aber das weißt du ja. Anud hat mir erzählt, dass du ihr geholfen hast.“
Verzweifelt schlug Corum die Hände vors Gesicht. „Und dann hab ich sie allein gelassen. Nun haben die Soldaten sie geschnappt. Was sollen wir jetzt bloß tun?“
„Wir müssen sie befreien.“ Der Baum kämpfte um jedes Wort. „Das heißt, du musst sie befreien.“
Der Musiker schrak zusammen. „Ich? Nein, unmöglich! Das kann ich nicht. Ich kann Harfe spielen, singen, und solche Dinge. Aber wie soll ich in die Burg gelangen und Anud herausholen? Nein, nein, nein, das schaffe ich niemals!“
„Beruhige dich.“ Orumban biss die Zähne zusammen, hob ächzend einen kleinen Ast und strich über Corums Kopf. Als er spürte, dass der kleine Mann vor Angst zitterte, schob er einen weiteren Zweig bis direkt vor Corums Mund. Der bemerkte das erst, als eine schwere, süßlich schmeckende Flüssigkeit aus den Poren des Astes heraustropfte und seine Lippen berührte. Er leckte den köstlichen Trank auf, und einen Moment später spürte er, wie ihm die Flüssigkeit Kraft und Ruhe spendete.
„Du musst es tun. Selbst wenn ich in einem besseren Zustand wäre, könnte ich mich nicht in die Burg schleichen und Anud heimlich mitnehmen. Ein Baum ist für so eine Aufgabe schon von Natur aus noch schlechter geeignet als ein Musiker.“
„Ich habe aber Angst!“ Corum schluchzte. „Wie soll ich da hineinkommen? Wie soll ich herausfinden, wo Anud ist? Und wie soll ich sie herausholen, ohne dass wir dabei gleich zusammen wieder festgesetzt werden?“
Orumban schwieg. Corum war nicht klar, ob seine Schmerzen der Grund dafür waren. Oder ob er einfach genauso wenig Ideen für Anuds Befreiung hatte, wie er selbst. Plötzlich regte sich zwischen den Falten der Baumrinde wieder etwas.
„Vielleicht musst du Anud gar nicht heimlich befreien. Geh zu Ildagar und sprich mit ihm. Er ist ein weiser Mann. Er könnte mit Shuruan verhandeln. Vielleicht kann der Vertrag geändert werden. Vielleicht lässt der Feuerfürst sich auf eine andere Opfergabe ein.“
Corum gefiel dieser Vorschlag schon besser. Nicht, dass ihm die Vorstellung keine Angst machte, in die Stadt gehen zu müssen und in der Burg um eine Audienz beim König zu ersuchen, um ihn dann um so etwas zu bitten. Aber dieser Plan war doch viel besser, als Anud aus ihrem Gefängnis zu entführen. Und wenn es gelang, würde sie sich auch nicht mehr verstecken müssen.
„Ich werde es tun. Ich werde König Ildagar bitten, mit dem Feuerfürsten zu reden.“ Er schluckte schwer. Konnte dieser Albtraum überhaupt noch gut ausgehen?
Orumban klang erleichtert. „Das ist gut. Warte, ich werde dir etwas mitgeben.“
Ein großes, frisches Blatt wuchs aus dem verkohlten Ast, der Corum am Nächsten war.
„Nimm es“, sagte Orumban. Als Corum das Blatt festhielt, forderte er ihn auf, es flach auf seine Hände zu legen. Dann senkte der Baum wieder einen Zweig herunter, bis dicht über das Blatt. Dort begann er, wieder die seltsame Flüssigkeit auszuschwitzen, die Corum vorhin hatte kosten dürfen. Tropfen um Tropfen sammelte sich auf dem Blatt in Corums Händen, bis sich eine große Lache darauf gebildet hatte.
„Binde das Blatt nun gut zusammen, damit du den Saft auf deinem Weg zu Ildagar mitnehmen kannst. Trink immer dann einen Schluck davon, wenn die Angst zu groß wird.“
Corum tat, wie ihm geheißen. Dann bedankte er sich und sagte dem Eichenmann Lebewohl.