Читать книгу Die Ahnen des Silberspiegels - Sabine Hoffelner - Страница 9
Kapitel 2
ОглавлениеKönig Ildagar schickte die Magd, die ihm auf einem Tablett sein Frühstück angeboten hatte, mit einer müden Handbewegung samt der Speisen wieder weg. Schwer stützte er den Kopf in seine Hände. Er bemerkte nicht, dass er dabei seinen dichten grauen Vollbart in dem Krug Dünnbier ertränkte, der vor ihm stand. Noch nie hatte er sich so alt und kraftlos gefühlt wie an diesem grauen Morgen. Zuviel Wein und zu viele Sorgen, dafür kaum Schlaf letzte Nacht. Und heute war nichts besser als gestern. Er ballte die Fäuste.„O Götter, warum habt ihr uns diesen Fluch geschickt? Wisst ihr eigentlich, was ihr von mir verlangt? Mein Leben lang habe ich alles für mein Land gegeben. Könnt ihr euch vorstellen, dass es irgendwann auch einmal für den stärksten König zu viel ist?“ Eine Perle tropfte in den Krug. „Was soll ich tun? Sagt mir doch, was ich tun soll ...“Lautes Klopfen an der Tür riss ihn hoch. Er wischte sich über die eingefallenen, dunkel umrandeten Augen. Dann richtete er sich auf und versuchte, wieder zu der majestätischen Haltung zurückzukehren, die sein Amt von ihm verlangte.Als sein Gardehauptmann eintrat, konnte Ildagar sofort sehen, dass dieser auch keine bessere Nacht gehabt hatte, als er selbst.
„Ihr habt sie nicht gefunden?“
Der Soldat schüttelte den Kopf. Ildagar stand auf und ging um den Tisch herum. Dann stützte er sich mit beiden Händen an einer Stuhllehne ab.
„Wo könnte sie sein, Pamir? Euch muss doch noch etwas einfallen. Ihr seid seit ihren Kindertagen ihr Vertrauter. Ihr kennt sie viel besser als ich. Wo hat sie sich als kleines Mädchen gern versteckt? Wer sind ihre Freunde? Wer vom Gesinde steht ihr nahe, wer außerhalb der Festungsmauern? Wer wäre bereit, sie zu schützen? Ich hätte ihr bereits viel eher verbieten sollen, die Burg zu verlassen. Aber Anud hatte da schon immer ihren eigenen Kopf. Und ich habe ihr viel zu viele Freiheiten gelassen. Das musste ja passieren!“
Der Hauptmann ging einen Schritt auf seinen König zu. „Ihr hättet sie nicht einsperren können, Herr. Dann wäre sie schon viel eher davongelaufen.“ Ildagar bemerkte, wie Pamir zögerte. Was war da gerade durch die Augen des Soldaten gehuscht?
„Ich habe sie überall gesucht, wo sie nur sein könnte. Auch aus diesem Baum konnte ich nichts herausbekommen.“ Wieder hielt der Gardehauptmann inne. Nachdem er einen Moment lang mit sich gerungen hatte, meinte er: „Eine Möglichkeit gibt es noch. Anud hat mir einmal von einem Sänger erzählt, der auf der Wiese am Fluss lebt. Mit ihm hat sie sich wohl immer wieder getroffen.“
Mit einem überraschten Schnauben verdrehte Ildagar die Augen. „Ein Baum, ein Sänger. Welche Freunde hat meine Tochter sich denn sonst noch ausgesucht?“ Doch die Empörung war nicht stark genug, um ihn vor dem Schmerz zu schützen, der sein Herz packte. Was wusste er überhaupt von Anud? Wie konnte ihm sein eigenes Kind so fremd bleiben?
Pamir senkte den Kopf. „Ich werde sofort aufbrechen und diesem Kerl zusammen mit ein paar Männern einen Besuch abstatten.“
Der König nickte. Doch als der Gardehauptmann gehen wollte, hielt Ildagar ihn noch einmal fest. „Geht mit diesem Burschen nicht zu zimperlich um. Tötet ihn, wenn er Anstalten macht, den Helden zu spielen. Ich brauche nicht noch mehr Leute die querschießen und damit ganz Daras in Gefahr bringen. Meine Tochter reicht mir da völlig aus.“
Als Corum die Augen wieder öffnete, war es bereits heller Tag. Sofort war die Erinnerung an das, was letzte Nacht geschehen war, wieder da. War das wirklich passiert oder hatte er nur schlecht geträumt? Hastig richtete er sich auf und blickte zu seinem Bett. Tatsächlich: Anud lag dort und schlief.
Während er seine Freundin eine Weile beobachtete, überrannten die Gedanken seinen Kopf. So wirklich fassen konnte er das alles noch nicht. Klar war ihm nur, dass seine Freundin in großer Gefahr schwebte. Und dass er ihr helfen musste, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das schaffen sollte. Was konnte er schon gegen den König ausrichten? Wie sollte er gegen dessen Soldaten kämpfen? Er hatte weder Waffen noch Rüstung und selbst wenn, würden die sich über seine stümperhaften Versuche höchstens totlachen. Er war Musiker, kein Kämpfer!
Corum schloss seine Augen und lauschte in die leisen Geräusche des frühen Morgens hinaus. Balothu plätscherte sein gewohntes Lied, ein paar Vögel begleiteten ihn. Ansonsten konnte er nichts hören, und erst recht nichts, das ihm Angst machen würde. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl. Ungelenk stand er auf. Alles tat ihm weh. Er war müde, eigentlich viel zu müde für diese tiefe Unruhe in seinem Bauch. Mit steifen Fingern griff er nach seiner Harfe, die zusammen mit ihm am Boden genächtigt hatte. Doch er konnte sie kaum festhalten, so sehr zitterten seine Hände. Sollte er Anud wecken? Nein, zuerst musste er sich etwas beruhigen.
Der kleine Mann holte sich seinen Mantel und schlüpfte dann geräuschlos nach draußen. Ihn fröstelte. Obwohl es noch nicht Winter war, hatte die Morgensonne kaum genug Kraft, um ihn zu wärmen. Corum atmete tief durch. Die kühle Luft tat ihm gut. Dann schlurfte er durch den feuchten Morgentau zu Balothu hinüber, der noch halb unter einer dünnen Nebelschicht verborgen war.
Nahe am Ufer ragte ein großer, flacher Steinbrocken zwischen Kieselsteinen und verdorrten Grashalmen hervor. Corum ging darauf zu, wickelte sich fest in seinen Umhang und setzte sich.
„Guten Morgen, Balothu!“, rief er, und als der Fluss ihm mit dem gewohnten freudigen Plätschern antwortete, fühlte er sich zum ersten Mal seit Anuds Auftauchen letzte Nacht wieder sicher.
Erleichtert sog er die würzige Morgenluft in sich hinein. Er konnte den Fluss, die Wiese und den Wald deutlich riechen. Einige dünne Sonnenstrahlen streichelten sein Gesicht und brachten die kleinen Sterne in seinem wild gelockten Haar zum Glitzern. Hier war er zu Hause, hier war er geborgen. Hier waren Dunkelgnome und Soldaten bedeutungslos.
Er atmete auf. Dann drückte er seine Harfe an die Brust und begann, sie sanft zu liebkosen. Seine Finger waren noch immer unsicher, und die kalte Luft machte sie starr. Trotzdem gelang es ihm, dem Instrument eine Melodie zu entlocken. Und bereits mit den ersten Tönen begann ihr Zauber, zu wirken. Es schien, als würde die Sonne sich anstrengen, noch ein wenig schneller über die Baumwipfel hochzuklettern, um besser zuhören zu können. Der Wind legte sich und der Nebel löste sich auf. Die Bäume des nahen Waldrandes reckten ihre Kronen der Wiese entgegen und wiegten sich leicht im Takt. Es dauerte nicht lange, da war Corums Fels wie jeden Morgen von Eichhörnchen, Füchsen und allerhand anderem Getier umringt, die alle der Musik lauschten.
Balothu veränderte seine Strömung. Kleine Strudel bildeten sich am Ufer. Sie umspielten einige Steine und die langen, dürren Schilfhalme, die dort den Sommer über gewachsen waren. Es sah aus, als würde das Wasser tanzen.
Doch plötzlich waren alle Tiere verschwunden. Balothu spritzte hektisch auf, und die Harfe stieß einen quietschenden, schrillen Ton aus. Corums Herz begann zu rasen. Da war etwas! Etwas, das nicht hierher gehörte. Und es kam näher.
Hufschläge. Es mussten mindestens fünf Pferde sein. Und Corum war sich sicher, dass diese Tiere nicht von seiner Musik angelockt worden waren. Hastig schaute er in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Und da sah er auch schon die Reiter in ihren schweren Rüstungen, die quer über die Wiese genau auf seine Hütte zu trabten. Soldaten! Was nun? Sein Herz raste. Anud! Er musste Anud in Sicherheit bringen! Panisch rappelte er sich auf. So schnell er konnte rannte er auf sein Heim zu.
„Schneller!“, trieb er sich verzweifelt an. „Noch schneller!“ Er konnte nicht gut rennen, und jetzt kam er sich langsam wie eine Schnecke vor. Die Pferde waren schon so nahe. Er musste es schaffen!
Als er seine Hütte erreicht hatte, stürmte er hinein und warf sich, sobald er drinnen war, gegen die Tür. Er sah, dass Anud die Reiter ebenfalls bemerkt hatte. Bleich starrte sie ihn an.
„Sie kommen“, rief Corum, und seine Stimme überschlug sich. „Was sollen wir bloß tun?“
Anud war noch völlig schlaftrunken.
„Die Soldaten werden gleich hier sein!“ Hastig suchte er nach einem Versteck. „Kriech unter das Bett, schnell! Ich werde sie davon abhalten, die Hütte zu betreten.“
„Das wird nicht klappen ...“
„Wir müssen es zumindest versuchen, los!“ Noch nie in seinem Leben war er so resolut gewesen. Aber jetzt ging es um seine Freundin, die wichtigste seiner Freundinnen. Die, für die sein Herz schlug, und der er all seine Lieder schenken wollte. Zu seinem Erstaunen gehorchte Anud ihm ohne weitere Widerrede. Und gerade noch rechtzeitig.
Klirrende Schritte näherten sich der Tür. Corum keuchte. Es gab jetzt nur noch zwei Möglichkeiten. Er konnte hier drinnen die zwei, drei Augenblicke warten, bis die Soldaten hereinkamen und alles so gut wie verloren war. Oder ... Der kleine Sänger zwang sich, sich aufzurichten. Er drückte die Harfe wie einen stärkenden Talisman an sich. Dann trat er einen Schritt von der Tür weg, damit er sie öffnen konnte. Dabei stolperte er über seine Füße. Als er wieder Halt hatte, wankte er nach draußen.
Es waren nicht fünf, sondern sogar sechs bis an die Zähne bewaffnete Soldaten. Einer der Männer, der wie ihr Anführer aussah, war bereits abgestiegen und kam näher.
„Guten Morgen.“ Corum versuchte, seine Panik so gut es ging zu unterdrücken. Die Männer sollten glauben, sie hätten ihn gerade aus dem Schlaf geholt. „Was kann ich für Euch tun?“ Er gähnte und rieb sich die Augen.
Der Soldat kam so nahe heran, dass jeder noch mögliche Fluchtweg von einer Wand aus Muskeln, die in einer metallbeschlagenen Lederpanzerung steckten, verstellt war. Corums Blick tänzelte zwischen dem Schwert und dem Messer am Gürtel des Hauptmannes hin und her.
„Du bist Corum, der Musiker?“
Der Sänger legte seinen Kopf in den Nacken, um das Gesicht des Anderen sehen zu können.
„Ich weiß, dass du Anud kennst, die Tochter unseres Königs.“
Einen Moment lang überlegte Corum. „Ja, ich kenne sie“, sagte er schließlich zögernd. „Ein wenig kenne ich sie. Sie kam ab und zu her, um mir beim Harfenspiel zuzuhören. Manchmal haben wir auch zusammen gesungen. Sie mag meine Musik, wisst Ihr?“
Der Soldat nickte uninteressiert. „Ist sie jetzt bei dir?“ Diese Frage brachte Corum in ein weiteres Dilemma. Er verabscheute Lügen. Er mochte keine Lügner, und selbst zu lügen war ihm bis zu diesem Augenblick niemals in den Sinn gekommen. Aber er konnte dem Kommandanten auf keinen Fall die Wahrheit sagen! Und das war im Moment wichtiger. Deshalb musste er sich jetzt einfach überwinden.
Mit größter Anstrengung und voller Ekel schüttelte der Sänger den Kopf und starrte dabei zu Boden. Jeder Kurzsichtige hätte in seinen Augen erkennen können, dass er log. Doch auch so schien er auf den Soldaten nicht besonders überzeugend zu wirken.
Denn der packte ihn nun grob am Arm und drückte ihn mit dem Rücken so fest an die Hüttentür, dass Corum kaum noch atmen konnte. „Versuche nicht, mich anzuschwindeln. Sonst werde ich dich mitnehmen und in den dunkelsten Kerker der Burg sperren. Dort werden unsere Folterknechte die Wahrheit schon aus dir herausholen. Also noch einmal: Ist Anud hier?“
Nun geschah etwas, das Corum auch noch nicht oft erlebt hatte. Er wurde wütend. Mit einer ruppigen Bewegung riss er seinen Arm los und schob den Hauptmann ein Stück von sich weg. Dann baute er sich vor dem Bewaffneten auf, stemmte die Hände in die Hüften und blickte sein Gegenüber mit blitzenden Augen an. „Nein!“, log er diesmal erstaunlich glaubhaft. „Und droht mir nicht.“ Er holte tief Luft. „Wieso sucht ihr Anud denn? Wurde sie entführt? Habt Ihr nicht genug auf sie aufgepasst? König Ildagar wird Euch und Eueren Trupp an meiner Stelle in den Kerker sperren, wenn Anud etwas passiert ist.“
Der Soldat starrte den kleinen Mann, der sich vor ihm wie ein empörter Käfer aufplusterte, erstaunt an. „Nun einmal langsam, junger Freund. Ich glaube, dass die Folterknechte aus dir mehr herausbekommen könnten, als aus mir. Deshalb noch einmal: Du bist dir sicher, dass Anud nicht hier ist?“
Corums Gesichtsfarbe bekam einen grünlichen Stich. Er taumelte. Nein, er musste jetzt stark sein, für Anud! „Sie ist nicht hier“, hauchte er, ohne den Soldaten noch einmal anzusehen. Doch der ergriff Corums Kinn und zwang ihn, ihn anzuschauen. Erstaunt erkannte der Sänger, dass im Gesicht des Hauptmannes plötzlich etwas Weiches lag. Und war das, was da eben ganz hinten in seinem Augenwinkel aufgeblitzt war, so etwas wie Traurigkeit gewesen? Nein. Corum schüttelte den Gedanken sofort wieder aus seinem Kopf heraus. Er konnte seinen Sinnen im Moment nicht über den Weg trauen.
„Na gut, ich glaube dir. Wir werden weitersuchen müssen. Weißt du, wo sie sein könnte? Denk gut nach, es ist wichtig.“
Noch einmal schüttelte Corum den Kopf. Und der Hauptmann gab sich damit zufrieden. Er machte kehrt und ging wieder auf sein Pferd zu.
Der Sänger atmete auf. Doch er hatte diesen Atemzug noch nicht ganz zu Ende gebracht, als es plötzlich in seiner Hütte laut schepperte. Ihm blieb fast das Herz stehen.
Auch die Soldaten hatten den Lärm gehört. Sofort kam der Anführer wieder zurück. Diesmal verzichtete er auf eine weitere Frage. Grob schob er den kleinen Mann zur Seite und drückte die Tür der Hütte auf.
Corum blieb nichts anderes übrig, als fassungslos dabei zuzusehen, wie der Bewaffnete eintrat und sich umsah. Mit weichen Knien und schweißnassen Händen stolperte er dem Soldaten hinterher. Die Stille war wieder zurückgekehrt, und von Anud war nichts zu sehen. Aber Corum konnte auch nicht feststellen, was den Krach verursacht hatte.
Zitternd stützte er sich am Türrahmen ab und hoffte mit seiner ganzen Seele, dass der Soldat nicht auf die Idee kam, unter das Bett zu sehen. Doch der tat seine Pflicht äußerst gründlich. Er blickte in jede Ecke, räumte Instrumente zur Seite und öffnete sogar den Schrank.
Plötzlich erblickte Corum Anuds Umhang am Haken neben der Tür. Hoffentlich fiel dem Hauptmann dieser Mantel nicht auf und die Tatsache, dass er für Corum viel zu lang war.
Der Soldat war noch immer mit dem Schrank beschäftigt. Als er ihn sich genau angesehen hatte, schloss er dessen Türen wieder. Danach wandte er sich dem zerwühlten Bett zu. Er ergriff die Decke, hob sie hoch und warf sie wieder zurück.
Und dann bückte er sich und schaute unter das Bettgestell. Ein heiserer Würgelaut entkam Corums Kehle, obwohl er mit aller Kraft versucht hatte, den Entsetzensschrei festzuhalten. Sofort richtete sich der Hauptmann wieder auf und sah den Sänger fragend an.
„Ich ...“, stammelte der und hustete ein paar Mal laut. „Ich hab eine Fliege verschluckt.“
„Soso.“ Der Soldat wandte sich ab. Da fiel sein Blick auf den eisernen Herd an der Wand. Er ging darauf zu. Dann begann er, laut zu lachen. Er streckte die Hand aus und ergriff einen Topf, der samt einem dicken Haken auf der Herdplatte lag. Dann drehte er sich um und hielt Corum seinen Fund hin.
„Den wirst du wohl wieder befestigen müssen, und ein wenig besser als zuvor.“
Er überreichte beides dem Musiker und schritt wieder ins Freie. Dann verabschiedete er sich mit ein paar knappen Worten, stieg auf sein Pferd und ritt zusammen mit seinen Begleitern davon.
Corum konnte sich nicht rühren. Wie angewurzelt stand er in der Türöffnung, den Topf und den Haken in den Händen. Regungslos starrte er den Reitern hinterher. Das tat er auch dann noch, als sie schon längst nicht mehr zu sehen waren. Plötzlich legte sich ihm von hinten eine Hand auf die Schulter. Er fuhr zusammen.
„Danke.“ Anud war aus ihrem Versteck herausgekommen und stand nun hinter ihm. „Danke, dass du mich nicht verraten hast.“ Doch er hörte ihre Worte nur noch wie aus großer Entfernung. Einen Moment später brach er besinnungslos zusammen, und der Topf schepperte erneut zu Boden.
Als Corum wieder wach wurde, lag er in seinem Bett. Anud saß an seiner Seite, und dort blieb sie, bis er wieder in der Lage war, sich aufzusetzen. „Das war knapp! Fast hätte er dich gesehen.“
Die junge Frau zog die Augenbrauen hoch. „Er hat mich gesehen.“
Verwirrt schüttelte Corum den Kopf. „Aber dann hätte er dich doch mitgenommen. Das verstehe ich nicht.“
„Ich verstehe es auch nicht. Vielleicht täusche ich mich. Es war ja nur ein kurzer Moment. Trotzdem habe ich so ein seltsames Gefühl. Er hat viel zu schnell aufgegeben.“ Sie seufzte. „Pamir ist mein Leibwächter. Schon als ich noch ein Kind war, war er immer für mich da. Er hielt mich fest, als ich mich einmal zu tief über den Brunnenrand gebeugt hatte. Er zog mich unter den Hufen einer Stute heraus, der es nicht gefiel, dass ich ihr Fohlen ganz aus der Nähe ansehen wollte. Aber er war nicht nur mein Aufpasser. Tag für Tag gab er sich mit mir ab. Mit ihm teilte ich alle Freuden und Sorgen eines heranwachsenden Mädchens. Er weiß auch, dass ich dich immer wieder besucht habe. Ich vertraute ihm bisher vollkommen und er kennt mich wie kein anderer. Pamir ist ein Freund, ja, fast eine Art Vater, der mir viel näher steht, als der König.“ Ihr Gesicht wurde bitter. „Und jetzt gehorcht er blindlings dem Befehl meines Vaters und versucht, mich wieder einzufangen, damit ich diesem Untier Shuruan ausgeliefert werden kann!“
Corum wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er konnte mit Anuds Soldatenfreund nichts anfangen. Und die Vorstellung, dass sie all die Jahre einen Vertrauten gehabt hatte, der ihr näher stand als er selbst, machte ihm ein hässliches Gefühl im Bauch. Er stand auf. „Lass uns etwas essen, und danach sollten wir zügig aufbrechen. Ich möchte nicht riskieren, dass dein Vater noch andere Soldaten herschickt, die genauer suchen werden.“
Sie beeilten sich mit dem Frühstück. Danach packte Corum noch ein großes Bündel mit Vorräten und einer warmen Decke zusammen, bevor sie sich auf den Weg zu seinem Versteck machten.
Schweigend überquerten die sie die Sternblumenwiese. Als sie den Waldrand erreicht hatten, endete ihr Pfad mitten im dichten Unterholz. Sie blieben stehen. Corum breitete die Arme aus und begann zu sprechen. „Verehrter Wald, starke Wächterbäume, Corum und Anud bitten euch, eintreten zu dürfen. Wir kommen in friedlicher Absicht und voller Verehrung für euere Größe und Schönheit.“
Ein leises Raunen glitt durch die Wipfel. Dann folgte ein Knacken, und schließlich öffnete sich in den Büschen ein niedriges Tor. „Es sei euch gewährt.“
Die beiden Wanderer bedankten sich und tauchten in das schummrige Dämmerlicht zwischen den Bäumen ein. Corum fühlte sich an diesem Ort, der bestimmt nicht umsonst Bärenwald genannt wurde, nie besonders wohl. Er war ein Kind seiner Wiese, brauchte immer den offenen Himmel über sich und einen guten Überblick. Das gab es hier nicht. Außerdem lebten im Zwielicht zwischen den Stämmen wilde Tiere und Dunkelgnome, denen er nicht begegnen wollte. Trotzdem war nun dieser Wald das beste Versteck für seine Freundin, das er kannte. Die Wächterbäume hüteten ihr Reich gut. Er hoffte, dass sie die Soldaten mit ihren alles zertrampelnden Pferden und Waffen nicht hereinlassen würden. Und wenn doch, würden sie erst einmal die Höhle finden müssen, in die er seine Freundin brachte. Und diese war gut versteckt.
Es dauerte nicht lange, bis die beiden einen schmalen Wasserlauf erreichten. Diesem folgten sie eine ganze Weile lang auf einem kaum sichtbaren Trampelpfad, bis vor ihnen ein kleiner See auftauchte. „Wir sind da“, sagte Corum. Er zog seine Harfe hervor und spielte zur Begrüßung ein paar Takte, und sofort stimmte das Wasser gurgelnd und spritzend in die Musik ein.
Als er sein Instrument wieder weggesteckt hatte, balancierte er über ein paar große Steine am Uferrand, bis er an eine steil aufragende Felswand gelangte. Anud folgte ihm. Sie musste gut aufpassen, um nicht auf den glitschigen Felsen auszurutschen. Doch dann sah sie, was der Musiker ihr zeigen wollte: Aus einigen schmalen Ritzen an der Felswand sickerte Wasser heraus. Hier war die Quelle, aus der sich der kleine See speiste.
Corum streckte seine Hand aus und hielt sie in den Wasserstrahl, bis sie voll war. Dann hob er sie an die Lippen und genoss jeden Schluck. Er füllte seine Hand noch einmal und ließ nun Anud daraus trinken. Das Wasser tat gut nach der anstrengenden Wanderung. Und Corum genoss es, nun so unbeschwert mit seiner Freundin zusammen lachen zu können.
Nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, deutete Corum auf das gegenüberliegende Ende des Abhangs. Das Gestein war dort gröber zerklüftet, als auf dieser Seite. Doch man musste schon genau hinsehen, um den schmalen Sims erkennen zu können, in dessen Hintergrund sich eine große dunkle Höhlung gegen den hellen Fels abzeichnete. Corum fasste Anud an der Hand. „Wir müssen den See auf diesen Steinen überqueren. Doch Vorsicht, ein paar davon wackeln.“
Er ging seiner Freundin voraus und führte sie sicher, bis sie am anderen Ufer auf den Vorsprung klettern konnten.
Die Höhle war größer, als sie aus der Entfernung ausgesehen hatte. Denn sie ging ein gutes Stück in die Tiefe. Dabei machte sie einen Bogen, hinter dem man vor neugierigen Blicken geschützt war. „Corum, das ist ein wunderbares Versteck.“ Anuds Augen leuchteten. „Es ist genau das, was ich brauche!“
Gemeinsam richteten sie die Höhle so wohnlich ein, wie es gerade ging. Dann machten sie es sich auf den Felsvorsprung am Eingang bequem und ließen die Beine in den See hängen. Sofort umspielte das Wasser ihre Füße, neckte sie und spritzte an ihren Beinen hoch.
„He, nicht so stürmisch!“, rief Corum, und der See zügelte sein Temperament ein wenig. Dann wurde der Musiker ganz ernst. „Du musst ab jetzt sehr wachsam sein. Dies ist Anud, eine gute Freundin. Sie ist in Gefahr. Die Soldaten des Königs sind hinter ihr her. Sie wird eine Weile hier wohnen, und du musst sie nach besten Kräften beschützen, hörst du?“ Ein bestätigendes Glucksen war die Antwort.
Dann machte sich Corum auf, um im Wald Feuerholz zu sammeln. Die Nächte wurden schon empfindlich kalt, und Anud sollte nicht frieren müssen. Als alles für einen längeren Aufenthalt vorbereitet war, verabschiedete er sich. Er versprach, gleich am nächsten Tag wiederzukommen und nach ihr zu sehen. Und als Anud ihm zum Abschied ihr strahlendstes Lächeln schenkte, hüpfte sein Herz vor Freude.