Читать книгу Die Ahnen des Silberspiegels - Sabine Hoffelner - Страница 8
Kapitel 1
ОглавлениеNoch war es still in Corums Hütte. Selig wie ein Kind schlummerte der kleine Musiker im Schutz des leisen Schlafliedes, das ihm der Fluss Balothu sang, so wie er es jede Nacht tat. Corums feinsinnige Musikerohren ahnten noch nichts von den hastigen Schritten, die sich näherten.
Der Sänger mochte den Fluss sehr. Sie verbrachten viel Zeit miteinander. Jeden Tag musizierten sie zusammen und tauschten sich auf eine Art, die nur sie beide verstanden, über alles aus, was sie beschäftigte. Balothu war älter und erfahrener als Corum. Er war dabei gewesen, als der Musiker vor vielen Jahren hier auf der Wiese beim Bärenwald zur Welt gekommen war.
In Daras waren viele Dinge möglich. Trotzdem war Corums Geburt sogar hier etwas ganz Besonderes gewesen. Damals war während einer klaren Sommernacht eine Sternblume erblüht. Tautropfen hatten sich in ihrem Blütenkelch gesammelt. Daraus war im Laufe der Nacht ein Kind gewachsen. Die Blume hatte all ihre Kraft und Magie in dieses Kind gegeben. Danach war sie gestorben, damit es geboren werden konnte. Corum war dieses Sternblumenkind. Seit seinem ersten Tag lebte er auf dieser Wiese. Die Pflanzen und Tiere hier waren seine Freunde, seine Familie. Sie versorgten ihn mit allem, was er brauchte.
Noch immer ahnte Corum nichts von dem, was draußen vor sich ging. Er seufzte im Schlaf und zog seine Lieblings-Harfe ein wenig fester an sich. Corum liebte alle seine Instrumente, und davon gab es in der kleinen Hütte mehr, als Platz dafür vorhanden war. Die beiden wuchtigen Harfen, die an der Wand neben dem Schrank lehnten, hatte er selbst gebaut, genau wie seinen Liebling, den er im Arm hielt. In dem großen Wandregal daneben steckten einige Flöten, die er von dem Biber bekommen hatte, der flussabwärts an Balothus Ufer lebte. Sie teilten sich den Raum mit einem dicken Sack Mehl und einigen hölzernen Dosen, in denen der Sänger Salz und Gewürze aufbewahrte. Ein Regalbrett darüber waren Tiegel, Schüsseln und mehrere Trommeln unordentlich ineinander gestapelt. An der anderen Wand gab es einen Ofen, über dem Töpfe an einigen angerosteten Nägeln hingen. Dazwischen baumelten Pfeifen, mit denen Corum Vogelrufe imitieren konnte.
Balothus Lied wurde hastiger, als er die Bedrohung, die sich auf leisen Sohlen näherte, bemerkte. Doch der schlafende Musiker träumte selig weiter. Es war ein langer Tag gewesen. Stundenlang hatte er zusammen mit dem Fluss ein neues Lied komponiert. Am Abend war er dann erschöpft in die Kissen gesunken, ohne sich noch die Mühe zu machen, die Reste des Abendessens wegzuräumen. Doch das tat er auch sonst eher selten. Corum lebte hier zufrieden in den Tag hinein, ohne sich Sorgen über etwas machen zu müssen. Seine Welt war friedlich, und darüber war er froh. Er wusste, dass es an anderen Orten so schlimme Dinge wie Lügen, Betrug, Grausamkeit oder Hinterlist gab. Er hatte keine genaue Vorstellung von diesen Dingen, denn so etwas war ihm noch nie begegnet. Aber das, was ihm seine Freunde darüber erzählt hatten, hatte ihm klar gemacht, dass das alles sehr böse war. Corum mochte nichts Böses, deshalb war er sich sicher, dass er auch keine bösen Menschen leiden konnte. Und er hoffte, dass er so jemandem auch niemals begegnen würde.
Als draußen etwas laut knackte, fuhr Corum hoch. Verwirrt blinzelte er in die Dunkelheit. Doch dort gab es nichts, was seine Augen hätten greifen können. Also schloss er sie wieder, während seine Ohren Balothus aufgeregtem Lied lauschten. Doch außer dem unruhigen Gurgeln und Zischen des Wassers war da nichts. Trotzdem traute sich Corum kaum, zu atmen.
„Nein“, beschwor er sich in Gedanken, „nein, da ist nichts. Gar nichts. Kein Grund zur Sorge.“
Doch seine Angst blieb. Sie wurde sogar größer. Und plötzlich hörte er die Schritte. Seine Haut kräuselte sich. Er fröstelte. Die Tritte kamen näher, und sie wurden von hastigen Atemstößen begleitet.
Panisch riss der Sänger die Augen wieder auf. Er hatte es ja immer gewusst! Auch wenn ihm Balothu stets beteuert hatte, dass diese schrecklichen Dunkelgnome ihren Wald niemals verließen, hatte er das nie wirklich geglaubt. Und nun war es also soweit. Nun trampelte einer von ihnen geradewegs auf seine Hütte zu. War da nicht ein Keuchen, ein Fauchen? Der kleine Sänger spürte, wie alles in ihm bebte. Vibrierte nicht auch der Boden unter ihm ein wenig? Warum bekam er kaum noch Luft?
Corum wollte weglaufen, aber seine Beine bewegten sich nicht. Starr vor Angst krallte er sich in seiner Bettdecke fest und zog sie Millimeter für Millimeter weiter nach oben. Immer höher, bis zu seiner Brust und eng an seinen verkrampften Hals heran. Er presste sie auf seinen Mund, schob sie über die Nase, bis zum unteren Rand seiner Augen.
Die Schritte waren nun nah, viel zu nah. Corum hörte sie in seiner Panik nicht mehr, aber sein Instinkt wusste, dass sie da waren. Schweißtropfen rannen über sein Gesicht, während er zusammen mit der Decke in seinem Bett immer weiter zurückwich. Auf einmal spürte er die Wand in seinem Rücken. Er saß in der Falle.
Regungslos starrte er zur Tür hinüber, die im Mondlicht gespenstisch fremd aussah. Da bewegte sich der Riegel. Ein unförmiger schwarzer Schemen glitt in den Raum. Corum schrie auf. Dann verschwamm alles um ihn herum, und tiefe Stille senkte sich in seine Ohren.
Als der kleine Mann wieder klar sehen konnte, erblickte er ein vertrautes Gesicht. Und dies war nicht irgendein vertrautes Gesicht. Es war das einzige, das in der Lage war, sein Herz zum Singen zu bringen. Aber nun war etwas Fremdes in diesem Gesicht. Etwas, das sein Unbehagen noch verstärkte. Denn in den Augen der jungen Frau stand blanke Angst.
„Du, Anud?“
„Ich brauche deine Hilfe.“
Der Musiker ließ zögerlich seine Decke ein wenig sinken. Er atmete tief durch. Das klang nicht gut, gar nicht gut. Doch die junge Frau ließ ihm nicht viel Zeit, um weiter darüber nachzudenken.
„Die Soldaten meines Vaters sind hinter mir her. Du musst mich verstecken!“
Erscheckt zog er die Decke wieder ein Stück höher. „Die Soldaten? Dich verstecken? Aber wieso denn?“
Anud lauschte kurz in die Dunkelheit. Aber außer Balothus leisem Plätschern war alles ruhig.
„Es ist der Fluch, der schon seit vielen Generationen auf meiner Familie liegt, und jetzt bin ich dran.“
Der Sänger zog fragend die Stirn in Falten.
„Shuruan, sein erpresserischer Handel mit Daras. Du musst doch davon gehört haben!“
Corum schüttelte nur steif seinen Kopf, auf dem winzige Goldsternchen zwischen den kastanienfarbenen Locken im Mondlicht glitzerten. Anud rang nach Luft. Sie ließ sich auf das Bett sinken und barg den Kopf zwischen ihren Händen, bis sich ihr Atem ein wenig beruhigt hatte. Dann strich sie sich mit einer energischen Bewegung die langen schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte zu ihrem Freund hinüber.
„Shuruan ist ein Dämon, das fleischgewordene Böse. Er tyrannisiert Daras seit Jahrhunderten. Vor langer, langer Zeit lebten alle Dariden friedlich miteinander. Sie bestellten das fruchtbare Land, beteten zu den Göttern und hatten keine Feinde. Weder Hunger noch Naturkatastrophen suchten sie heim. Niemand musste Not leiden, und es gab kaum einen Grund, Angst zu haben. Doch eines Tages tauchte ein Wesen auf, das alles veränderte: Shuruan. Ohne Grund durchpflügte dieser Dämon aus Feuer eine Siedlung nach der anderen, tötete die Menschen, die dort lebten und verbrannte ihre Häuser. Er verschlang alles, was ihm in den Weg kam. Doch damit nicht genug. Er brachte eine Armee Feuerreiter mit, die das ganze Land verwüsteten. Die Leute flohen, aber bald gab es kein Versteck mehr, in dem sie vor Shuruan und seinen Reitern sicher gewesen wären. Der Feuerfürst brachte das ganze Land in seine Gewalt und zwang König Batalan einen Handel auf, der bis heute gilt. Er bot an, Daras künftig zu verschonen, wenn ihm ab sofort jede erstgeborene Tochter des Herrscherhauses zur Frau gegeben würde. Batalan hatte keine Wahl. Er stimmte zu und übergab seine Tochter dem Dämon. Daraufhin zog sich der Feuerfürst mit seinen Reitern in die Berge zurück. Die Frau nahm er mit. Danach hat nie wieder jemand etwas von ihr gehört. Aber auch Shuruan hielt sich an die Vereinbarung und tut das bis heute. Man sagt, er schläft im Schwarzen Gebirge und erwacht nur, um eine neue Braut in Empfang zu nehmen. Auch seine Feuerreiter sollen schlafen und auf den Tag warten, an dem ihr Fürst sie wieder erweckt, um erneut Schrecken und Verderben über Daras zu bringen.“
Sie wischte sich verstohlen über die Augen, und ein paar winzige Perlen rollten zwischen ihren Fingern hindurch auf den Boden. In Daras wurden Tränen zu Perlen, damit selbst die Traurigkeit etwas Schönes bekam. Anud beachtete sie nicht weiter.
„Seit diesem Tag haben sich alle Könige von Daras an diese grausame Abmachung gehalten. So viele ihrer Töchter wurden diesem Dämon schon geopfert!“ Sie stockte. „Und nun bin ich an der Reihe.“
Corum brauchte eine Weile, um all das zu begreifen. Mit todbringenden Ungeheuern, Not und Verzweiflung hatte er bisher noch nichts zu tun gehabt.
„Du musst den Feuerfürsten heiraten? Suchen dich deshalb die Soldaten?“
Sie nickte. Wieder glitten kleine Perlen über ihr Gesicht. „Bald ist mein 20. Geburtstag. Dann soll ich Shuruan ausgeliefert werden. Corum, ich will das nicht! Und mein Vater weiß das. Deshalb will er mich nun mit Gewalt dorthin schicken.“ Sie japste nach Luft. „Corum, ich bin so gut wie tot!“
Jetzt rang auch der Musiker nach Luft. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume.
„Du musst mich verstecken. Mein Vater hat mir verboten, die Burg zu verlassen, bis es soweit ist. Er hat Angst, dass ich ihm Schwierigkeiten mache und weglaufe, und genau das habe ich auch vor! Deshalb hat er sogar Wachen vor meiner Kammer postiert, die auf mich aufpassen sollen. Ich musste aus dem Fenster klettern, um zu entkommen.“ Wieder rollten Perlen über Anuds Kleid auf den Boden. „Corum, mein eigener Vater ist bereit, mich an Shuruan zu verkaufen! Und er wird dies auch gegen meinen Willen durchsetzen. Er opfert die eigene Tochter dem Wohl seines Volkes! Ja, so ist er. Immer pflichtbewusst! Seine Familie kommt erst an zweiter Stelle oder noch später.“ Sie zuckte zusammen und lauschte.
„Balothu würde uns doch warnen?“, fragte sie. Als der Sänger nicht reagierte, wiederholte sie ihre Frage noch einmal.
Corum nickte. „Der Fluss verändert sein Lied, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht. Aber wahrscheinlich würde ich die Reiter noch eher hören als er.“
„Wir können sowieso nicht hier bleiben. Auf der Burg ist es kein Geheimnis, dass du mein Freund bist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich bei dir suchen. Du musst mich irgendwo anders verstecken. Kennst du nicht einen sicheren Platz?“
Corum tat sich mit dem Denken immer noch schwer. Verwirrt und bleich presste er sich an die Wand in seinem Rücken, die Finger fest in die Decke gekrallt. Da beugte sich Anud zu ihm hinüber und packte ihn mit beiden Händen. „Sie sind hinter mir her. Ich brauche ein sicheres Versteck, Corum! Kennst du eines?“
„Ich ... ich weiß nicht“, stotterte er. In seinem Kopf herrschte eine abgrundtiefe, schwarze Leere. Und Anud schien ihm das anzusehen. Sie schüttelte ihn immer wieder, und als das keinen Erfolg brachte, ließ sie ihn wieder los. Sie stand auf, ging zum Wassereimer, der in einer Ecke stand, und kippte ihn über Corums Kopf aus. Der Musiker prustete laut und schüttelte sich. Aber seinen Gedanken hatte der kalte Guss gut getan.
„Du willst dich verstecken“, sagte Corum, während er sich mit einem trocken gebliebenen Zipfel seiner Decke das Gesicht abtupfte.
„Ja!“, nickte sie. „Ich selbst kenne keinen Ort, an dem ich vor den Häschern meines Vaters wirklich sicher wäre. Kennst du kein gutes Versteck?“
Der Musiker dachte angestrengt nach. Dann blickte er in Anuds Augen und nickte. „Es gibt da eine Höhle. Sie liegt an einem einsamen Quellsee im Wald. Manchmal gehe ich dort hin, um mit ihm zusammen zu musizieren. Er hat eine bezaubernde Stimme ...“
„Kannst du mich dorthin bringen?“
Corum nickte.
„Dann lass uns gehen!“ Anud streckte ihrem Freund die Hand entgegen und wandte sich zur Tür. Doch der zog seine inzwischen völlig durchnässte Bettdecke fest an sich.
„Jetzt sofort?“, zauderte er. „Es ist Nacht, und ich gehe nie in der Nacht nach draußen. Die Dunkelgnome gehen jetzt um, das weißt du doch, und ...“
„Die Dunkelgnome haben mich den ganzen Weg hierher in Ruhe gelassen. Im Moment habe ich nur Angst vor den Soldaten. Also komm!“
Doch Corum schüttelte entschieden den Kopf. Nicht einmal Anud würde ihn dazu bewegen können, das Haus zu verlassen, bevor das erste Morgenlicht die Wiese wieder erhellte.
„Nein, ich geh nicht raus. Du kannst dich unter meinem Bett verkriechen, wenn du magst. Aber ich werde nicht dort hinausgehen, wo sich Dunkelgnome und Soldaten herumtreiben, und wer weiß was noch alles. Nein, nein, nein!“
Anud zischte einen unterdrückten Fluch. Sie versuchte es noch einmal, aber Corum war nicht umzustimmen. Schließlich gab sie auf. „Na gut, ich werde diese Nacht hier bei dir bleiben. Hoffentlich suchen mich die Soldaten solange noch woanders. Und bei Tagesanbruch bringst du mich in diese Höhle, ja?“
Er nickte. In seinem Innern tobte ein Kampf darum, ob er nun mehr Angst vor der Nacht da draußen haben sollte oder vor den Soldaten, die nach Anuds Bericht jederzeit hier auftauchen konnten. Schließlich entschied er sich, dass die Angst vor der Nacht gerade den Vorrang hatte, denn die Dunkelheit war bereits hier. Bei den Soldaten gab es noch die Chance, dass sie vielleicht gar nicht kommen würden.
„Hast du noch eine andere Decke?“, fragte Anud, und Corum brauchte wieder einen Moment länger als angemessen, bis er begriffen hatte, was sie von ihm wollte.
„Eine Decke?“
„Ja, eine Decke. Ich möchte gern versuchen, diese Nacht noch ein Auge zuzutun, wenn wir schon hierbleiben. Du wirst mir doch sicher dein Bett anbieten, und das, was du da festhältst, ist mir zu nass, um mich damit zuzudecken.“
Corum blickte von ihr zu der Bettdecke in seinen Händen und wieder zurück. Dann nickte er. Mit zittrigen Beinen stand er auf. Er warf den feuchten Stoff auf den Boden und holte aus einem Schrank eine weitere Decke heraus. „Natürlich kannst du in meinem Bett schlafen“, sagte er und überreichte ihr das Bettzeug. Und dann lächelte sie ihn zum ersten Mal in dieser Nacht freundlich, wenn auch erschöpft, an.
Dieses kleine Lächeln brachte sein Herz zum Hüpfen, und das, was Anud dann tat, ließ es ein paar Takte aussetzen. Die junge Frau breitete ihre Arme aus und zog den Mann, der ihr gerade mal bis zur Schulter reichte, fest an sich. Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Stirn.
Corum stand wie angewurzelt da und konnte sein Glück kaum fassen. Völlig überwältigt von seinen Gefühlen, den guten wie den schlimmen, blieb er noch eine ganze Weile an Ort und Stelle stehen und starrte auf seine Freundin, die sich nun in seinem Bett zusammenrollte. Erst als er sich etwas beruhig hatte und er spürte, wie sehr ihm die Beine wehtaten, legte er sich in einer Ecke auf den Boden, um den unterbrochenen Schlaf wieder aufzunehmen. Er zog die feuchte Bettdecke über sich, aber sie wärmte ihn kaum. Und schlafen konnte er auch nicht. Also wartete er eben, stets in die Dunkelheit lauschend, auf das erste Morgenlicht.