Читать книгу Frau mit Grill sucht Mann mit Kohle - Sabine Ibing - Страница 10
FRANKFURT – ZEHN MONATE SPÄTER
Оглавление(Sophie Barradon: Das Einzige, das ich jetzt tun möchte, ist, mich hinzusetzen und ein Glas Schampus zu schlürfen!.)
Sophie klemmte sich fest an Karls Arm, als sie das Restaurant im Tigerpalast betraten. Amelie saß mit ihrem Freund Nils bereits am Tisch und verzog das Gesicht. Überschwänglich überreichte Sophie ihr einen dicken Strauß roter Rosen. »Alles Liebe zum Geburtstag, mein Kind!«
Amelie entwand sich Sophies Umarmung. »Karl, du hattest versprochen, solo zu erscheinen!«, flüsterte sie leise in Karls Richtung.
Unsicher und mit einer linkischen Bewegung drückte er Amelie an sich. »Ich konnte Sophie nicht allein lassen. Seit bei den Nachbarn eingebrochen wurde, hat sie abends Angst im Appartement«, hauchte er in ihr Ohr.
Sophie schritt elegant um den Tisch herum, sich umschauend und darauf achtend, ob die anderen Gäste ihre Anwesenheit wahrnahmen. Sie schaute jedem der Männer an den umliegenden Tischen aufreizend ins Gesicht. Dann wandte sie sich zu Amelie. »Karl hat keine Geheimnisse vor mir. So langsam solltest du dich daran gewöhnen, dass ich zu ihm gehöre«, sagte sie leise und tätschelte Karls Arm. »Wir können uns doch wie Freundinnen unterhalten, du musst mich nicht als Ersatzmutter aber auch nicht als Feindin betrachten.«
Amelie stöhnte und starrte an die Decke. Sie presste ihre schmalen Lippen aufeinander. Karl bestellte Champagner und bedeutete dem Kellner, dass er ein Menü vorbestellt hatte.
Sophie plapperte munter los. »Ich hatte ja geraten, in die Villa Merton zu gehen, doch Karl meinte, du hättest auf diesen Laden bestanden, na ja.«
»Sicher habt ihr dort diese Woche schon drei Mal gespeist, ich dachte, es wäre eine Abwechslung für Karl«, entgegnete Amelie kalt.
»Was macht dein Studium?« Karl blickte Amelie warm an.
»Ha», stieß Sophie aus, »mit BWL bekommt man kaum eine gute Stelle heutzutage, alles nur Praktikantenplätze. Warum hast du nichts Anständiges studiert?« Sie zupfte ihre Haare zurecht. In diesem Augenblick reichte der Ober den Champagner.
Karl erhob sein Glas und prostete den Damen und Nils zu. Amelie, Nils und Karl ließen die Gläser zusammenstoßen, es klirrte leise. Dann zog Amelie demonstrativ ihr Glas zurück, während die verblüffte Sophie mit offenem Mund ihres in der Luft über dem Tisch hielt. Karl klapperte mit seinem Glas an Sophies. Nils, etwas verwirrt, tat es ihm gleich. »Auf einen besinnlichen Abend!« Karl hatte einen laxen, ironischen Ton anstimmen wollen. Aber die Bitterkeit, die im Unterton durchklang, war nicht zu überhören.
»Wie oft soll ich dir noch erklären, Karl, dass man nur das Glas hebt und das Anstoßen andeutet? Du machst das wie ein Prolet«, flüsterte Sophie.
Amelie stieß ihr Glas kräftig an das von Karl und sagte laut »Nastrovje!«
Der Ober servierte den Langoustino Royal mit gefülltem Romana-Salat und Morcheln, fragte nach dem Weißwein.
Genussvoll schloss Karl die Augen: »Ein Gedicht!«
»Man kann es essen«, nuschelte Sophie. Ein Gespräch wollte nicht zustande kommen, jeder konzentrierte sich auf sein Gedeck.
Sophie starrte auf den zweiten Gang, schnitt ein Stück Fisch ab, probierte das Kraut. »Bäh, mit Schweinefuß, wie passt das zusammen? Fettig, nach Sau stinkend! Schmeckt grausig.« Angeekelt schob sie den Teller von sich weg.
»Ich finde es klasse!«, meinte Amelie mit vollem Mund und aß mit sichtlichem Appetit. Das folgende Bell-Lotaschwein mit Auberginen, Blutwurst und Apfelkaramell ließ Sophie stehen. Sie erhob sich und entschuldigte sich, ihr sei vom Anblick der Blutwurst schlecht geworden.
»Wie hältst du das bloß aus, Karl?«, fragte Amelie. »Die Frau ist eine Mäkeltante ohne Ende! Da bekommt man ja Depressionen! Nichts ist ihr recht. Das hier ist ein Sternerestaurant und das Essen ist wunderbar! Ich danke dir. Aber die Schnepfe hättest du besser zu Hause gelassen!«
»Irgendwie seid ihr beide euch spinnefeind. Das geht so nicht, Amelie. Du musst dir mehr Mühe geben. Sophie ist sehr empfindsam. Sie macht derzeit einiges mit ihrem Exmann durch wegen der Scheidung. Sie ist außerordentlich bemüht um dich! Du patzt sie nur an!« Die Enttäuschung sprach aus Karls Stimme.
»Es ist unerträglich, wie du sie in Schutz nimmst!« Eine Falte hatte sich auf Amelies Stirn gebildet, die ihren Ärger zeigte. »Bemüht um mich?«, sagte sie in verächtlichem Tonfall. Ihr Mund zog sich nach oben und ihr Blick rollte demonstrativ gegen die Decke. »Sie will mich von dir wegekeln. Sie nutzt dich aus und du registrierst das nicht!«
»Was du dir zusammenspinnst!« Karl war sichtlich enttäuscht. Seine Augen signalisierten eine klare Bitte, eher einen Befehl. Amelie wusste, dass sie in diesem Augenblick verpflichtet war, dem Wunsch nachzugeben, zumindest für heute.
Sie legte ihre Hand auf Karls große Pranke und sagte leise: »Du bist so ein guter Kerl und du merkst nicht die Bohne. Wie heißt es: Nicht die Bösen kommen in die Hölle, sondern die, die es immer gut meinen.«
Sophie kehrte an den Tisch zurück und Nils verzog sich. »Na, redet ihr über mich? Hoffentlich keine schlechten Dinge.« Sie lächelte Amelie überheblich an.
»Ich habe Karl gerade gesagt, wie sehr mir dein Kleid gefällt. Wirklich elegant. Ich wünschte, ich würde deinen Geschmack besitzen«, entgegnete Amelie sanft.
»Ruf mich an, wenn du einkaufen gehst, ich begleite dich gern. Apropos Stilempfinden: Dein Freund erinnert mich an Hollywoodfilme. Er wirkt wie Leonardo DiCaprio als arbeitsloser irischer Einwanderer in den Aufbauzeiten von New York. Das sieht furchtbar aus und zeugt nicht von Stil! Diese verbeulten Hosen von Bergfabel mit schlabberigem Hemd und diesem Hafersack-Jackett! Ja, Sack ist passend! Wenigstens hat er die Schirmmütze abgenommen. Und die Hosenträger, die sind ...«
Amelie schnitt Sophie den Satz ab. »Das ist Archaik-Look und total in! Klar, wir hätten auch lieber in die Villa gehen sollen. Aber es ist mein Geburtstag, mein Essen, meine Gäste. Oh, in der Villa verzichtet man auf Olivenöl, Zitrusfrüchte oder Ananas, kredenzt keine Salzwasserfische, arbeitet nur mit Nachhaltigem aus der Region, serviert so leckere Dinge wie Kartoffelrosen, Fichtensprossen, Bucheckern. Ich weiß. Ist mir zu viel Öko, nein danke.«
»Dessen ungeachtet glänzt sie durch eine hohe Kochkunst und absolut hochwertige Produkte. Denk an deine Gesundheit!« Karl lachte schallend und schlug sich mit der linken Hand auf den Oberschenkel.
Amelie zog einen Flunsch. »Früher hast du etwas anderes gesagt. Es sei dir egal, wenn die Kühe in Argentinien pupen, Hauptsache das Steak schmeckt. Und Olivenöl sei dir heilig, genauso wie deine Ananas zum Frühstück.« Sie drehte sich zu Sophie. »Und du fährst so gern nach Malle! Ist das nachhaltig? Hessen hat schöne touristische Ziele und das Rheingau ist gleich um die Ecke. Kannst überall mit der S-Bahn hinreisen. Das wäre doch nachhaltiger!«
»Also ...«, hob Sophie an.
Amelie schnitt ihr das Wort ab. »Du lässt dir Nervengift unter die Haut spritzen und regst dich synchron über Chemierückstände in Obst und Gemüse auf. Du prangerst Tierquälerei an und hast diverse Pelze im Schrank hängen. Wer bist du eigentlich? Wofür stehst du? Das weißt du wahrscheinlich nicht einmal selbst!«
Sophie schnappte nach Luft und Karl legte ihr versöhnlich den Arm um die Schulter. »Heute ist Geburtstag und wir wollen wegen solchem Unsinn nicht streiten.«
»Es geht nicht alles gleichzeitig.« Sophie fummelte beim Sprechen beleidigt am Wachs der Kerzen herum. »Wer Gerechtigkeit als Gleichheit bezeichnet, der ist nur neidisch. Das sagte schon Nietzsche.«
»Ach, meinte er das?« Nils konnte ein breites Grinsen nicht unterbinden, als er an den Tisch zurückkehrte.
»Für die Gesellschaft nützlich ist doch nur der, der ihr auch etwas bringt, sich sozusagen für die Gemeinschaft wertvoll macht«, gab Sophie zurück und entspannte sich.
»Und welchen Nutzen bringst du?«, fragte Nils.
Hastig stand Karl auf und klopfte mit der Gabel an sein Glas. »Liebe Amelie, wir alle hier wünschen dir viele glückliche Jahre, mach weiter so. Und Prost!«
Das Dessert wurde serviert, ein Erdbeersorbet mit Champagnergelee, als Beilage pochierter weißer Pfirsich mit Himbeeren. »Das Gelee ist zu hart und der Pfirsich verkocht!«, mäkelte Sophie und legte den Löffel beiseite.
»Immerhin scheint dir das Sorbet zu schmecken«, entgegnete Amelie. »Du bist eine von denen, der man das Ei niemals recht kochen kann.«
An den Petits Fours zum Schluss hatte Sophie wieder etwas auszusetzen: Sie seien zu plump.
Nach dem Espresso verabschiedete sich Amelie, sie sei mit Freunden in einem Club verabredet. Karl rief ein Taxi und fuhr mit Sophie nach Hause. Sie machte Karl Vorhaltungen. Er hätte sich nicht genügend um sie gekümmert, nicht einmal bemerkt, dass sie sich extra für den Anlass ein neues Kleid gekauft hatte. Und sie beschwerte sich, weil Karl Amelie eine Cartieruhr geschenkt hatte. Sie solle sich selbst eine kaufen. Pralinen hätten gereicht. »Der Kellner war aufmerksam, ist immer um mich herumgeschlichen. Hast du gesehen, wie verliebt er mich angeschaut hat? Ebenso der Herr gegenüber. Er hat mich die ganze Zeit angestarrt, es war fast peinlich. Und du hast dich nur für Amelie interessiert!«
»Sophie, wie oft soll ich es dir noch sagen: Amelie ist meine Tochter! Auch wenn ich sie nicht gezeugt habe. Du regst dich über eine Uhr auf. Du hast einen SLK von mir zum Geburtstag bekommen.«
»Das ist etwas anderes! Wir sind ein Paar!«
»Sophie, ich bitte dich, nicht ständig sinnlos einzukaufen. Du hast im letzten Monat für mehr als zwanzigtausend Euro Bekleidung gekauft. Im Arbeitszimmer haben wir dir einen zusätzlichen Kleiderschrank aufgestellt, weil der im Schlafzimmer nicht ausreichte, im Keller sind die Schränke voller Sommerkleidung. Was willst du mit den ganzen Klamotten?«
»Du bist ungerecht. Das war nicht nur Garderobe, auch Schuhe und Handtaschen, Kosmetik, Essen für uns.«
Er zog ein zerknülltes Papiertaschentuch aus der Hosentasche, zupfte daran herum. Er wollte nicht nachgeben, aber er musste diplomatisch sein. Konzentriert schloss Karl die Augen, holte tief Luft. »Egal wofür, so geht es nicht. Ich bin kein Millionär. Wie wäre es, wenn du mal wieder arbeiten gehen würdest, dann hättest du nicht so viel Zeit zum Geldausgeben. Irgendwo im Büro.« Karl war etwas lauter geworden.
»Büro, moderne Käfighaltung!« Sophies Körper krümmte sich zusammen, sie fing an zu weinen, stille Tränen rannen über ihr Gesicht. Karl setzte sich sofort zu ihr auf das Sofa, nahm sie in den Arm. »Sophie, nun hör auf zu heulen, wir bekommen das hin.« Er streichelte ihren Rücken, danach die Wangen.
»Hugo will mich aushungern, dafür kann ich doch nichts. Dieser Mistkerl! Du weißt, wie ich mich für seine Eltern aufgeopfert habe! Ich habe das Büro geschmissen, Einkauf, Buchhaltung, Kundengespräche, Antragswesen, Verträge, alles halt, bis auf die Technik. Führe du mal allein ein Unternehmen. Glaub mir, das war kein Achtstundentag! Nicht einmal eine Putzfrau konnte ich mir leisten! Meine Gesundheit habe ich für Hugo gegeben. Und ganz nebenbei sagte er plötzlich, ich solle ausziehen, er habe eine Neue, was Junges, Knackiges«, jammerte Sophie und schluchzte auf. »Du ahnst nicht, wie demütigend das ist! Du fühlst dich wie ein alter Kühlschrank, einfach ausgewechselt gegen ein fabrikneues dreimal A-Modell mit besseren Funktionen! Sein Auto hebt er auf, das heißt später Oldtimer, das ist wertvoll. Als Frau wirst du aussortiert wie ein Putzlappen. Hast du genug geschrubbt und gerackert, ab in den Müll! Ich habe so viel ertragen, auch seine Attacken, wenn er gesoffen hat. Mehr als einmal verpasste er mir ein blaues Auge!« Sie jaulte laut auf. Karl drückte Sophie fest an sich, strich ihr sanft über den Kopf.
»Aber nicht doch. Du bist nun bei mir in guten Händen. Mein Anwalt wird dem Schwein schon den Arsch aufreißen!«
»Er trennte sich einfach von mir. Erst hat er komplett die Regie über mich übernommen, hat mein Konto geplündert. Jetzt entsorgt er mich wie Unrat. Er möchte mir meine Freunde rauben, erzählt Lügen über mich.« Sophies ganzer Körper schüttelte sich vor Weinen. »Jeder fällt auf den Kerl rein, er kann sehr überzeugend sein. Mich stellt er als Hexe dar, die sein Leben zerstört hat. Er hat es geschafft, dass zu Hause niemand mehr mit mir reden will, ich habe nicht die Chance, mich zu rechtfertigen. Für seinen guten Ruf würde er mich foltern, töten und verbuddeln, wenn es sein müsste. Keiner meiner Freunde ruft mich an, weil sie seine Ammenmärchen glauben.« Sophie schmiegte sich in Karls Arme. »Und sollte dir was passieren, stehe ich völlig alleine da. Deine Frau und deine sogenannte Tochter setzen mich vor die Tür und ich gehe ins Obdachlosenasyl!« Sie tupfte mit dem Handrücken vorsichtig die Augen.
»Sophie! Was babbelst du!« Karl setzte sich auf, hob ihr Kinn mit dem Zeigefinger hoch, schaute ihr ins Gesicht. Wieder rannen ihr Tränen über die Wangen. Er zog ein Taschentuch aus der Packung auf dem Tisch, trocknete ihre Wangen. »Das ist Unsinn.«
»Du hast die Fünfzig überschritten, viele Männer in diesem Alter fallen einfach um und sind tot. Du kannst einen Autounfall haben. Kein Mensch weiß, wie lange er lebt«, flüsterte Sophie.
»An was du denkst. Niemand schmeißt dich hier raus.«
Sophies Fingernägel krallten sich in Karls Unterarme. »Oh doch. Die hassen mich. Du bist mit Alex verheiratet, nicht mit mir. Ich stehe völlig alleine da und es wird ihnen Vergnügen bereiten, mich rauszuschmeißen. Außer ...«, sie schaute ihm liebevoll ins Gesicht, »du lässt dich scheiden.« »Du weißt, Alex und ich haben eine Vereinbarung: Keine Scheidung«, gab Karl mürrisch zurück.
»Dann überschreib die Wohnung auf mich. Das wäre nur fair. Wenn du nicht mehr bist, zerfleischen mich die beiden.«
»Über den Tod denkt man nicht gern nach. Es erscheint mir ganz und gar absurd, dass ich in der nächsten Minute aufhören könnte, zu existieren.« Gedankenverloren blickte Karl aus dem Fenster.
»Ich will dich nicht ängstigen, Karl.« Sophie rekelte sich geschmeidig auf dem Sofa, streckte sich. »Das war Quatsch von mir. Ich bin nun mal ein furchtsamer Mensch. Trotzdem: Du solltest dich scheiden lassen! Du musst dein altes Leben abschließen, ein neues beginnen. Das ist doch ohne Rückgrat, mit einer verheiratet zu sein, mit der anderen zusammenzuleben. Du bist ein ganzer Kerl! Oder habe ich nur einen halben Hering abbekommen?«
»Wenn das so einfach wäre.« Karl stöhnte, machte eine Pause. »Wir haben einen Beschluss. Man belässt alles, wie es ist, gibt sich trotzdem gegenseitig frei. Um die finanziellen Folgen einer Scheidung zu umgehen, bleibt man weiterhin verheiratet und einigt sich eben auf sonstige Weise. Das nennt sich dauerhaft getrennt lebend.«
»Diesen Status bezeichne ich als inakzeptabel. Sie hat Angst, dir etwas von ihrer Kohle abgeben zu müssen! Das ist es doch!«
»Nein, nicht Alex, sie hasst Anwälte. Aber du hast recht, sollte ich sterben, werden Alex und Amelie nicht mit der Wimper zucken, was auch immer zu tun, um dich loszuwerden. Da ist was dran.«
Karl schlang seine Arme fest um Sophie, legte sein Gesicht in ihren Nacken, küsste sie zart und saugte ihren Duft ein. »Ich liebe dich so sehr, wie mein eigenes Leben«, hauchte ihr Karl ins Ohr.
Sophie zog sich von ihm zurück. Plötzlich stand sie abrupt auf, schaute kalt lächelnd auf ihn herab. »Ich bin müde, gute Nacht.«
Wenn sie ihn auf diese Weise ansah, fast maskenhaft grinsend, fühlte er sich völlig hilflos. Es schien ihm so, als sei sie vor ihm aufgewachsen und er wäre ein schwacher Winzling, der um ihre Gnade bettelte. Sex würde er die nächste Zeit nicht haben, das sagte ihr Blick eindeutig. Die wenigen Male musste er sich fleißig erarbeiten. Auf Sophies Stirn bildete sich diese kleine Furche, sobald sie etwas von ihm verlangte, die Augen funkelten gnadenlos. Der befehlende Ausdruck erlaubte keinen Widerstand. »Ich gehe zum Anwalt. Irgendwann muss man klar Schiff machen in seinem Leben«, hörte Karl sich selbst sagen.
Sein Whisky schimmerte bernsteinfarben im Glas. Ich werde alt, dachte er. Vor ein paar Tagen hatte er ein Prospekt für Kaffeefahrten zugesandt bekommen. Bei Facebook fand er am Rand vermehrt Werbung für Hörgeräte, Treppenfahrstühle, Prostatatabletten und Erektionssteigerer. Und neuerdings, wenn er in Bad Homburg vor der prächtigen Seniorenresidenz stand, blieb er stehen, schaute in den Park, überlegte, ob es ihm hier gefallen könnte. Bei Zeitungsartikeln über Pflegenotstand grübelte er darüber nach, ob das Problem bis zu seinem Pflegealter gelöst würde. Er hatte Angst davor, allein zu sein, abhängig von einem Weißkittel, der bestimmte, ob und wann er Stuhlgang hatte, wie schnell er essen müsse. Und erst das Essen in einem Heim! Ob es besser wäre, in die Schweiz zu fahren, frühzeitig seinem Leben ein Ende zu machen? In letzter Zeit las Karl die Todesnachrichten in der Zeitung durch, um zu sehen, ob er jemanden kannte. Und jedes Mal schreckte er zusammen, wenn er Geburtsdatum von 195 ... las. Tod und Verfall des Körpers stellte sich ihm ständig in den Weg: Ein Freund erhielt dritte Zähne, hier eine neue Hüfte, dort Kniegelenke, Schrittmacher bei den Bekannten, die mehr als zehn Jahre älter waren. Herzinfarkt, Diabetes, Rückenleiden, Schiss vorm Sport; das hörte er bei denen in seinem Jahrgang. Doch seine Freunde waren ganze Kerle! Man traf sich zum Laufen, Radfahren, Spinning. Sie machten zwei Mal jährlich kurzen Männerurlaub. In diesem Jahr würde er nicht mitfahren, er konnte Sophie nicht alleine lassen und sein Training war mittlerweile sehr reduziert. Das musste sich ändern! Seine Kumpels waren die Typen, die sich nicht in Selbstmitleid hängen ließen und meinten, das Leben sei schon vorbei und nur noch auf Sparflamme möglich aus Angst vor dem Tod.
Morgen würde er sich auf sein Rad schwingen! In der letzten Zeit hatte er sein Training vernachlässigt. Dies Empfinden, wenn er joggte, in die Pedalen trat, Endorphine sich in seinem Körper ausschütteten, die Welle die über ihn schwappte, ihn glücklich machte. Er vermisste dies Gefühl. Der Kopf war befreit, die Beine machten sich selbstständig, wie ein Motor, immer vorwärts, einfach weiter, bis sich die wohltuende Leere im Kopf ausbreitete. Der Geruch von frisch gemähtem Gras, das erdige Aroma nach einem Regen, der Duft von Blüten, frei von allen Sorgen. Rhythmische Bewegung, eins mit sich sein, der Geruch vom Main, das Kreischen der Möwen. Kein Zeitdruck, keine nervenden Kunden, keine meckernde Sophie. Anstrengung bis zum Limit. Und wenn du es geschafft hattest, dieser innere Jubel! Marathon, Iron Man, eine unglaubliche Kraftanstrengung. Du hast es geschafft! Bis ins Ziel!
Sophie musste lernen, wieder allein zu sein. Er musste lernen, sich seine Zeit für sich zu nehmen. So musste es sein.