Читать книгу Die Nacht der Eisblumen - Sabine Strick - Страница 5
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ОглавлениеDer Schnee rieselte in feinen Flocken unermüdlich auf Berlin, verwandelte die kahlen Bäume und Büsche in feenartige Gebilde und legte sich wie ein zarter, weicher Teppich auf die Bürgersteige.
Im belebten Viertel um den Savignyplatz, wo sich Cafés, Restaurants und Designer-Boutiquen aneinanderreihten, leuchteten die weihnachtlich geschmückten Fenster mit den Laternen um die Wette.
Alexandra Wittenberg kniete im Schaufenster ihres kleinen Dessous-Fachgeschäfts French Silk und befestigte eine weitere Weihnachtsdekoration zwischen den eleganten Auslagen aus Spitze, Seide und Satin. Dabei bemerkte sie einen schlanken, hochgewachsenen jungen Mann, der vor dem Geschäft stand und die feine Lingerie betrachtete.
„Da ist wieder dieser hübsche Kerl, der sich schon seit Tagen die Nase an unserem Schaufenster plattdrückt“, sagte sie lächelnd zu ihrer Verkäuferin Manuela, als sie in den Verkaufsraum zurückkrabbelte. „Bin gespannt, ob er sich entschließt, mal hereinzukommen.“
Und Andrej Menshikov entschloss sich an diesem Spätnachmittag, endlich die Boutique zu betreten, deren verlockendes Angebot ihn vor ein paar Tagen auf eine Idee gebracht hatte.
Etwas eingeschüchtert und gleichzeitig neugierig wie ein kleiner Junge, der Erwachsenenterritorium betritt, schlenderte er über den weichen, nougatbraunen Teppich, nachdem er sich sorgfältig die Schuhe auf dem Fußabtreter am Eingang gesäubert hatte.
Es kam ihm verrucht vor und war daher unwiderstehlich, die koketten Stücke zu berühren, die dazu dienten, die intimsten Stellen einer Frau zu bedecken oder vielmehr zur Geltung zu bringen. Dort, wo er aufgewachsen war, hatte es das nicht gegeben, zumindest nicht in seiner Kindheit und Jugend.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Alexandra mit gewinnendem Lächeln, nachdem er eine Weile verschiedene BHs, Tangas und Korsagen betrachtet hatte.
„Meinen Sie, das gefällt einer jungen Frau?“ Andrej hob ein gewagtes Modell der französischen Marke Scandale in die Höhe.
„Kommt drauf an. Was ist Ihre Freundin denn für ein Typ?“
„Sie ist Russin“, sagte er, als würde das alles erklären. Er selbst hatte ebenfalls einen unverkennbar russischen Akzent.
Alexandra stellte sich unter einer jungen Russin spontan eine stark geschminkte und blondierte Frau mit Ohrringen groß wie Donuts vor, der ein extravagantes Dessous sicher gefallen würde. Nur der junge Mann schien nicht zu so einer Frau zu passen. Er war gut, aber unauffällig gekleidet, wirkte dezent und zurückhaltend.
„Ist sie in Ihrem Alter?“, tastete sie sich behutsam vor.
„Jünger. Anfang zwanzig.“
„Wie kleidet sie sich denn?“
„Am liebsten trägt sie Jeans, bis hierher.“ Er zeigte auf seine Leistengegend. „Und das T-Shirt bis hier.“ Er hielt die Handfläche unter die Brust.
Und der Bauchnabel ist sicherlich gepierct und das Steißbein unter dem hervorschauenden String tätowiert, dachte Alexandra amüsiert.
„Dieses Modell wird ihr bestimmt gefallen“, versicherte sie. „Kennen Sie ihre genaue Größe?“
„Ja.“ Er kramte einen Zettel aus seiner Jackentasche und hielt ihn Alexandra hin. „Diese Größe steht auf dem Etikett von ihrem – äh ... Büstenhalter.“ Das Gespräch war ihm sichtlich peinlich, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
„Sehr schön.“ Sie lächelte in sich hinein und suchte die angegebene Größe heraus. „Sie kann es umtauschen, wenn es ihr nicht passt oder nicht gefällt.“
„Gut. Und wenn es mir an ihr nicht gefällt?“ Seine Augen blitzten übermütig auf und sein Mund gab beim Lächeln den Blick auf ebenmäßige Zähne frei.
Alexandra hatte plötzlich Lust zu flirten. „Früher hätte ich es Ihnen vorführen können, damit Sie wissen, wie es wirkt, aber jetzt mache ich das nicht mehr.“
„Das haben Sie gemacht?“, fragte er verblüfft.
„Ja, früher war ich mal Model für Unterwäsche. Aber das ist lange her.“
Sie biss sich auf die Lippen und schalt sich eine dumme Gans. Was ging ihn das an? Vielleicht dachte er jetzt, sie wäre eines der zahlreichen „Models“ gewesen, die ihre Dienste in den Kleinanzeigen der Berliner Zeitungen anboten.
„Ich meine, ein richtiges Fotomodel für Katalog- und Werbeaufnahmen“, ergänzte sie hastig.
„Da haben Sie sicher viel von der Welt gesehen.“ Es klang sehnsüchtig, und Alexandra verlor sich einen Moment lang in seinen großen braunen Augen, die voller Leben waren.
„Nein, die meisten Aufnahmen fanden in Studios in Berlin oder Hamburg statt. Hin und wieder gab es auch Vorführungen auf Fachmessen in Düsseldorf oder London. Einmal war ich zu einem Shooting für Bademoden in der Karibik.“
„Karibik …“, seufzte er mit seinem rollenden R und starrte verträumt durch die Glastür auf das glitzernde Schneetreiben.
Alexandra fand seinen Akzent ausgesprochen klangvoll und charmant. „Darf es noch etwas sein?“
Andrej blickte sich um. „Ist das ein Nachthemd oder Partykleid?“ Er zeigte auf ein freches Mininachthemd aus schwarzem Satin mit silbernem Aufdruck aus Sternen und Herzchen.
Alexandra lachte, nahm das Kleid vom Bügel und hielt es sich an. „Ich verkaufe es eigentlich als Nachthemd, aber Ihre Freundin kann es gerne als Partykleid tragen, wenn sie will.“
„Was kostet es?“
„Fünfundneunzig Euro.“ Sie vermutete, dass er es zu teuer finden würde.
„Kein Problem“, erwiderte er würdevoll, zückte seine Brieftasche und legte zweihundert Euro auf den Tresen, während Alexandra die Diebstahlsicherung löste. „Soll ich es Ihnen als Geschenk einpacken?“
„Ja, bitte.“
„Einzeln oder getrennt?“
„Getrennt. Die Unterwäsche ist für Weihnachten und das Kleid für Samstagabend“, entschied er.
Alexandra lächelte und nahm zwei kleine Geschenkkartons. „Sie müssen ja sehr verliebt sein …“
Er blickte sie an und ein Strahlen überzog langsam sein Gesicht. „Ja.“
Alexandra seufzte kaum hörbar und wünschte sich, sie wäre noch einmal zwanzig, in einem Alter, wo die Männer romantisch und nahezu unverdorben waren – manche jedenfalls. So wie dieser hier es zu sein schien.
„Ich wünsche Ihnen eine schöne Adventszeit“, sagte sie herzlich, als er sich mit seinen Päckchen zum Gehen wandte.
„Danke, für Sie auch.“
Die Ladentür schloss sich klingelnd hinter Andrej und Alexandra wandte sich zu Manuela um. „Ist das nicht süß? Diese jungen Männer … Denkst du, in fünf Jahren Ehe habe ich einmal ein raffiniertes Dessous von Thomas bekommen?“
Manuela lachte. „Nein, weil du die Schubladen voll davon hattest. Du hast das als Model jahrelang gratis nachgeschmissen bekommen, warum hätte er dir so was kaufen sollen?“
„Da hast du recht. Aber ihm ging einfach der Sinn für solche Geschenke ab. Der Tiefpunkt war, als ich von ihm einen Staubsauger zu Weihnachten bekommen habe! Aber da war er ja auch schon mit dieser mannstollen Schnepfe zusammen und ich war nur noch die gute Fee, die alle Rechnungen bezahlt, seine Hemden gebügelt und sein Konto aufgefüllt hat, wenn er in den Miesen war.“
„Du hattest wirklich Pech mit deinem Mann. So sind sie nicht alle.“
„Und was war mit Daniel, Anfang des Jahres? Der mich nur angerufen hat, wenn ihm nach Sex war? Na schön, zwischendurch hat er mir auch mal ein tolles französisches Menü gekocht, um mich bei Laune zu halten. Aber ich sage dir, der hatte den Hummer kiloweise in seinem Tiefkühler – ich war nicht die Einzige, für die er gekocht und die er anschließend zum Dessert vernascht hat. Und da sagt man immer, Männer, die Porsche fahren, haben ein Problem mit ihrer Potenz – das ist nicht wahr!“
Manuela, die sich die Höhen und Tiefen dieser Affäre monatelang geduldig angehört hatte, lächelte milde. „Es liegt mir fern, diesen Kerl zu verteidigen, aber er hat dir von Anfang an gesagt, dass er vor Beziehungen flieht.“
„Ja, das hat er. Und als ich mich in ihn verliebt habe, ist er sogar für drei Wochen bis nach Australien geflohen“, knurrte Alexandra.
„Die Reise hatte er doch bereits gebucht, als ihr euch kennengelernt habt. Sag mal, ich dachte, du bist über Daniel hinweg?“
„Bin ich auch. Ich bin bloß angewidert von dem, was aus der Liebe geworden ist. Ich würde zu gerne noch mal eine so leidenschaftliche und romantische Liebe erleben, wie man sie scheinbar nur kennt, wenn man jung ist. Die Männer in unserem Alter wollen sich nicht mehr wirklich auf Beziehungen einlassen, habe ich den Eindruck. Alle, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe, hatten Angst, verletzt zu werden. Wo sind die risikobereiten Kerle geblieben?“
„Die gibt es bestimmt noch, man muss sie nur finden.“
„Und inzwischen geht die Jugend dahin, die Schönheit auch, und es wird immer schwieriger, überhaupt noch jemanden zu finden“, klagte Alexandra.
„Na, wenn du das schon sagst, Miss Big Eden 1985!“ Manuela nahm sie bei den Schultern und schob sie vor einen der langen, schmalen Spiegel.
Sie lachten beide, doch dann betrachtete Alexandra nachdenklich ihr Spiegelbild. Gut zwanzig Jahre war es jetzt her, seit sie im Bikini über den improvisierten Laufsteg der bekannten Berliner Diskothek stolziert war und dieses alberne Krönchen aufgesetzt sowie die Schärpe umgehängt bekommen hatte. Immerhin war sie dabei von einem Fotografen entdeckt worden, der für eine Mannequin-Agentur arbeitete und Probeaufnahmen von ihr gemacht hatte. Das war der Beginn einer kurzen Karriere als Fotomodell für Dessous und Bademoden gewesen.
Eigentlich hatte sie sich, zumindest äußerlich, nicht sehr verändert. Durch eiserne Disziplin passte sie noch immer in die engen Jeans von damals, wenn man davon absah, dass sie mittlerweile ziemlich kniffen. Ihre Haare trug sie inzwischen nicht mehr schulterlang und goldblond, sondern kupferrotbraun und in einem kinnlangen Bob, dessen stufige Spitzen weich in Stirn und Wangen fielen, was ihrem Gesicht schmeichelte. Ihre blauen Augen waren jetzt in ein feines Netz aus Fältchen gebettet, aber dafür hatten sie an Ausdruck gewonnen.
Innerlich hatte sich allerdings viel verändert. Nach unerfüllten Träumen von einer internationalen Karriere als Topmodel, einer schmerzhaften Scheidung, einigen schnell gescheiterten Beziehungen und lieblosen Affären fühlte sie sich vom Leben enttäuscht. Zu viele vertane Chancen und unerfüllte Sehnsüchte. In zwei Monaten würde sie vierzig werden, und da sie einen großen Teil ihrer Selbstsicherheit stets aus ihrem guten Aussehen bezogen hatte, machte ihr das Älterwerden an manchen Tagen zu schaffen.
Sie begegnete Manuelas Blick im Spiegel. „Entschuldige. Das ist nur mein üblicher Jahresende-Blues. Hör nicht hin.“
Vor Manuela schämte sie sich für ihre Klagen, hätte diese doch viel mehr Grund dazu gehabt. Manuela war fünfzig, litt oft unter schmerzhaften Gelenkentzündungen und war als Krankenschwester berufsunfähig geworden sowie viele Jahre arbeitslos gewesen. Auch nach einer Umschulung zur Bürokauffrau waren die Stellenangebote ausgeblieben. Ihr Äußeres war lange nicht so vorteilhaft wie das von Alexandra. Sie träumte von Heirat, hatte aber noch nie eine längere Beziehung geführt. Dabei war sie intelligent, gebildet, dynamisch und warmherzig und Alexandra war froh, mit ihr zu arbeiten. Sie hatten sich vor acht Jahren bei einem Kurs für Seidenmalerei kennengelernt und waren seitdem befreundet. Als Alexandra vor fünf Jahren French Silk eröffnet hatte, hatte sie Manuela die Teilzeitstelle als Buchhalterin und Verkäuferin angeboten und es nie bereut. Sie ging fast genauso in ihrer Arbeit auf wie Alexandra, für die ihre Boutique der Hauptlebensinhalt war.
Jetzt tätschelte Manuela ihr die Schulter. „Mach dir keine Sorgen, du wirst schon noch jemanden kennenlernen, der dich glücklich macht. Pass auf, das kann ganz schnell gehen!“