Читать книгу Die Nacht der Eisblumen - Sabine Strick - Страница 8
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ОглавлениеAlexandra fasste sich ein Herz und rief Andrej an. Er schien sich zu freuen, als sie ihm ein Treffen vorschlug, und so schlenderten sie am darauffolgenden Sonntag zusammen über den Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt. Nach einem sonnigen Tag senkte sich nun die Dämmerung über die Stadt. Letzte Sonnenstrahlen spiegelten sich orangefarben in den Fenstern der Hochhäuser und ihr Licht mischte sich mit dem der aufflammenden Laternen. In der Innenstadt waren die Weihnachtsdekorationen besonders üppig. Lichterketten, glänzende Kugeln, bunte Schleifchen und Glitzerschmuck, wohin man sah.
Auf dem Weihnachtsmarkt herrschte Gedränge und es duftete nach gebrannten Mandeln, Glühwein und Lebkuchen. Die Stände quollen über vor Weihnachtsschmuck, Kerzen und Kunsthandwerk. Alexandra hatte sich bei Andrej untergehakt, um ihn in der Menschenmenge nicht zu verlieren – ein willkommener Vorwand.
Als sie den Schutz des umzäunten Weihnachtsmarktes verließen, pfiff ihnen eisiger Ostwind um die Nasen. Die Luft war so frostig, dass es im Gesicht schmerzte.
Alexandra drückte sich ihr mit Webpelz besetztes Mützchen fester auf den Kopf und schmiegte sich enger an Andrej. „Es ist viel zu kalt zum Spazierengehen.“
„Findest du? Ist doch gar nicht so kalt“, meinte er erstaunt.
„Für jemanden, der aus einem Vorort von Sibirien kommt, ist das hier natürlich ein Tropenparadies“, zog sie ihn auf.
Er lachte. „In Moskau wachsen dir Stalaktiten an der Nase, wenn sie läuft.“
Erleichtert hatte sie festgestellt, dass es ihm besser zu gehen schien. Sie erwähnten Polina nicht und schwiegen den Vorfall vom Mittwoch tot.
„Was hältst du davon, wenn wir bei mir zu Hause heiße Schokolade trinken?“, schlug sie vor. Das war ein Kalorienrausch, den sie sich seit Jahren nicht mehr gegönnt hatte. Aber heute war ihr danach, etwas Leichtsinniges zu tun.
„Russische Schokolade?“ Er bekam leuchtende Augen.
„Von mir aus auch das. Ich hab aber keinen Wodka.“
„Du kannst auch Rum oder Cognac nehmen.“
In ihrer Küche kramte Alexandra das Päckchen Kakao aus dem Schrank, das dort schlummerte, seit sie das letzte Mal einen Kuchen gebacken hatte, und erwärmte Milch in einem Topf. Es war kalt in der Küche und sie fröstelte. Beim Lüften hatte sie mittags die Heizung abgestellt und vergessen, sie wieder anzustellen.
Andrej trat ans Fenster. „Da sind ja Eisblumen“, stellte er entzückt fest und berührte die Scheibe, auf deren Außenseite Eiskristalle bizarr-schöne Blumenformen bildeten.
Alexandra hob den Kopf. „Tatsächlich. Heute Mittag habe ich was gekocht und dabei das Fenster aufgemacht. Der Wasserdampf muss später außen an der Scheibe gefroren sein.“
„Das erinnert mich an meine Kindheit“, sagte er wehmütig. „Wir hatten jeden Winter Eisblumen an den Fenstern.“
Sie trat hinter ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Vermisst du Russland?“
„Manchmal. Jedenfalls jetzt, zu Weihnachten. Ich vermisse meine Familie.“
„Wirst du mit deinem Cousin feiern?“
„Ja. Aber das ist nicht dasselbe. Eigentlich wollte ich ja mit Polina …“ Er biss sich auf die Lippe.
Alexandra drückte seine Schulter. „Komm. Die Schokolade ist gleich fertig.“ Sie goss die heiße Milch in zwei Kaffeebecher, verrührte Kakao und gab einen Schuss Rum dazu.
„Ist es vorbei mit dir und Polina?“, forschte Alexandra, als sie nebeneinander auf der Couch saßen und an ihrer Schokolade nippten.
„Ja.“ Andrej nickte langsam und sah verloren aus, wie er so ins Leere starrte.
„Vielleicht wird es wieder“, tröstete Alexandra, obwohl ihr daran nicht im Geringsten lag. Aber ihn so traurig zu sehen, tat ihr beinahe körperlich weh.
„Nein. Sie hat Dinge zu mir gesagt, die ich nicht vergessen könnte. Sie will mich nicht mehr, aber ich will sie jetzt auch nicht mehr. Das habe ich nicht nötig.“
Sie fand seinen plötzlichen Hauch von Arroganz irgendwie sexy. „Was hat sie dir denn gesagt?“
„Etwas Furchtbares.“ Er legte zur Bekräftigung beide Hände auf die linke Brust. „Schlimm für jeden Mann, aber für einen Russen eine Katastrophe“, sagte er in so dramatischem Ton, dass sich Alexandra nur mühsam das Lachen verbeißen konnte.
„Na, was denn, sag’s mir doch.“
„Nein, das kann ich nicht.“
„Ich dachte, wir sind Freunde, Andrej. Du kannst mit mir über alles reden. Und ich bin auch eine Frau, vielleicht kann ich dir Polinas Standpunkt erklären.“
„Na gut.“ Er presste kurz die Lippen zusammen. „Sie hat mich – wie heißt das auf Deutsch? – einen Versager genannt.“ Er mied ihren Blick.
Alexandra nahm seine Hand. „Andrej, das bist du nicht, das darfst du nicht glauben. Du hast Medizin studiert, dazu gehört schon was, und nur weil du zurzeit nicht als Arzt arbeiten kannst oder weil das in Russland nicht mehr so angesehen ist …“
„Sie meint Versager im Bett“, stieß er hervor und spülte die Worte mit einem großen Schluck Schokolade hinunter.
„Oh.“ Alexandra fühlte Wut in sich aufsteigen. „Ob diese dumme kleine Nuss sich da überhaupt auskennt? Vielleicht ist sie es ja, die keine Ahnung von Männern hat oder von sich selbst.“
„Kann sein.“ Andrej begegnete ihrem Blick und schaute sofort wieder weg.
Alexandra tat, was ihr seit dem ersten Abend in den Fingern juckte: Sie strich ihm die widerspenstige Strähne aus der Stirn. Dann wischte sie mit dem Zeigefinger zärtlich den Schokoladenrand von Andrejs Oberlippe, steckte sich die Fingerspitze zwischen die Lippen und leckte sie genussvoll ab. Endlich sah er sie an, fasziniert und ein wenig abschätzend.
Alexandra streichelte seine Hand. „Vielleicht hattest du noch keine Gelegenheit zu lernen, wie man eine Frau richtig verwöhnt.“
„Und du willst es mir beibringen?“, fragte er mit rauer Stimme.
„Möchtest du das?“
Er nickte heftig und zog sie in die Arme. „Wahnsinnig gerne“, murmelte er und begann sie zu küssen.
Sie schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen langen Kuss mit zunehmendem Herzklopfen.
Die Eisblumen glitzerten im Laternenlicht, als Alexandra sich schließlich erhob und Andrej ins Schlafzimmer führte.
Andrej war manchmal etwas ungeschickt in seiner ungestümen Leidenschaft, aber er wirkte verspielt, aufmerksam und begierig, Alexandra zu gefallen. Sie hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Auch nicht mit dem erfahrenen Casanova Daniel, der seine Nummer so routiniert abgezogen hatte wie ein Turner seine einstudierte Kür. Kein Raum für Improvisationen, noch weniger für Gefühle. Daniels Verführung hatte gekünstelt gewirkt, genau wie sein Charme. Andrej dagegen war rührend in seiner Hingabe, seinem Wunsch, ihr Befriedigung zu schenken, und seiner Lust an der Entdeckung.
„Lass dir nie wieder von einer Frau erzählen, du wärst ein Versager, Andrej“, sagte Alexandra atemlos, als er nach einem letzten Aufstöhnen auf sie sank, und zog ihn dicht an sich.
Andrej hob den Kopf und lächelte sie glücklich an. „Ich mag es, wie du meinen Namen aussprichst.“
„Wieso, wie spreche ich ihn denn aus?“
„Du sagst Ondré – es klingt französisch.“ Er strich ihr zärtlich über die zerzausten Haare, die im Kerzenschein leuchteten. „Deine Haare haben die gleiche Farbe wie das Fell eines Eichhörnchens, Sascha“, bemerkte er fasziniert.
„Warum nennst du mich Sascha?“
„Das ist die Koseform von Alexander oder Alexandra. Wir Russen kürzen alle Vornamen ab oder machen sie persönlicher. Ist ein Zeichen von Zuneigung.“
„Also magst du mich?“, neckte sie ihn.
„Und wie!“
Sie lachten und küssten sich erneut.
Am Fenster schmolzen die Eisblumen und rannen als Tautropfen langsam die Scheibe hinunter.
*
Am nächsten Abend betrat ein großer, etwas untersetzter Herr mit grauem Bürstenschnitt und rosigem Teint die Boutique.
Alexandra saß in dem kleinen Büro, das an den Verkaufsraum angrenzte, und Manuela steuerte mit ihrem freundlichsten Lächeln auf den Kunden zu, der mit seinem Kaschmirmantel, dem gut geschnittenen Anzug und den italienischen Schuhen nach Geld aussah. Er trug eine Tüte in der Hand. „Kann ich Ihnen behilflich sein oder möchten Sie sich erst umsehen?“
„Danke, aber ich möchte eigentlich nur zu Frau Wittenberg. Ist sie nicht da?“
„Ich werde sie holen. Moment bitte. Alex? Hier fragt jemand nach dir.“
Alexandra, sehr müde nach der stürmischen, langen Nacht mit Andrej, aber auch sehr gut gelaunt, begrüßte den Besucher mit höflicher Freude. „Claus, was machst du denn hier? Suchst du noch ein Geschenk?“
„Nein, ich will eins loswerden!“ Er griff in seine Plastiktüte und zog eine elegant verpackte Pralinenschachtel hervor. „Ein kleiner Weihnachtsgruß.“
„Oh, vielen Dank“, sagte sie überrascht.
„Ich fahre über Weihnachten zu meinen Eltern und gehe anschließend Skifahren“, erzählte er. „Bin erst im neuen Jahr wieder da, deswegen wollte ich jetzt schon mal frohe Weihnachten und einen guten Rutsch wünschen.“
„Wer war das denn?“, staunte Manuela, als er den Laden verlassen hatte.
„Claus Grohmann. Ich kenne ihn seit einem halben Jahr aus dem Meridian Spa. Wir waren einige Male nach der Sauna im Poolrestaurant was essen. Ich hatte gehofft, er will auch nur eine lockere Bekanntschaft, aber wenn er extra herkommt, um mir Pralinen zu schenken, können wir wohl davon ausgehen, dass er etwas mehr möchte. Oder was meinst du?“
„Sehe ich auch so. Wäre das schlimm?“
„Er ist ganz nett, aber nicht mein Typ.“
„Ist doch ein recht stattlicher Mann. Ist er verheiratet?“
„Seit zwei Jahren verwitwet. Ich habe den Eindruck, er ist etwas einsam. Wenn er nicht gerade Sport treibt, vergräbt er sich in seinem Beruf.“
„Was macht er denn?“
„Er ist Unternehmensberater.“
„Arbeitet er in einem dieser angloamerikanischen Konzerne mit den schwierigen Namen?“
„Nein, er ist selbstständig.“
„Ich finde ihn gar nicht mal unattraktiv.“
Alexandra grinste. „Falls du Interesse hast, kann ich versuchen, euch zu verkuppeln.“
„Warum nicht? Ich finde, das klingt alles sehr gut. Wie alt ist er denn?“
„Anfang fünfzig oder so. Vielleicht würdet ihr beide tatsächlich gut zueinander passen“, sagte Alexandra nachdenklich.
„Du bist wirklich nicht interessiert?“
„Nein. Schon gar nicht wegen der letzten Nacht.“
Seit Manuela mittags gekommen war, waren stets Kunden im Laden gewesen, und sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, über Andrej zu reden.
Manuela lächelte wissend. „Hab ich mir gedacht. Du strahlst, als ob du eine Lichterkette verschluckt hättest.“
„Ich bin noch hin und weg“, gestand Alexandra.
„Und meinst du, es war nur für eine Nacht?“
„Nein, wir sind für Heiligabend verabredet, und diesmal hat Andrej es vorgeschlagen.“
„Na, das sind ja nur noch vier Tage, die wirst du schon herumbekommen.“
„Woher weißt du, dass er mir jetzt schon fehlt?“
„Intuition. Du hast diesen Blick …“
„Aber ich bin nicht verliebt“, wehrte Alexandra ab. „Ich find ihn nur süß. Hab alles unter Kontrolle!“
„Jaja.“ Manuela grinste. „Wir werden ja sehen.“