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Alexandra und Andrej saßen sich im Restaurant Anastasia gegenüber. Andrej hatte reserviert und so standen bereits appetitliche Schälchen und Platten mit kalten Vorspeisen auf dem Tisch, als sie eintrafen. Mit der bordeauxrot-goldenen Tapete und den vergoldeten Spiegeln an den Wänden wirkte das Dekor sehr russisch.

Das Personal hatte Andrej wie einen alten Bekannten begrüßt.

„Die scheinen dich hier gut zu kennen“, stellte Alexandra fest.

„Ich habe hier gearbeitet, ehe ich den Job im Buchladen bekommen habe. Das Essen ist gut.“

„Und sind die russischen Restaurants in Moskau genauso oder völlig anders?“

„Ich kenne nur wenige und die sind viel schlichter“, sagte Andrej. „In Russland ist es für die meisten Leute nicht so selbstverständlich wie hier, ein Restaurant zu besuchen. Zumindest bis vor einigen Jahren konnten es sich nur Touristen und ein paar Besserverdienende leisten. In meiner Kindheit sind wir einmal im Jahr ins Restaurant gegangen, das war immer ein großes Ereignis.“ Er kaute mit Genuss seine pirogi, mit Fleisch und Käse gefüllte Teigtaschen.

„Hast du Geschwister?“

„Nein, leider nicht.“ Andrej stellte erleichtert fest, wie einfach und selbstverständlich es war, sich mit Alexandra zu unterhalten – ganz entgegen seiner Befürchtung. Meist war er Frauen gegenüber zu schüchtern und reserviert, um von sich zu erzählen oder Fragen zu stellen.

Während seines Studiums hatte er viel gearbeitet, um seinen Eltern nicht auf der Tasche zu liegen, und kaum Zeit gefunden, sich mit Mädchen zu amüsieren. Das war auch eine ausgezeichnete Entschuldigung gewesen, seine Schüchternheit im Umgang mit dem schönen Geschlecht nicht überwinden zu müssen.

Polina, mit der er seit ein paar Wochen zusammen war, gefiel ihm, weil sie draufgängerisch und extrovertiert war. Aber er hatte immer den Eindruck, ihr etwas beweisen zu müssen, um weiter in ihrer Gunst zu stehen. Mit Alexandra dagegen fühlte er sich einfach nur wohl und sicher, obwohl sie unter völlig anderen Umständen aufgewachsen war, älter war und selbstsicher wirkte.

„Was sind denn deine Eltern von Beruf?“

„Meine Mutter ist Lehrerin, mein Vater ist auch Arzt. Früher, also in der Sowjetunion, war das ein angesehener Beruf, man hatte Vorteile. Jetzt nicht mehr. Die Krankenhäuser zahlen noch die Gehälter von früher, aber durch die Inflation kannst du davon überhaupt nicht mehr leben. Nur Ärzte mit Privatpraxis verdienen gut, aber mein Vater hat kein Geld, um eine zu eröffnen. In Moskau kommt man mit Bildung nicht mehr weiter“, sagte Andrej missmutig.

„Dann musst du sehr idealistisch sein, wenn du trotzdem Medizin studiert hast.“

„Für eine gute Ausbildung brauchst du Beziehungen. Es war für mich einfacher, Arzt zu werden als Bankkaufmann oder Informatiker oder was auch immer heute beliebt ist, weil man damit Geld machen kann und Auslandskontakte hat. Außerdem möchte ich Menschen helfen, ja, und ich finde Medizin interessant. Aber die Zustände in den Krankenhäusern von Moskau sind miserabel und es ist frustrierend, dort zu arbeiten. Nur wenn man genug Geld hat, um als Privatpatient in eine Spezialklinik zu gehen oder ins Kreml-Krankenhaus, dann ist die Behandlung gut, fast wie in Deutschland.“

„Vielleicht schaffst du es, dort arbeiten zu können.“

„Ist aussichtslos, da brauchst du auch Beziehungen. Und sie nehmen nur sehr spezialisierte Fachärzte, da müsste ich noch ein paar Jahre studieren. Ich hoffe, ich kann hier genug Geld sparen, um in Moskau eine Privatpraxis aufzumachen, falls ich mal zurückgehe.“

„Also lebt es sich hier sehr viel besser als in Moskau?“

„Oh, ja! Ich hatte noch nie so viel Geld.“

Der Kellner brachte die Hauptgerichte, Huhn mit Reis für Alexandra und Rindfleisch mit Kartoffeln für Andrej.

„Ist deine Familie arm?“, fragte Alexandra mitfühlend.

„Ach, weißt du, fast die Hälfte der russischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Meine Eltern haben Geld für das Nötigste. Ich schicke ihnen hin und wieder Geld, wenn ich kann.“

„Leben sie in Moskau? Sind die Mieten dort sehr hoch?“

„Ja. Viele Leute sind jetzt in die Vorstädte gezogen. Aber meine Eltern leben lieber weiter im Stadtzentrum und teilen ihre Wohnung mit einem anderen Ehepaar. Sie verstehen sich gut mit ihnen, da ist es erträglich. Außerdem ist mein Zimmer ja jetzt frei und sie haben mehr Platz. Als ich Kind war, mussten wir die Wohnung mit einer Familie teilen, die schrecklich war, es gab andauernd Streit.“

„Aber wenn der Arztberuf früher so angesehen war, hattet ihr nicht das Recht auf eine eigene Wohnung?“

„Das hat damit nichts zu tun. Man konnte früher sogar reich sein und musste seine Wohnung vielleicht trotzdem mit anderen teilen. Wichtig waren nur Beziehungen – blat nennen wir das. Ist so wichtig, dass es dafür ein eigenes Wort auf Russisch gibt.“ Er fuchtelte mit seiner Gabel in der Luft herum. „Aber wir hatten eine Datscha, ein Landhaus. Den Sommer haben wir immer dort verbracht, das war eine schöne Zeit.“ Er lächelte bei der Erinnerung an das Barfußlaufen auf den blühenden Wiesen und an das Baden in den Seen, die in der Sonne glitzerten.

„Fährst du zu Weihnachten nach Hause?“, wollte Alexandra wissen.

„Nein. Das ist dieses Jahr zu schwierig.“ Seine Stirn kräuselte sich und glättete sich gleich darauf wieder. „Ich werde mit Polina feiern, sie fährt auch nicht nach Hause.“

„Ist sie allein hier?“

„Sie wohnt bei Onkel und Tante. Aber ihre Eltern leben auch in Moskau.“

„Kennt ihr euch aus Moskau?“

„Nein, wir haben uns erst hier kennengelernt, vor zwei oder drei Monaten. Und was machst du Weihnachten?“

„Am Heiligabend bin ich mit meiner Mutter bei meiner Schwester und ihrer Familie. Und am ersten Feiertag gehen wir dann zu meiner Mutter zum Essen.“

„Du kannst mit deiner Familie feiern, das ist schön.“

Alexandra krauste die Nase. „Na ja. Ich verstehe mich nicht besonders gut mit meiner Schwester. Ihr Mann ist ein Langweiler und die Kinder sind ungezogene Gören. Und seit mein Vater tot ist, kommt einfach keine Weihnachtsstimmung mehr auf.“

„Oh, dein Vater ist tot? Das tut mir leid. Hast du eigentlich Kinder?“

„Nein. Das Leben hat es nicht so gewollt.“

„Das ist traurig“, sagte Andrej mitfühlend.

Sie zuckte die Schultern. „Das macht mir eigentlich nichts. Möchtest du mal Kinder haben?“

„Ja, unbedingt. Ich liebe Kinder. In Moskau gibt es hunderttausende obdachlose Straßenkinder, das tut weh anzusehen.“ Er verzog bekümmert den Mund.

„Hundertausende? Das ist ja furchtbar!“, sagte Alexandra entsetzt.

„Erzähl mir von deinem Leben“, bat er. „Ich weiß fast gar nichts von dir. Bist du in Berlin aufgewachsen?“

„Ja. Nach dem Abi habe ich in einer Diskothek eine Misswahl gewonnen, bin als Fotomodell entdeckt worden und habe vier oder fünf Jahre meinen Körper vor die Kamera gehalten. Die große Karriere ist leider nie draus geworden, aber ich habe recht gut davon gelebt. Ich habe geheiratet, mich wieder scheiden lassen, habe zwischendurch angefangen, Architektur zu studieren, es wieder sein gelassen und stattdessen eine Lehre zur Einzelhandelskauffrau gemacht. Ich habe mir einige Jahre lang die Füße in einer Modeboutique platt gestanden, und als ich vor fünf Jahren arbeitslos geworden bin, habe ich mich selbstständig gemacht. Du siehst, ein ziemlich sprunghafter Lebenslauf, sowohl beruflich als auch privat.“ Sie lächelte schief.

„Wie lange bist du schon geschieden?“

„Seit sechs Jahren.“

„Aber du hast einen Freund, oder?“

„Im Moment nicht.“

„Was, kein Freund?“, staunte Andrej.

„Was macht dein Arm?“, lenkte Alexandra ab.

„Ich war gestern früh bei einem Kollegen, ein russischer Chirurg, der es genäht hat“, gestand er. „Er hat gesagt, das sei besser.“

„Gut.“

Eine Bewegung am Eingang erregte Alexandras Aufmerksamkeit: Ein Paar betrat das Restaurant. Sie war eine Grazie mit langem hellblondem Haar und frischem Teint. Der kräftige, untersetzte Mann, an dessen Arm sie hing, trug einen Designer-Anzug sowie eine dicke Goldkette und hatte sein Haar nach hinten gegelt. Sie gingen an ihnen vorbei zu einem Tisch im hinteren Bereich. Andrejs Augen weiteten sich, als er die beiden erblickte.

„Das ist Polina!“

Das Paar nahm am Tisch Platz und hielt Händchen. Als Polina Andrej bemerkte, nickte sie ihm nur hoheitsvoll zu und kümmerte sich ansonsten nicht um seine Anwesenheit. Als wären sie nur flüchtige Bekannte. Sie lachte und scherzte mit ihrem Begleiter und wirkte nicht eine Spur ertappt.

Andrej war blass geworden. „Nicht ausgerechnet mit ihm“, murmelte er kaum hörbar.

„Kennst du ihn?“

„Flüchtig. Ist keiner, den ich zum Freund haben möchte.“

„Der Typ sieht aus wie ein Zuhälter“, kommentierte Alexandra.

„Ist er unter anderem auch, glaube ich.“ Andrej krallte die Finger in seine Serviette.

Polina erhob sich und verschwand in Richtung der Toiletten. Als sie wiederkam, beugte sie sich zu ihrem Begleiter und küsste ihn, woraufhin er ihren Po tätschelte.

Das war zu viel für Andrej. Er sprang auf und stürmte auf das Paar zu. Offensichtlich stellte er Polina zur Rede. Es folgte wütendes Geschrei auf Russisch, von dem Alexandra kein Wort verstand. Polina machte ein verächtliches Gesicht und schien Andrej mit vor Hohn triefender Stimme eine gewaltige Abfuhr zu erteilen. Der andere Mann hörte sich das Palaver eine kurze Zeit an, dann mischte er sich ein. Von ihm ging eine gefährliche Ruhe aus und Alexandra konnte sich gut vorstellen, dass er eine Schusswaffe unter dem Sakko trug.

Andrej mochte ein Hitzkopf sein, aber er war nicht lebensmüde. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zu Alexandra zurück. „Wir gehen. Sofort!“ Er knallte einen Hundert-Euro-Schein auf den Tisch.

„Bitte beruhige dich doch“, flüsterte sie ihm ein wenig erschreckt zu. „Und ich wollte dich ja einladen.“

„Ich lasse mein Essen nicht von einer Frau bezahlen. Iss auf, wenn du willst, ich warte draußen.“ Er schnappte im Vorbeigehen seine schwarze Nappalederjacke vom Haken und stapfte aus dem Lokal.

Alexandra seufzte. Der Appetit war ihr vergangen, und sie wollte Andrej nicht in der Kälte warten lassen. Zwar hatte sie Wert darauf gelegt, ihn einzuladen, aber sie kannte sich mit den russischen Bräuchen nicht aus. Vielleicht verlor er vor seinen Landsleuten sein Gesicht, wenn er sich einladen ließe. Es reichte, wenn er es soeben wegen Polina verloren hatte.

Andrej stand ein paar Meter vom Eingang des Restaurants entfernt und starrte vor sich hin. Sein Mund war nur noch ein Strich in seinem bleichen Gesicht, die Augen stumpfe dunkle Löcher.

Alexandra erinnerte sich, wie unsterblich verliebt sie mit achtzehn in einen doppelt so alten Mann gewesen war, mit dem sie eine kurze Affäre gehabt hatte. Zum Zeichen, dass diese für ihn beendet war, hatte er eines Abends demonstrativ mit einer anderen Frau getanzt und herumgeknutscht. Alexandra wusste noch gut, wie weh das getan hatte, und Andrej tat ihr leid.

„Willst du irgendwo was trinken gehen?“, fragte sie. „Es ist noch nicht spät.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin müde, ich möchte nach Hause.“

Schweigend gingen sie zur U-Bahn, stiegen am Alexanderplatz in die S-Bahn um und fuhren nach Charlottenburg zurück. Die gute Stimmung des Abends war dahin. Andrej war wie versteinert und Alexandra schaffte es nicht, ihm auch nur ein Wort oder gar ein Lächeln zu entlocken. Zwischen Hackescher Markt und Friedrichstraße gab sie es auf und starrte aus dem Fenster auf die weihnachtlich beleuchtete Innenstadt.

Andrej besann sich wieder auf seine gute Erziehung und brachte sie bis vor die Haustür.

„Möchtest du noch einen Moment mit raufkommen? Vielleicht solltest du jetzt nicht allein bleiben“, versuchte Alexandra es noch einmal.

„Ich möchte aber allein sein“, sagte er abweisend.

„Na gut. Aber wenn dir nach Reden ist, rufst du mich an, okay? Die Nummer hast du ja.“

„Ja.“

Alexandra legte ihm die Hände auf die Schultern und küsste zum Abschied zärtlich seine Wange. Seine Erstarrung löste sich etwas, und einen Moment lang sah er aus, als wolle er sie in seine Arme ziehen. Doch dann trat er zurück und wandte sich zum Gehen.

„Dosvidanja!“, rief Alexandra ihm nach, eines der fünf Wörter, die sie auf Russisch konnte.

Jetzt lächelte er doch, wahrscheinlich über ihre Aussprache. „Dosvidanja“, erwiderte er leise und verschwand in der Nacht.

*

„Er hat mir so leid getan, was soll ich denn jetzt mit ihm machen?“, fragte Alexandra am nächsten Tag Manuela, als sie ihr von dem Abend erzählte.

„Weckt der Kleine deine verborgenen Mutterinstinkte?“, gab Manuela mit gutmütigem Spott zurück.

Alexandra lachte. „So klein ist er nicht mehr. Und ich glaube, er weckt ganz andere Instinkte in mir!“

„Hm, merk ich schon. Aber das führt doch zu nichts, Alex.“

„Na und? Muss es immer zu irgendwas führen? Kann man nicht einfach nur Spaß haben? Und ein bisschen was zum Aufwärmen in kalten Winternächten.“ Sie hängte mechanisch einen BH auf einen Bügel.

„Hast ja recht. Wärm dich auf, wann immer du Gelegenheit dazu hast.“

„Ob ich ihn anrufen soll? Ich will nicht, dass er mich für aufdringlich hält, aber ich mach mir Sorgen um ihn. Und gleichzeitig fühle ich mich schuldig, weil ich froh darüber bin, dass diese Russin anscheinend mit ihm Schluss gemacht hat.“

Manuela hob eine Augenbraue. „Du willst ihn, hm?“

„Und wie“, seufzte Alexandra. „Und sei es nur für eine Nacht.“

„Warte noch ein paar Tage, bevor du ihn anrufst. Und dann kannst du nur hoffen, dass er sich inzwischen nicht bereits wieder mit seiner Polina versöhnt hat.“

„Sie muss irgendwas sehr Gemeines zu ihm gesagt haben“, grübelte Alexandra. „Er war nicht nur so außer sich, weil er sie mit einem anderen Mann erwischt hat. Irgendwas hat sie gesagt, das ihn wahnsinnig getroffen hat.“

„Na, vielleicht kriegst du es ja noch raus.“

Die Nacht der Eisblumen

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