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Am folgenden Montagabend fuhr Alexandra nach Ladenschluss ins Meridian Spa, ein Fitness- und Wellness-Center in Spandau, wo sie zwei- bis dreimal pro Woche trainierte. Da es ein hektischer Tag gewesen war, gönnte sie sich nach der Aerobic-Stunde noch einen Saunagang und etwas Entspannung am Swimmingpool, und so war es fast dreiundzwanzig Uhr, als sie den U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße verließ, um nach Hause zu laufen. Ein Auto besaß sie nicht mehr, seit sie ihr Geschäft hatte, das nur ein paar hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt lag. Der Stuttgarter Platz war um diese Zeit eine düstere Ecke, aber dort auszusteigen ersparte ihr, in die S-Bahn umsteigen zu müssen, die um diese Zeit nur noch selten fuhr.

Alexandra schulterte ihre Sporttasche und schritt kräftig aus. Die Absätze ihrer Stiefel klackten auf dem Pflaster. Der Schnee war am Wochenende weggetaut. Es war still in den Straßen, doch sie hatte das Gefühl, dass ihr jemand folgte, und drehte sich um. Zwei schlampig gekleidete Männer mit ungepflegten Haaren und verquollenen Gesichtern liefen hinter ihr und holten schnell auf.

„Wohin denn so schnell des Weges, meine Schöne?“, fragte der eine mit schmieriger Stimme und griff zu ihrem Entsetzen nach ihrem Arm. Eine ekelerregende Alkoholfahne schlug ihr entgegen.

Sie machte sich mit einer heftigen Bewegung los und schritt energisch weiter aus. Ihr Herz klopfte mit ihren Absätzen um die Wette.

„He, nich so stolz, Puppe“, zischelte der Zweite.

Sie befanden sich genau unter der S-Bahn-Brücke, und kein Mensch war auf der Straße zu sehen, wo es weder Gaststätten noch Imbissbuden gab. Feuchtkalter Nebel hüllte Berlin an diesem Abend ein und niemand ging freiwillig spazieren.

Alexandra ließ ihre sperrige Sporttasche fallen und setzte zu einem Spurt an. Noch bevor sie vom Fleck kam, hatte einer der Männer sie erneut gepackt.

„Renn doch nich weg, Süße. Wir woll’n uns ja bloß mit dir unterhalten, wa?“

„Wenn Sie Geld wollen, bedienen Sie sich in meiner Tasche!“, sagte Alexandra mit zitternder Stimme und deutete auf ihre Sporttasche. Sie wusste, dass sie kein Portemonnaie dabei hatte, höchstens fünf Euro Reserve in einem Seitenfach.

„Nee, Jeld woll’n wa nich, nur ’n bisschen Spaß.“ Er stierte sie aus glasigen Augen lüstern an. Von seiner Fahne aus Knoblauch und Schnaps wurde ihr übel.

„Hilfe!“, brüllte Alexandra und versuchte, ihm das Knie in den Schritt zu stoßen, aber ihr langer Wollmantel hinderte sie daran. Der Angetrunkene schubste sie wütend von sich, und Alexandra landete auf allen vieren auf dem Bürgersteig. Während er sie von hinten packte, um sie hochzuziehen, schrie sie nochmals um Hilfe und bereute, dass sie nicht öfter am Fight-Club-Kurs im Meridian Spa teilgenommen hatte.

Plötzlich stürzte ein Schatten von der Straße auf ihre Angreifer zu, riss den einen zurück und versetzte ihm einen Kinnhaken, wurde dann aber von dem zweiten von hinten umklammert. Alexandra trat dem Kerl kräftig in die Kniekehle, so dass er zusammensackte. Der Mann, der ihr zur Hilfe gekommen war, konnte sich befreien und rammte seinem Angreifer einen Ellenbogen in den Magen. Der andere hatte sich inzwischen von dem Kinnhaken erholt und Alexandra erschrak, als sie im Halbdunkel eine Messerklinge aufblitzen sah. Ihr Helfer bemerkte sie ebenfalls noch rechtzeitig und wich dem Mann, der auf ihn losging, elegant wie ein Torero aus. Er wirkte nicht wie ein geübter Kämpfer, war aber äußerst wendig.

Alexandras erneute Hilferufe wurden von der S-Bahn übertönt, die in diesem Augenblick über sie hinwegdonnerte. Sie wurde von einer Faust getroffen, verlor das Gleichgewicht und landete noch einmal im Dreck.

Da erklang ganz in der Nähe das Heulen einer Polizeisirene. Die beiden Angreifer fluchten und ergriffen die Flucht.

Das Polizeiauto fuhr auf einer Querstraße vorbei ohne anzuhalten; die Sirene hatte nicht ihnen gegolten. Aber die beiden Schläger waren weg, das war die Hauptsache.

Alexandras Retter half ihr auf die Beine und sie erkannte überrascht den jungen Russen, der vergangene Woche in ihrer Boutique Geschenke für seine Freundin gekauft hatte.

„Was machen Sie denn hier?“, platzte sie heraus.

„Ich wohne nicht weit von hier und war auf dem Heimweg. Ist Ihnen was passiert?“, fragte er besorgt.

„Dank Ihnen nicht. Vielen herzlichen Dank.“

„Ich habe Sie schreien hören.“

„Sie sind gerade noch im richtigen Moment aufgetaucht. Mein Gott, Sie sind ja verletzt!“ Erst jetzt bemerkte sie, dass aus seinem linken Ärmel Blut auf die Straße tropfte.

„Der hat mich mit dem Messer noch am Arm erwischt.“

„Ich wohne nur ein paar Straßen weiter, kommen Sie mit, ich werde Sie verarzten.“

Ein feines Lächeln huschte über sein Gesicht, und er nickte.

Alexandra nahm ihre Sporttasche vom Boden. „Tut es weh?“

„Es geht. Aber ich will Ihnen keine Unannehmlichkeiten machen.“ Er sprach dieses schwierige Wort sehr vorsichtig aus, als habe er es gerade erst im Deutschunterricht gelernt. „Ich wohne gleich da drüben, ich kann auch …“

„Kommt nicht in Frage. Ich lasse Sie nicht einfach blutend abziehen, nachdem Sie mich gerettet haben! Wie heißen Sie?“

„Andrej Michailovic Menshikov.“

„Das ist ja ein ganzes Programm. Ich heiße Alexandra.“

Wenige Minuten später erreichten sie das Gebäude, in dem sich Alexandras Eigentumswohnung befand. Es war ein schönes Wohnhaus mit einer liebevoll restaurierten Fassade im Alt-Berliner Stil, einem roten Teppichboden im Treppenhaus und Briefkästen aus Messing.

In ihrer Wohnung im ersten Stock angekommen, schlüpfte sie rasch aus Mantel und Stiefeln und führte Andrej ins Badezimmer. Sie half ihm, seine dicke Winterjacke auszuziehen, die das Schlimmste verhindert hatte, und schob den aufgeschlitzten Ärmel seines Pullovers nach oben. Das Messer hatte einen Schnitt im Unterarm hinterlassen. Während Andrej über dem Waschbecken das Blut abwusch, kramte Alexandra nach ihrem Verbandskasten. „Lassen Sie mal sehen. Hm, sieht nach einem tieferen Schnitt aus. Das muss sicher genäht werden. Ich sollte Sie ins Krankenhaus bringen oder einen Arzt rufen.“

„Ich bin selbst Arzt“, erklärte Andrej. „Es muss nicht genäht werden. Haben Sie sterile Kompressen?“

„Ja, hier. Und das ist zum Desinfizieren.“

Sie half ihm, die Wunde zu versorgen.

„Sie sind auch verletzt“, bemerkte er und wies auf Alexandras rechtes Knie. Dort war der anthrazitfarbene Perlonstrumpf zerrissen und die Haut darunter blutig. „Ich sollte mir das mal ansehen. Dazu müssten Sie allerdings die Strumpfhose ausziehen.“

„Bitte drehen Sie sich um“, bat sie verlegen.

Er wandte sich ab, während sie sich unter den Rock griff und die Strumpfhose auszog. Sie setzte sich auf den Badewannenrand, und Andrej kniete sich vor sie. Behutsam tupfte er das aufgeschlagene Knie mit einer angefeuchteten Kompresse ab. „Es ist nur eine Schürfwunde. Ich werde sie trotzdem desinfizieren.“

Natürlich hätte Alexandra das auch allein gekonnt, aber sie fand es schön, von ihm umsorgt zu werden, und genoss das Gefühl seiner feingliedrigen Finger auf ihrer Haut. Während er tupfte, desinfizierte und ein Pflaster auf die Wunde klebte, betrachtete sie sein konzentriertes Gesicht. Ein offenes, freundliches Gesicht mit einer kräftigen, schön geformten Nase. Er hatte schmale Lippen, aber sein breiter Mund besaß trotzdem etwas Fröhliches, Genussvolles, war immer schnell zum Lächeln bereit. Sie musste sich zurückhalten, um Andrej nicht die braune Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, zärtlich zur Seite zu streichen.

„Sind Sie schon mit Ihrem Studium fertig? Sie sehen noch so jung aus.“

„Doch, ich bin fertig. Seit eineinhalb Jahren. Ich bin gerade achtundzwanzig geworden.“

„Haben Sie in Deutschland studiert?“

„Nein. In Moskau.“

„Und arbeiten Sie hier in einem Krankenhaus?“

Andrej zögerte kurz. „Nein, ich habe noch keinen Job als Arzt gefunden“, murmelte er dann, ohne Alexandra anzusehen.

„Aber Sie haben Arbeit, oder?“ Er wirkte nicht gerade wie ein Sozialhilfeempfänger.

„Ja. In einem russischen Buchladen in Prenzlauer Berg.“

Andrej ließ sich nicht gerne ausfragen, schon gar nicht über das etwas heikle Thema seiner Arbeit, aber an Alexandra gefiel ihm, dass sie sich für ihn interessierte. Obwohl sie mindestens zehn Jahre älter war als er, fand er sie sehr anziehend. Bei dem Gedanken wurde ihm bewusst, dass seine Finger noch auf ihrem Schienbein ruhten, dessen Haut sich wie Seide anfühlte. Wie ertappt zog er seine Hand zurück. Alexandra lächelte amüsiert und sein Blick blieb an ihren schön geschwungenen, sinnlichen Lippen hängen. Dann fiel ihm auf, wie blass sie geworden war.

„Sie zittern ja“, stellte er besorgt fest.

„Der Schreck“, gestand sie. „Ich glaube, ich könnte einen Whisky vertragen. Trinken Sie einen mit?“

Andrej nickte und folgte ihr in das geräumige Wohn- und Esszimmer. Während sie einer kleinen Truhe, die wie eine antike Schatztruhe aussah und die Hausbar beinhaltete, eine Flasche Scotch entnahm und in die Küche ging, um Gläser zu holen, blickte sich Andrej bewundernd um. Die gemütliche Sitzgruppe in dunklem Kirschrot mit orientalisch verzierten Kissen, der zierliche Rauchglastisch und die Schrankwand aus weiß gebeizter Eiche – alles wirkte sehr feminin, geschmackvoll und elegant. Genau wie Alexandra selbst.

„Mit Eis?“, rief sie aus der Küche.

Er folgte ihr und staunte, wie anheimelnd und dekorativ eine Küche sein konnte. Buchenholz, satiniertes Glas und technische Raffinessen in Chrom. Besonders gefiel ihm der kleine Tresen mit den beiden Barhockern davor; er wirkte so amerikanisch. Auf dem Tresen stand ein halb gefüllter Kaffeebecher mit der Aufschrift „I love New York“, daneben lag ein aufgeblättertes Modejournal.

Er sah die Küche seiner Eltern vor sich, seine Mutter, die müde mit rauen Fingern am abgenutzten Holztisch Kartoffeln für das Abendessen schälte, bevor sie losging, um als Putzfrau ihr mageres Lehrerinnengehalt aufzubessern.

„Den Whisky mit Eis?“, wiederholte Alexandra ihre Frage.

Er nickte und betrachtete ihre gepflegten Hände mit den sorgfältig manikürten Nägeln, die nicht aussahen, als ob sie jemals geputzt oder Kartoffeln geschält hatten.

Andrej hatte noch nie eine so schöne Wohnung gesehen, aber das sagte er ihr nicht. Sie sollte ihn nicht für weltfremd halten. Er ertappte sich bei der Überlegung, wie wohl ihr Schlafzimmer aussah. Ob sie allein lebte? In seinem Viertel in Moskau hätten sich zwei Familien eine Wohnung dieser Größe geteilt.

Sie setzten sich auf die Couch und nippten an ihren Whiskygläsern.

„Hast du Familie hier?“, wollte Alexandra wissen. Sie hatte beschlossen, zum Du überzugehen.

„Nur mein Cousin. Ich wohne bei ihm.“

„Ist er auch Arzt?“

„Nein. Er ist Übersetzer.“

„Dein Deutsch ist übrigens fabelhaft. Lebst du schon lange hier?“

„Etwas über ein Jahr. Bin kurz nach dem Studium hergekommen. Und Deutsch war mein Lieblingsfach in der Schule.“

„Tatsächlich? Magst du Goethe, Kant und Hesse?“

„Keine Ahnung. Ich mochte Deutsch vor allem, weil ich in meine Lehrerin verknallt war“, gestand er.

Alexandra lachte. „So lernt man Sprachen am besten. War sie Deutsche?“

„Nein, Russin. Die Lehrerin an der Volkshochschule, wo ich jetzt weiterlerne, ist Deutsche, aber wir haben keinen Kontakt außerhalb des Unterrichts. Ich kenne nicht viele deutsche Frauen, außer der Frau meines Cousins. Ich bin immer nur mit Russen zusammen, das ist schade.“

„Na, jetzt kennst du mich. Wir können Freunde sein“, schlug Alexandra vor.

„Ja. Aber …“ Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Da ist Polina, meine Freundin. Ich weiß nicht, was sie dazu sagen würde.“

„Du meinst, sie wäre eifersüchtig?“ Alexandra fühlte sich geschmeichelt, dass er diese Möglichkeit in Betracht zog. „Hat sie sich eigentlich über das Nachthemd gefreut?“

„Oh ja! Sie sagt, als Nachthemd sei es nicht ihr Stil, aber sie wird es vielleicht zur Silvesterparty tragen.“

Sie lachten.

Andrej verschwieg Alexandra, dass der Abend, an dem er Polina das Nachthemd geschenkt hatte, trotzdem kein Erfolg gewesen war. Sie hatte es nur schräg angeguckt und war das ganze Wochenende so zickig und abweisend gewesen, dass Andrej sich fragte, was um alles in der Welt er ausgefressen hatte. Er überlegte, ob er mit Alexandra darüber reden sollte, entschied aber, dass sie sich dafür noch nicht gut genug kannten.

„Ich möchte dich zum Essen einladen, zum Dank dafür, dass du mich vorhin gerettet hast“, riss Alexandra ihn aus seinen Gedanken.

„Wirklich? Das ist nicht nötig, war selbstverständlich für mich.“

„Ich möchte es aber gerne. Oder willst du nicht mit mir ausgehen?“ Sie legte den Kopf ein wenig schief und lachte ihn kokett an.

„Oh, doch“, versicherte er automatisch aus Höflichkeit, aber dann merkte er, dass er sich über ihr Angebot freute. Er fand sie attraktiv und sympathisch, und schließlich hatte er sich gerade eben erst beklagt, dass er zu wenig Kontakt zu deutschen Frauen hatte. „Gerne. Wann?“

„Wann du willst. Wie wäre es mit übermorgen?“

Andrej dachte kurz nach. Polina hatte erwähnt, dass sie Mittwochabend mit Natascha verabredet war, das passte also gut. Er nickte. „Wohin möchtest du?“

„Wie wäre es mit einem russischen Restaurant? Du kennst bestimmt eins. Stell dir vor, ich war noch nie russisch essen.“

„Das müssen wir unbedingt ändern.“

Bei Whisky und Kerzenschein verging die Zeit wie im Flug. Es war schon nach eins, als Andrej sich verabschiedete und durch die neblig-kalten Straßen nach Hause ging. Trotz der pochenden Wunde an seinem Arm fühlte er sich viel unbeschwerter und heiterer als noch zwei Stunden zuvor.

Die Nacht der Eisblumen

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