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Kapitel 1: Der Auftrag
Оглавление„Leandra!“
Nur nicht umdrehen. Ihre Stimme klang gehetzt, verbarg eine Nuance. Ich hörte sofort, dass sie etwas von mir wollte, was mir nicht gefallen würde. Aber sollte ich etwa vor meiner Chefin davonrennen, als wäre ich eine Diebin? Durchatmen, so tun, als wüsste ich von nichts. Noch nicht.
„Was gibt es Marta? Ich bin eigentlich schon weg, hab seit einer halben Stunde Feierabend.“
„Weiß ich doch“, beschwichtigte sie mich und pustete sich eine Locke aus der Stirn, „schreib dir einfach eine Stunde mehr auf, ja? Ich will dich nur kurz was fragen. Kommst du eben mit in mein Büro?“
Ach, Marta. Natürlich ging ich mit. Wer könnte dir eine Bitte ausschlagen? Marta öffnete mit einem kräftigen Druck die klemmende Tür zu ihrem Büro und ließ mir dann den Vortritt.
„Irgendwann suchen wir uns was Besseres“, meinte sie, „man wird ja bescheuert in dieser Bruchbude, in der nichts funktioniert. Aber im Moment ist die Auftragslage eben, wie sie ist“, fügte sie bedrückt hinzu und ließ sich in ihren Schreibtischstuhl fallen, dass die alten Holzdielen knarzten.
Angespannt wartete ich, was sie mir eröffnen würde. War ich entlassen? Musste ich als Erste gehen, weil ich die Jüngste und als Letzte ins Team gekommen war?
„Setz dich doch bitte. Tee oder Saft?“
„Nein, danke. Was gibt es denn?“ Ich biss mir auf die Lippen, immer diese Ungeduld. Sobald ich ahne, dass etwas nicht in Ordnung ist, muss ich der Sache nachgehen, ohne Umwege. Einfach fragen und eine ebenso einfache und klare Antwort erhalten.
Aber so sind die Menschen nicht. Nie sagen sie ehrlich, was Sache ist. Was sie denken, fühlen, was sie wirklich von mir wollen. Dabei war es in Valencia schon deutlich besser als … als dort, wo ich zuvor lebte. Die Valencianer sind freundlich, sanft, behutsam. Sie lachen über sich selbst und nehmen andere ernst. Wie verwirrend mir das anfangs erschien.
„Es ist, also ich habe hier eine Anfrage hereinbekommen, einen Auftrag, der, hm, ein wenig schwierig scheint. Schwierig, aber auch sehr rentabel. Und ich dachte mir, dass du bestimmt die Richtige dafür bist. Du stammst doch aus Alvaría, oder?“
Ich zuckte zusammen. Schon der Name des Dorfes, in dem ich aufgewachsen war, ließ tausend Bilder in mir aufflammen, tausend Wunden brennen, aber auch tausend verlorene Hoffnungen aufblühen.
Alvaría hieß der Ort, den es für mich nicht mehr geben durfte, weil ich seine Feindseligkeit nur überlebt hatte, indem ich sie geflohen war. Alvaría hieß das finstere Tor vor meinen Erinnerungen, das ich sorgfältig verschloss, weil ich glaubte, dass sie die Kraft hätten, mich und jeden, der davon erfuhr, zu zerstören.
Nur gelegentlich öffnete sich dieses Tor einen Spalt weit und die dahinter verborgene Bilderwelt erinnerte mich an das, was ich vergessen und verdrängen wollte: an den Schmerz, an die Demütigungen, an meine eigene Wut und den verzweifelten Wunsch, nicht die sein zu müssen, als die ich geboren wurde. An das Verlangen, normal sein zu dürfen. Ein Verlangen, für das ich zu töten bereit gewesen war. Jedenfalls erzählten das die Bewohner des Dorfes.
Aber Alvaría ist eben auch ein Name, schön und weich, wie die Haut meiner Mutter es gewesen sein musste, bevor sie starb und mich allein mit einem Vermächtnis zurückließ, für oder gegen das man sich nicht entscheiden kann.
„Leandra? Ist alles okay?“, rief mich Marta aus meinen Gedanken zurück.
„Ja, schon gut. Könnte ich vielleicht doch ein Glas Wasser haben? Und könnten wir kurz das Fenster öffnen?“
„Na klar."
Marta stand auf, reichte mir ein Glas Mineralwasser, zog die Jalousien hoch und blieb dann am geöffneten Fenster stehen. Mit dem hereinströmenden Licht öffnete sich auch Bilderwelt und ich sah, wie ich Marta hinausstieß, hörte ihren Schrei, das klatschende Aufschlagen des Leibes.
Nicht hinschauen, nicht daran glauben, befahl ich mir. Denn Bilderwelt ist nicht real, sondern nur ein Spiegel meiner eigenen Abgründe, meiner düsteren Erinnerungen und Emotionen, die verlockende Trugbilder der Wirklichkeit erzeugten. Doch ich konnte nichts verhindern, durfte nichts verhindern. Nicht so. Ich senkte den Blick und konzentrierte mich auf Martas Worte, um meinen Augen Zeit zu geben, sich reinzuwaschen.
Alvaría, so erzählte Marta mir, sei als Standort für den neuen grünen Tourismus entdeckt worden. Der Bürgermeister habe Pläne, von denen die gesamte Region profitieren werde. Das Problem seien nur die Einwohner, also vor allem die älteren, die sich weigerten, dem zuzustimmen. Nicht einmal ein Restaurant oder einen Supermarkt gebe es im Ort und die letzte Kneipe habe schon vor mehreren Jahren ihre Türen geschlossen.
„Du kennst ja die alten Sturköpfe“, seufzte Marta, „bloß nichts verändern, bloß nichts Neues wagen. Alles soll so bleiben, wie es ist. Dabei ist schon heute kaum noch was von dem alten Dorf und der Population übrig. Die Jungen ziehen wie du nach Valencia oder gehen nach Madrid, um Karriere zu machen.
Die wenigen, die geblieben sind, ziehen weiter ihre Schafe und Ziegen in den Bergen groß oder kämpfen mit der Dürre, um ihr ein paar Bohnen und Wein abzutrotzen. Und die leeren Häuser werden nach und nach von den Alemannes aufgekauft, nur bringt es der Gemeinde leider auch nichts, weil sie dort komplett unter sich leben und keine Gelegenheit haben, ihr Geld im Ort auszugeben.“
Aus meiner Kehle antwortete nur ein trockener Laut, hastig griff ich zum Wasserglas, doch die zitternden Hände verschütteten den Inhalt auf meinen Seidenschal. Marta tupfte mit einem Taschentuch vorsichtig die Flüssigkeit auf – wie lieb sie war, wie fürsorglich. Ich konnte ihr nicht dankbar genug dafür sein, dass sie mich kleines unsicheres Schaf unter ihre Fittiche genommen und mir in ihrer Agentur eine Chance gegeben hatte. Ohne sie wäre ich ewig in mir selbst gefangen geblieben.
„Dann hat sich tatsächlich nichts verändert“, sagte ich. „So war es schon damals, als ich wegging.“
Marta lachte mich aus. „Damals“, erwiderte sie, „das hört sich ja an, als wärest du schon wer weiß wie alt mit deinen 23 Jahren.“
„Naja, gut, es ist immerhin schon fünf Jahre her, dass ich das Dorf verlassen habe.“ Und ich möchte nie, nie, nie wieder dorthin zurück, fügte ich innerlich an.
„Wie war es denn damals?“, fragte Marta vorsichtig, der schwante, dass mir der Gedanke widerstrebte, mich auf den Weg nach Alvaría zu machen.
„Wie du es beschrieben hast. Die Alten, die ihre Traditionen pflegen. Die beten, obwohl sie nicht glauben, auf Ritualen beharren, die sie nicht mehr verstehen. Für die alles, was Spaß macht, Sünde ist. Die Jungen, die entweder innerlich zugrunde gehen oder so bald wie möglich weglaufen. Und die“, ich zögerte, „nun die Alemannes.
Niemand will etwas mit ihnen zu tun haben und sie halten sich fern von den Dorfbewohnern. Sie glauben, sie wären ausgewandert. Dabei leben sie nur verkümmerte Träume an einem Ort, der ihnen fremd erscheint.
Sie haben ihr Land niemals wirklich verlassen, sind niemals angekommen. Sie kapseln sich ab, sprechen nur das Nötigste mit den Bewohnern, fahren zum Einkaufen in die Stadt, kommen halb um vor sentimentalen Erinnerungen und erzählen ihren Verwandten am Telefon mit trauriger Stimme, was für ein wunderbares Leben sie jetzt führen. Beide Gruppen sind einander spinnefeind und pflegen ihre Vorurteile.“
„Klingt nicht berauschend“, erwiderte Marta grinsend. „Aber genau dieses Problem müssen wir lösen. Der Bürgermeister sucht nach Ideen, wie er das Dorf einen und erneuern kann. Sodass die Alten sich nicht mehr gegen Touristen und weitere Fremde verschließen und die Alemannes sich besser integrieren.
Deshalb ist es so wichtig, dass jemand den Job übernimmt, der mit der Mentalität der Leute dort vertraut ist. Und he, es wäre ja nicht für immer.
“Auf keinen Fall“, entfuhr es mir, „nein Marta, tut mir leid. Ich kann nicht dorthin zurück. Und es wäre auch sinnlos, die Leute … sie …“
„Die Leute?“, fragte Marta in mein Verstummen hinein. Sie hassen mich, fügte ich in Gedanken hinzu. Doch es klang falsch. Nein, das war es nicht, sie hassten mich nicht. Sie fürchteten mich. Absurd. Niemals würde ich es Marta erklären können, ohne mich dem Verdacht auszusetzen, nicht ganz bei Trost zu sein.
Aber ich wollte nicht wieder die Verrückte sein, nicht die andere, nicht die, vor der man zurückweicht. Ich wollte Leandra sein, nicht La Espeja. Ich wollte in Valencia sein, nirgendwo sonst auf der Welt.
Nur in Valencia war alles leicht und hell und unbeschwert. Vielleicht, weil Mutter von dort gekommen war. Vielleicht, weil Isandro dort geboren war, der mich so sehr liebte, wie ich es mir niemals hatte vorstellen können, geliebt zu werden. Ganz sicher, weil man dort hinnahm, dass ich mich von den anderen Frauen in meinem Alter unterschied, aber keinen Fluch darin sah. Ich hätte komplett irrsinnig sein müssen, all das gegen die Rückkehr an einen Ort einzutauschen, dessen Ritual noch stets die Macht hatte, mich zu vernichten.
„Ich kann wirklich nicht weg, Marta, Isandro hat Geburtstag, wir planen eine Party und an Ostern wollen wir verreisen, es ist alles schon besprochen, du hast doch selbst meinen Urlaubsantrag unterschrieben und …“
Marta blickte mich traurig an, ich sah die Tränen, die sie zurückhielt. „Gut“, sagte sie, „dann muss ich das akzeptieren.“
„Ist es so schlimm?“
„Schlimmer. Noch ein, zwei Monate können wir überbrücken, dann weiß ich auch nicht weiter.“
Jetzt nur nicht nachgeben. „Für wie lange wäre es denn?“, hörte ich mich fragen. „Und was genau soll ich tun?“ Eine einzige unbedachte Äußerung, schon hellte sich Martas Gesicht blitzartig auf. Sie war eben doch eine Gewinnerin, trotz all der Niederlagen, die wir in den vorangehenden Monaten hatten hinnehmen müssen, weil uns Martas Ex, der die größte Werbeagentur Valencias führte, immer wieder die Aufträge wegschnappte.
„Es ist so“, hastete sie voran, „der Bürgermeister plant ein Fest an Ostern, ein Fest für die Einwohner und für die Alemannes. Eines, bei dem alle zusammenkommen, um sich zu verbrüdern. Wir müssen dem Ganzen nur einen besonderen Charakter geben, damit auch wirklich alle teilnehmen. Du weißt ja, Ostern, das bedeutet dort oben normalerweise, eine finstere Prozession durch die Berge zu veranstalten, ein Lamm zu schlachten und in die Kirche zu gehen. Während die Alemannes schon vormittags Bier trinken und bunt bemalte Eier verschlingen.“
Marta schaute mich an und ich erkannte im Glanz ihrer Augen eine Idee, für die sie selbst noch keinen Namen hatte.
„Ein Fest der 1000 Wünsche“, flüsterte ich.
„Wow, das klingt ja schon mal super“, freute sich Marta. „Ich wusste, du packst das!“ Sie schloss das Fenster, ohne zu fallen, und ich nahm mir vor, sie auch weiterhin gegen meine vergifteten Bilder und Emotionen zu verteidigen. Ich musste achtsam sein, damit ihr nichts geschähe.
„Wann könntest du denn fahren?“, fragte sie und sah mich hoffnungsvoll an.
„Bald“, entgegnete ich, denn plötzlich wurde mir klar, wie sinnlos es war, sich weiterhin zu widersetzen. Es gab nur einen Weg, die Erinnerung zu bezwingen, statt sie weiter zu verdrängen. Ich musste mich ihr stellen. Das war ich Marta ebenso schuldig wie Isandro. Vor allem aber mir selbst. „Schon Mittwoch, wenn du willst. Ich muss nur noch mit Isandro sprechen.“ Jetzt kämpfte ich mit den Tränen.
„Aber je schneller ich es hinter mich bringe, desto besser“, sagte ich und klopfte auf den Tisch, wie wir es immer taten, wenn eine Sache beschlossen war. Was auch immer „die Sache“ sein würde.
„Tausend Dank, Leandra!“, sagte Marta und umarmte mich. „Ich sende dir nachher noch alle Unterlagen zu, die ich bereits erhalten habe. Außerdem werde ich den Bürgermeister kontaktieren, damit sie dir eine Unterkunft stellen und dich vom Bahnhof abholen. Aus irgendeinem Grund wohnt er selbst nicht in Alvaría, aber er wird schon wissen, wo und wie er dich gut unterbringt. Kannst du dich um das Bahnticket kümmern und die Kosten vorschießen?“, fragte sie schließlich errötend.
„Kein Problem“, sagte ich, „es ist ja nur eine kurze Fahrt.“
Auch wenn es mir damals, als ich mit vereistem Herzen den Zug Richtung Valencia genommen hatte, so vorgekommen war, als wäre ich auf dem Weg in ein noch unentdecktes Universum. Eines, in dem die Menschen ihr Leben genossen, statt verfluchten Untoten gleich durchs Dorf zu schleichen.