Читать книгу La Espeja - Sabine Walther - Страница 4
Kapitel 2: Kommissar Neron
Оглавление„Idiot!“, schimpfte Kommissar Neron, trat aber scharf auf die Bremse, damit der ihn von links überholende Peugeot wieder einscheren konnte, bevor der entgegenkommende Lkw ihn plattmachen würde. Auf sein wütendes Hupen antwortete eine fröhliche Lichtorgel, dann verschwand das Auto hinter der nächsten Kurve.
„Biegen Sie nach 200 Metern rechts ab“, forderte ihn die freundliche Stimme aus dem Navi auf. Neron verdrängte seinen Impuls, dem Peugeot hinterherzujagen, er wusste, wenn er die Abfahrt verpasste, würde es ihn eine halbe Stunde oder mehr Zeit kosten, bevor sich die Gelegenheit ergab, legal zu wenden. Und er verspürte wenig Lust, weiter durch die öde Gebirgslandschaft zu fahren, in der es außer staubtrockener Erde und braunen Grasbüscheln nichts zu sehen gab.
Aber die Gegend galt jetzt als Naturpark und sollte einem sanften Tourismus geöffnet werden. Und der Tracking-Sender, den sie an seinem Dienstwagen angebracht hatten, weil seine zahlreichen Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung bereits aktenkundig waren, würde jeden überflüssigen Schlenker melden, den er machte. Also lieber erst einmal brav Kind spielen und sich an die Regeln halten, so irrwitzig sie auch waren, entschied er.
Alvaría – das verschmutzte Ortsschild lag gut verborgen hinter einem Wegweiser, der die Fernroute nach Madrid anzeigte. Erneut musste er scharf bremsen, um noch rechts in die Abfahrt einbiegen zu können.
„Fahren Sie 100 Meter geradeaus und biegen Sie dann links ab“, plauderte das Navi-Stimmchen weiter. Wie schön es doch wäre, säße jetzt eine echte Beifahrerin neben ihm, eine wie Maria …
Nicht sentimental werden, rief er sich zur Ordnung, bog links ab und brachte den Wagen schließlich gehorsam zum Stehen, als die Navi-Stimme ihm mitteilte, dass er sein Ziel erreicht habe.
Das helle Steinhaus mit dem Ziegeldach und dem laienhaft gezimmerten Kreuz glich eher einem zu groß geratenen Schuppen als einer Kathedrale, konstatierte er. Was sonst aber hätte er in einem 500-Seelen-Ort erwarten dürfen?
Seufzend dachte er an seine gemütliche Zweizimmerwohnung im Schatten der Kathedrale von Valencia und verfluchte seine Kollegen, die wieder einmal ihn dazu verdonnert hatten, sich in die Einöde zu begeben. Er würde froh sein können, wenn sich hier wenigstens rasch eine benutzbare Toilette fände, denn lange ließ sich der Drang nicht mehr aufhalten.
Routiniert stellte er den Motor aus, zog den Schlüssel und vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, bevor er sich die langen Beine voran und den Kopf eingezogen aus dem Auto quetschte, das für einen Zwei-Meter-Mann nicht gerade die perfekte Höhe aufwies. Immer wieder diese Demütigung, zu wissen, wie lächerlich er dabei aussah. Doch „keine Chance“, hatte der Polizeidirektor achselzuckend erwidert, als er ihn um einen anderen Dienstwagen angebettelt hatte.
Unschlüssig, wohin er sich zuerst wenden sollte, aber von einem leichten Stechen in der Lendengegend angetrieben, das ihn an sein dringendstes Bedürfnis erinnerte, sondierte er mit zusammengekniffenen Augen die Lage. Die Holztür zur Kirche war durch ein Gitter gesichert, als fürchtete man, Diebe könnten die vergoldeten Kerzenleuchter oder ein kitschiges Jesusbildchen stehlen.
Auch der abgedeckte Brunnen auf dem abschüssigen Platz vor der Kirche strahlte abweisende Feindseligkeit aus. In Sichtweite stand eine Reihe dürftig gepflegter Häuschen, er meinte, vor einem davon einen alten Mann zu erkennen, der eine Zigarette rauchte und so tat, als bemerkte er ihn nicht.
Als ob ihn die sagenumwobenen 1000 Augen von Alvaría nicht längst registriert hätten und jeden seiner Schritte argwöhnisch beobachteten. Von einem Gasthaus oder einem Restaurant mit einer Toilette war weit und breit nichts zu sehen.
Neron angelte seine Jacke und die lederne Schultertasche aus dem Kofferraum und ließ die Heckklappe lautstark herunterfallen. Verdammt, wenn er jetzt nicht gleich …
Aber der Gott der anderen hatte wohl Erbarmen, denn die Kirchentür öffnete sich von innen und der junge Pfarrer schloss gleich darauf die quietschende Gittertür auf, die man nachträglich davor angebracht hatte. Mit weit ausgebreiteten Armen kam er auf ihn zu.
„Kommissar Neron, schön, dass Sie da sind“, begrüßte er ihn, als böte sich ein Anlass zur Freude, „kommen Sie doch herein!“
„Zu gern“, zischte der zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und wechselte verzweifelt von einem Bein aufs andere, „aber ich müsste erst einmal …“
„Ah, verstehe“, erwiderte Padre Tohias lächelnd, „dann einmal hier entlang, bitte.“
Es stank schlimmer, als Neron es beim Anblick der kleinen Holzhütte befürchtet hatte, aber der Moment, da sich der Strahl endlich seinen Weg bahnen konnte, brachte eine solche Erleichterung, dass er sich anschließend für einen Moment auf die braune Holzbrille zu setzen wagte.
Einmal kurz verschnaufen, bevor er sich wieder in den gestrengen und unerbittlichen Comisario verwandeln würde. Einen Moment der Schwäche aus sich herauspusten, um wieder der Starke sein zu können. Den peinlichen Auftritt, den er sich geleistet hatte, vergessen und souverän die Ermittlungen aufnehmen.
Von der Tür her sah ein gekreuzigter Sohn mitleidig auf ihn herunter. Rasch erhob er sich, ließ das Wasser aus dem leicht verdreckten Hahn über seinen Puls laufen und trocknete sich dann mit dem harten Papier übertrieben lange die Hände ab.
Als er die Tür wieder öffnete, stach die Sonne ihm in die Augen, als hätte sie nur auf ihn gewartet. Hastig schob er sich die dunkle Brille ins Gesicht und musterte die Dorfbewohner, die sich um seinen Toyota versammelt hatten.
Zwei Frauen, drei Männer, alle um die 70, schätzte er, und einander auf eine Weise ähnelnd, wie es sonst nur bei Geschwistern der Fall ist, die ihre Heimat niemals verlassen hatten, tagein, tagaus denselben Gepflogenheiten nachgingen, dieselben Speisen verzehrten und sich über dieselben Themen unterhielten.
Jetzt sprachen sie nicht, nur der Kerl mit der Zigarette nickte ihm zu, als wollte er ihm bedeuten, dass sie ihm durchaus wohlgesinnt wären, sollte er sich ihren Erwartungen entsprechend verhalten.
Aber was erwartete ihn hier wirklich? Nichts Gutes jedenfalls, dachte er frustriert. Vielleicht würde er sie finden, vielleicht auch nicht. Vielleicht lebte sie noch, vielleicht verdurstete und verhungerte sie gerade irgendwo da oben in einer Berghütte, die außer den Einheimischen niemand kannte.
Er ahnte nicht, warum er sich so sicher war, dass die Dorfbewohner etwas mit der Sache zu tun hatten. Es fühlte sich an, als würde er durch die wissenden Augen jener jungen Frau blicken, die er doch nur von einem Foto kannte und die dennoch eine so magische Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte.
Er musste sie finden, etwas anderes kam nicht infrage. Rechtzeitig finden. Nachdenklich folgte er Padre Tohias in die kleine Kathedrale und nahm erstaunt zur Kenntnis, dass der junge Kirchenmann sowohl das Gitter als auch die sperrige Holztür gleich zweifach hinter ihnen verschloss. Wovor fürchtete er sich?