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Kapitel 3: Eine Reise, die alles verändert
Оглавление„Viereinhalb Stunden? Das kann nicht sein“, entgegnete ich dem Schalterbeamten, „ich bin die Strecke schon einmal gefahren und es dauerte keine zwei Stunden!“
„Wollen Sie das Billett nun oder nicht? Sie müssen ja nicht fahren!“, antwortete er ruhig und sichtlich bemüht, mein Flehen zu ignorieren.
„Doch, natürlich muss ich, ich will nur nicht in einem Bummelzug fahren und umsteigen. Bitte, schauen Sie noch einmal nach, es wird doch wohl eine schnellere und direkte Verbindung geben.“
Augenrollend zwängte er sich an einem pausierenden Kollegen vorbei, der ungeachtet der Warteschlange, die sich hinter mir bildete, genüsslich ein Blutwurst-Bocadillo verzehrte, und kehrte mit drei weiteren Fahrplanbüchern zurück.
Wäre ich nicht selbst in die Szene verwickelt gewesen, ich hätte mich köstlich amüsiert. Millionen von Onlinetickets werden in Spanien jährlich verkauft, aber ausgerechnet an einem der wichtigsten Bahnhöfe des Landes suchte man mir die Verbindung mithilfe angestaubter Bücher heraus.
„Es tut mir leid, Señora, die Direktverbindung nach Alvaría wurde vor drei Jahren eingestellt und der Schnellzug nach Cuenca hält nur am Bahnhof Joaquín Sorolla. Das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist eine Fahrt mit der Regionalbahn, aber von Cuenca aus müssen Sie so oder so mit dem Bus weiter.“
„Was ist denn da vorne los?“, rief jemand vom Ende der Warteschlange her. Ich musste mich entscheiden. „Nun gut, dann eben Cuenca.“
38 Euro, auch damit hatte ich nicht gerechnet. Dabei hätte ich es wissen können, schließlich hatten wir 2018 das Stadtmarketing mit einer Werbekampagne über die Vorzüge der spanischen Eisenbahn unterstützt.
„Gestresst einsteigen, erholt ankommen“ – hatte einer der Slogans gelautet. Nur waren nicht Einheimische die Zielgruppe, die in irgendein gottverlassenes Gebirgsdorf wollten, sondern Touristen und Geschäftsleute, die im AVE von Barcelona nach Madrid düsten. Und während für die einen alles sauberer, komfortabler und schneller wurde, zahlten die anderen den bitteren Preis dafür, weil man die billigeren Verbindungen gezielt vernachlässigte.
„Wer arm ist, kann warten“, hätte die Botschaft daher auch lauten können oder „wer hat, bekommt“.
„Señora?“ Ein älterer Herr tippte mir auf die Schulter. „Sie erlauben?“
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte ich und trat unter den missbilligenden Blicken anderer Wartender einen Schritt zur Seite. Nimm dich zusammen, schimpfte meine innere Stimme mich aus. Man muss funktionieren. Egal, was geschieht. Nur nicht auffallen. Der Fremde löste ebenfalls eine Fahrkarte nach Cuenca, für die der Schalterbeamte ihm 16 Euro berechnete.
Bitte was? Erzürnt musterte ich das freundliche Gesicht des Mannes, der mir soeben ein Ticket zum mehr als doppelten Preis verkauft hatte. Sie müssen ja nicht fahren. Hatte er mich warnen wollen, ohne es selbst zu wissen? Mir blieb keine Zeit, seine Worte zu überdenken, denn der Bummelzug fuhr bereits schnaufend ein.
Genervt nahm ich meinen Koffer und folgte dem Fremden, der sich vor dem kameraüberwachten Drehkreuz aufgestellt hatte, das den unkontrollierten Zugang zum Bahnsteig verhinderte. Er trug einen langen braunen Ledermantel, der nicht so recht in diese Gegend und in diese Zeit passen wollte, unter dem Gewicht einer abgewetzten Arzttasche neigte sich seine rechte Schulter leicht nach unten.
„Zurücktreten, bitte, der Zug fährt in Kürze ein!“, drang es herrisch vom gegenüberliegenden Bahnsteig zu uns herüber. Noch war das Drehkreuz für uns gesperrt. Jetzt einen Entschluss fassen, sich einfach widersetzen. Gehen, um mir selbst zu folgen statt dem unerbittlichen Gesetz.
Aber eben das ist einer Espeja versagt. Wir sind gefangen in einem Labyrinth aus Reflektionen, in dem wir nur als Schatten existieren, wir hasten von Bild zu Bild, von Eindruck zu Eindruck, immer schuldig, nie genügend, immer verpflichtet, zu dienen, niemals leicht und frei und in einem Augenblick versunken, für den wir keine Verantwortung tragen.
Wir leben für die Bilderwelten der anderen, für die Eindrücke, die wir ihnen spiegeln, damit sie sich in uns erkennen, mit all ihren Wünschen, Motiven und Absichten. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu handeln, jemanden zu belehren oder die Welt zum Besseren zu verändern. Es ist einzig unsere Aufgabe, zu sein, um den Blick zu eröffnen auf das, was sich vor unseren Augen offenbart.
Erst, wenn wir gelernt haben, vollkommen von uns selbst und unserem Ego abzulassen, wenn wir nur spiegeln, statt etwas zu wollen, ist es uns möglich, das Volk, für das wir verantwortlich sind, zu führen. Aber ich hatte mich ja längst dagegen entschieden und meine kurze Reise in die Vergangenheit würde, da war ich mir sicher, diesen Entschluss noch einmal bekräftigen.
„Bitte nach Ihnen“, forderte der Fremde mich lächelnd auf, als die Schranke freigegeben wurde. Ein leichter Stoß in den Rücken schob mich vorwärts, das Drehkreuz schnappte hinter mir ein. Gefangen. Unter den gestrengen Augen der Guardia Civil, die seit den Terroranschlägen alle öffentlichen Plätze bewachte, zog ich meinen alten Rollkoffer zum Wagen 17.
Der Zug war gut besetzt, zum Glück war jedem Ticket ein Sitzplatz zugeordnet. Ich nickte meiner Sitznachbarin freundlich zu und quetschte mich dann vorsichtig auf meinen Platz, denn natürlich hatte mein Vordermann den Sitz so weit zurückgeklappt, dass mir schon bald die Beine einschlafen würden.
Endlich fuhr der Zug mit einem sanften Ruck an und das Pärchen neben mir packte so hektisch seinen Proviant aus, als hätte es eine Ewigkeit auf diesen Moment gewartet. Ich sah zu der jungen Frau hinüber und erschrak. Sie wusste wohl selbst noch nicht, dass sie schwanger war. Und dass sie ihr Kind verlieren würde. Rasch wandte ich mich ab und schloss die Augen.
Ein aufdringlicher Duft nach Zwiebeln und Kalbsfleisch brachte die Erinnerung an den gemeinsamen Abend mit Isandro zurück. Wie sorgfältig er alles vorbereitet hatte, wie liebevoll der Tisch gedeckt gewesen war. Doch es half ja nichts, ich hatte die Stimmung zerstören, ihm klarmachen müssen, dass ich den Auftrag annehmen würde.
„Warum ausgerechnet du?“, hatte er gefragt.
„Weil ich die Gegend gut kenne. Und die Leute. Ich komme ja schließlich von dort.“
„Eben“, hatte er nachdenklich gesagt. „Und wenn ich auch sonst nicht viel darüber weiß, so spüre ich doch, dass dich keine zehn Pferde dorthin zurückbringen sollten. Leandra, Liebling, bitte fahre nicht“, hatte er gebettelt.
Menschen, die so selbstlos und bedingungslos lieben, wie Isandro – man kann sie an einer Hand abzählen. Die meisten Menschen lieben, was der andere ihnen gibt. Sie träumen davon, ihre Erinnerungen, ihre Lieblingsspeisen, ihre Ansichten, ihre Hobbys, Reisen, Musik oder Bücher mit dem Partner zu teilen. Isandro liebte es, mir alles zu geben und mehr noch, alles sein zu können. Er mochte, was mir gefiel, wollte alles über mich wissen. Doch genau das musste ich ihm verweigern.
Dabei wünschte ich nichts mehr, als wenigstens ihm gegenüber das Gelübde brechen zu dürfen. Aussichtslos. Jeder Satz, jedes Wort würde den Spalt zu meinen Erinnerungen weiter und weiter aufreißen, bis auch er darin verschwände. Nur mein Schweigen konnte die Vergangenheit zähmen, so anstrengend der Kampf auch war. Mein Schweigen oder aber der direkte Angriff auf alles, was mich noch stets gefangen hielt. Ob es mir gelingen würde, die Rückkehr an den Ort meiner Kindheit in einen Sieg zu verwandeln?
„Ihren Ausweis!“ Die forsche Männerstimme durchdrang unerbittlich meinen Halbschlaf und den Traum, in dem mir Isandro gerade eine wunderbare valencianische Tracht geschenkt hatte, die die Frauen traditionellerweise tragen, wenn sie die Fallas besuchen. Lindgrüne Seide, Brokat und bunte Blütenstickereien hatten das kostbare Kleidungsstück geziert.
Die Lider noch halb geschlossen, kam ich nicht umhin, die beiden Polizisten wahrzunehmen, die sich in meinem Blickfeld vor einem dunkelhäutigen Mitreisenden aufgebaut hatten. In holperigem Spanisch fragte er nach dem Grund für die Kontrolle.
„Und die Fahrkarte, ein bisschen zackig“, herrschte ihn einer der beiden an, ohne auf seine Frage einzugehen.
Hatte ich etwas verpasst? Was hatte er verbrochen? Schlagartig hellwach sah ich die düsteren Gedanken hinter seiner Stirn rasen, spürte seinen Herzschlag pulsieren, sein Blut aufwallen, als er den Beamten mit zitternden Händen die eingeforderten Papiere hinhielt. Während der Jüngere der beiden umständlich auf einem Papierblock alle Daten notierte, nahm mein Blick Kontakt mit dem Reisenden auf, den sie kontrollierten.
Ruhig bleiben, signalisierte ich. Nichts anmerken lassen. Nur nicht aufmucken, du weißt, was sonst geschieht. Der Fremde vom Bahnsteig, dessen Hinterkopf zwei Reihen vor mir über die Nackenstütze ragte, blickte unbewegt zum Fenster hinaus, auch sonst schien niemand außer mir den Vorfall bemerken zu wollen. Nur die Luft verdichtete sich, während die einen sich ängstlich wegduckten, die anderen ihr stummes Einverständnis ins Abteil atmeten. Jemand musste für Ordnung sorgen.
Die Beamten schienen alle Zeit der Welt zu haben, noch einmal versuchte ich, den Reisenden in Gedanken zu beruhigen, aber seine Traurigkeit verwandelte sich in Wut, meine Blicke provozierten ihn nur. Uns einte eine Zugfahrt, doch sie würde sein Leben verändern, nicht meines. Von diesem Tag an würde er wissen, dass dies nicht das Land war, in dem er sich willkommen geheißen fühlen durfte. Und ich konnte nichts daran ändern.
Erledigt. Die Beamten blickten sich suchend im Abteil nach weiteren Verdächtigen um. Meine Augen erforschten das Gesicht des Jüngeren, der beschämt errötete. Sein älterer Begleiter strafte meine unausgesprochenen Fragen mit kalter und abwehrender Verachtung.
Wäre ich doch eine Heldin gewesen, wäre ich doch aufgesprungen, hätte ich doch verlangt, dass man um der Gerechtigkeit willen auch mich, uns alle kontrolliert. Hätten sie doch selbst über so viel Taktgefühl verfügt, wenigstens ein oder zwei hellhäutige Reisende ebenfalls nach ihren Ausweisen zu fragen. Es hätte niemandem geschadet, aber dem einen Menschen, der sich wie ein Aussätziger fühlen musste, die Bitterkeit erspart. Stumm ließ ich die Polizisten an mir vorbeigehen. Der Ellenbogen des Älteren traf mich hart an der Wange. Noch eine halbe Stunde bis Cuenca.
Mein Smartphone riss mich zurück aus einer Geschichte, die nicht die meine war und von denen ich doch so unerzählbar viele erleben musste. Du darfst dir das nicht zu Herzen nehmen. Schauen, da sein, spiegeln. Wissen, dass es niemals nur eine Sicht auf die Dinge gibt und dass es nicht an mir ist, ein Urteil zu fällen. Nicht die Gerechtigkeit siegt, sondern das Gesetz. Oder das, was wir dafür halten.
Der Bürgermeister, wie hatte ich ihn vergessen können, wollte wissen, wieso ich nicht mit dem Auto nach Alvaría gefahren war. Wie er es so schnell organisieren sollte, dass mich jemand abholte. Aber gut, er werde sehen, was sich machen ließe. Seine Verärgerung war deutlich zu hören. Von mir aus, dachte ich, soll er sich dumm und dusselig ärgern. Sollten sie alle zum Henker gehen! Ich würde diesen verdammten Auftrag durchführen, die Rechnung stellen, fertig und ab nach Hause. Wenn ich es doch schon hinter mir hätte!
Das Display im Abteil zeigte ein langes verknotetes Seil, das sich bei näherem Hinsehen als Abbildung der Fahrtroute erwies, und der Durchsage zufolge näherten wir uns einem Ausstieg. Der dunkelhäutige Fahrgast erhob sich, ohne jemanden anzusehen, von seinem Klappsitz. Wie gern ich ihm zum Abschied ein besänftigendes Lächeln geschenkt hätte. Nein, wir sind nicht alle so. Aber du musst sie verstehen, ihr Job ist auch nicht einfach. Seine verhärteten Gesichtszüge verrieten mir, dass er auf mein Lächeln ebenso gut verzichten konnte wie auf mein Bemühen um Ausgewogenheit.
Dafür dämmerte mir langsam, dass uns mehr als eine Zugfahrt einte, dass ich mich tatsächlich auf eine Reise eingelassen hatte, die mich verwandeln, die alles verändern würde. Während der ich wieder La Espeja sein würde, wie damals, als das in den Bergen heraufziehende Unwetter die Geburt einer Auserwählten angekündigt hatte, deren Makel, von einer Unwillkommenen abzustammen, man mit aller Härte und Entschlossenheit bekämpfen musste.