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1.

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Als die Pyramide vor vielen Jahren fertiggestellt worden war, hatte niemand daran gedacht, dass der Wasserstand des Nils einmal so niedrig sein könnte. Zwischen den beiden Rampen des Taltempels und dem Wasser war ein breiter Streifen nackten, feuchten Bodens, den die Tempeldiener mit Bastmatten belegt hatten, damit sich die Begleiter des verstorbenen Pharaos nicht die Füße beschmutzten. Zehn Männer trugen die Kultbarke mit dem hölzernen Sarkophag hinauf in den Tempel. Dahinter folgten die Priester und die königliche Familie. In ihrer Mitte schritt der zukünftige Herrscher, ein zehnjähriger Junge mit erhaben gerecktem Kinn und verkrampften Schultern. Neith, seine um neun Jahre ältere Schwester, schickte ihm ein aufmunterndes Lächeln, das er hilflos erwiderte. Er hat Angst, dachte sie, aber das sollte er nicht. Wie gerne wäre ich an seiner Stelle.

Die Rampe war schmal, und so musste sie sich ein Stück zurückfallen lassen, um den ranghöheren Mitgliedern der Königsfamilie Platz zu machen. Ihr kleiner Bruder betrat die Halle des Tempels, aus dem der Weihrauch stieg und sich mit dem Morgennebel mischte. In der Ferne, verborgen vom Dunst, erhob sich die Pyramide Neferkare ist standhaft im Leben. Mit ihrer Höhe von hundert Königsellen hatte sie nichts gemein mit den drei Pyramiden weiter nördlich, diesen herrlichen weißen Sternen, die zu einer längst vergangenen, einer für Ägypten weitaus glücklicheren Zeit gehörten.

Ob ihr kleiner Bruder fähig sein würde, den beiden Ländern wieder jene Gunst zu verschaffen, welche die Götter ihnen seit vielen Jahren verweigerten? Neith glaubte es nicht. Neferkare-Tereru wurde nicht aufgrund seiner Befähigung Pharao. Sondern weil es niemand anderen gab.

Ein leiser Ruf erklang. Unten am schlammigen Ufer hatte zwischen den Schiffen ein winziges Papyrusboot festgemacht. Ein Mann sprang heraus und zog es ein Stück herauf. Neith blieb auf dem untersten Stein der Rampe stehen, während die königliche Familie bereits über die Terrasse schritt und in den Totentempel drängte. Niemand hatte bemerkt, dass sie zurückblieb. Der Mann hastete mit schlammverschmierten Füßen über die Bastmatten und blieb vor ihr stehen.

»Warum bist du hier?« Atemlos wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

»Weil mein Vater, der göttliche Neferkare-Pepi, zu Grabe getragen wird«, antwortete sie ungeduldig. »Sollte ich, seine Tochter, nicht dabei sein?«

Er war nicht weniger ungeduldig. »Du bist die Tochter irgendeiner seiner Nebenfrauen; du hast ihn in deinem Leben drei oder viermal zu Gesicht bekommen. Niemand wird dich vermissen, wenn du jetzt mit mir gehst.« Er deutete auf den Nachen. »Wir könnten nach Iunu fahren. In den Häusern der Sonnenpriester wird man uns aufnehmen.«

Zweifelnd betrachtete Neith das schmale Gefährt. Iunu, die heilige Stadt des Sonnengottes Re, war nicht weit, aber in diesen armseligen Nachen würde sie keinen Fuß setzen. Überhaupt begriff sie nicht ganz, wovon Ipui sprach. O ja, von der Bedrohung durch die Aamu, ein Volk von Nomaden jenseits des Türkislandes, das brandschatzend durch die Lande zog, das wusste sie durchaus. Aber war es nötig, augenblicklich in dieses Boot zu steigen?

»Ach, Ipui.« Sie legte eine Hand auf seine schweißglänzende Brust. »Mein Vater war der Lebende Horus auf Erden, und er wird jetzt zum Sternbild des Osiris geschickt, um ihm gleich zu sein. Ich kann doch nicht einfach weglaufen.«

Ipui hielt ihre Hand fest. »Aber das ist dumm!«, beharrte er. Sie runzelte die Stirn und wollte ihm die Hand entziehen, aber er hielt sie entschlossen fest. »Wenn fünftausend aamuritische Krieger auf die Stadt zumarschieren, ist es einfach nur dumm, hierzubleiben. Wundere dich nicht, wenn fremde Eindringlinge den Palast besetzt haben, wenn du und die königliche Familie zurückkehren.«

Er sprach in letzter Zeit ständig von der Bedrohung durch die Aamu. Angeblich redeten die Leute in den Straßen der Stadt von nichts anderem. Ipui hatte damit sogar den Wesir belästigen wollen. Aber er war nun einmal nur ein Tempeldiener, der zu einem solch hohen Mann nicht vordringen konnte, und so war Neith die einzige aus dem Hofstaat, der er seine Warnung vor den Aamu ins Ohr träufeln konnte. Aber allmählich hatte sie genug davon.

»Das ist doch nur eine Bande von Sandbewohnern«, sagte sie ärgerlich. »Sie sind bestimmt keine Krieger, und sie werden niemals die Stadt bedrohen können.«

»Wirklich nicht? Immerhin haben sie vor zehn Tagen die größte unserer Grenzfestungen mitsamt ihren fünfhundert Soldaten einfach überrannt. Überrannt! Fast alle ägyptischen Soldaten sind getötet worden, so sagt man.« Plötzlich packte er Neith so fest an den Schultern, dass sie erschrocken den Atem anhielt. »Sie sind schon fast hier! Begreifst du das nicht?«

Sein Griff schmerzte, und das machte sie wütend. Sie versuchte ihn zu ohrfeigen, aber ihre Fingerspitzen streiften nur sein Kinn. Er machte einen Schritt zurück und ließ die Arme hängen. Seine Sorge um sie hatte etwas Rührendes. Ipui war ein aufrichtiger Mensch, der es nicht verdient hatte, von so hoffnungsloser Liebe erfüllt zu sein.

»Wer könnte Ta-Meri, unserem geliebten Land, gefährlich werden?« Sie machte einen Schritt die Rampe hinauf. Die königliche Familie befand sich sicher schon im überdachten Aufweg, der den Taltempel mit dem Totentempel am Fuß der Pyramide verband. »Es hat sicherlich Neider. Aber keine Feinde. Es hat noch nie Feinde gehabt. Warum vertraust du nicht der Macht des Pharaos?«

»Weil es derzeit keinen gibt! Bitte, Neith, so höre mir doch zu. Die Aamu haben in ihren Reihen einen Mann, der behauptet, Anspruch auf die Doppelkrone zu haben …«

»Ein Aamu?«, rief sie verächtlich.

»Er soll ein Ägypter sein.« Seine Stimme wurde so eindringlich, dass sie schwieg und abwartend in seine dunklen Augen blickte. »Er behauptet, ein Sohn des Pharaos zu sein. Ich weiß«, er hob rasch die Hand, obwohl sie nichts hatte einwenden wollen, »er dürfte nur ein Lügner sein, der versucht, die Gunst der Stunde zu nutzen. Aber er ist auf dem Weg hierher — hierher, verstehst du?«

Ja, allmählich verstand sie. Ein wenig hilflos blickte sie zum Taltempel hinauf. Die Pyramide war von hier aus nicht zu sehen, aber sie war trotz ihrer geringen Größe mächtig und Ehrfurcht gebietend. Dort in ihrem Totentempel würde das Ritual durchgeführt werden, das dem Ka des verstorbenen Herrschers den Weg zu den Sternen ermöglichte, um auf ewig auf die Welt herabzublicken. Niemand anderer als der Thronfolger sollte dieses Ritual, die Mundöffnung, durchführen.

»Du meinst«, sagte sie langsam, »dass dieser Fremde zur Pyramide kommen wird, weil er den Mund von Osiris Neferkare eigenhändig öffnen will?«

Ipui stieß hart den Atem aus. »Ja. Ich weiß nicht, ob er wirklich ein Ägypter ist oder doch nur ein Aamu. Aber eines ist gewiss: dass er ein Barbar ist, der nicht sanft mit der Trauergesellschaft umspringen wird. Und auch nicht mit dir.«

»Ich bin eine Tochter von Osiris Neferkare-Pepi!«

»Vor allem bist du eine Frau! Neith, du bringst dich nur unnötig in Gefahr, wenn du jetzt bleibst. Was, glaubst du, werden diese aamuritischen Sandbewohner mit dir tun?«

Sie wollte sich nicht von seiner Besorgnis anstecken lassen, doch unwillkürlich verspürte sie Furcht. Nein, dachte sie, das darf ich nicht.

»Wenn es wirklich so ist«, sagte sie zögernd, »dann darfst du nicht nur mich warnen. Ich bin nicht allein hier.« Sowie sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, dass es sinnlos wäre. Niemals würden die Priester und die königliche Familie den Totentempel verlassen, nur weil irgendein Diener aus dem Tempel des Gottes Ptah auf seinem schmutzigen Nachen dahergerudert kam. Sie würden ihm erst gar nicht zu sprechen gestatten. Und auch ihr würden sie nicht glauben.

Ipui schüttelte den Kopf und nahm ihre Hand. Noch sträubte sie sich, aber da deutete er flussabwärts. »Ihre Schiffe, die sie auf ihrem Plünderzug gestohlen haben, könnten schon hinter der nächsten Flussbiegung sein oder im Morgendunst verborgen.«

Neiths Blick folgte seinem Fingerzeig. Die aufgehende Sonne hatte den Nebel, der über dem Fluss hing, noch nicht vertrieben. Nichts war zu sehen. Ihre Gedanken huschten zu Neferkare-Tereru. Der Aufweg war lang, aber die Familie dürfte den Totentempel am Fuß der Pyramide jetzt erreichen. Hier im Taltempel brannte noch immer der Weihrauch; der Duft hing in der Luft und vermischte sich mit dem erdigen Geruch des Flusses. Am anderen Ufer standen nur drei, vier neugierige Bauern und schauten herüber. Früher, überlegte Neith, hatte das Volk die beiden Ufer gesäumt, um Zeuge der Nachtfahrt des Osiris zu werden. Heute hockten die Menschen in ihren Hütten und beklagten ihre Armut.

»Damals, noch zu Beginn der Herrschaft meines Vaters, hätte so etwas nicht geschehen können«, sagte sie mit aufwallender Verzweiflung. »Damals besaß Ägypten eine starke Armee, und die Sandbewohner waren nichts als hungrige Nomaden, die sich nur auf Sichtweite an die Grenzfestungen heranwagten.«

»Ich weiß. Aber du musst dich jetzt entscheiden.«

Neith fühlte unbändigen Zorn, so heftig, dass Tränen in ihre Augen traten. Sie wischte sie mit einer ärgerlichen Geste fort. Ihr war der Gedanke unerträglich, vor diesen Aamu einfach fortzulaufen. Aber die Vernunft riet ihr, Ipui zu folgen. Zögernd verließ sie die Rampe, und Ipui hob eine Hand, um ihr über die verschmutzten Matten zu helfen, als Schritte auf der Terrasse erklangen. Neith wandte sich um und erblickte einen der Priester, der die Rampe herunterhastete, die Arme kreuzte und eine rasche Verbeugung andeutete.

»Herrin Neith! Ich glaubte schon, du seist fort. Verzeih mir, Herrin, Priesterin der Sachmet, du musst kommen, sonst kann das Ritual nicht durchgeführt werden!«

Ipuis Griff um ihren Arm wurde drängender. »Was hat Neith mit dem Mundöffnungsritual zu tun?«

Der Priester antwortete, ohne ihm einen Blick zu widmen. »Die Göttin Hathor muss zugegen sein, um den Verstorbenen mit Speise und Milch zu versorgen. Teti – jene Frau, die die Göttin darstellt – kann es nicht mehr tun. Es ist etwas Schlimmes geschehen.«

Neith riss sich los, stieß den Priester beiseite und eilte hinauf. Auf der Terrasse drehte sie sich noch einmal um: »Du musst ohne mich nach Iunu fliehen, Ipui.«

Er schüttelte den Kopf, sodass seine schwarzen Haare flogen. »Niemals. Dann bleibe ich hier und kämpfe. Ich habe im Boot eine Streitaxt.«

Sie stieß einen ärgerlichen Laut aus. Ipui war nur ein Tempeldiener, kein Kämpfer. Er war klug, aber seine Zuneigung zu ihr war manchmal als stärker als seine Vernunft. Sie warf einen letzten Blick den Fluss hinunter. Wie lange würden die Eroberer brauchen, um hier anzulegen? Vielleicht würde die Zeit genügen, die erforderlichen Rituale durchzuführen, die der tote Pharao benötigte, damit sein Ka zu den Sternen gelang. Doch was war mit Teti geschehen?

Neith rannte durch den dunklen Taltempel, und dann lag der Aufweg vor ihr. Die Reliefs an den Wänden wurden vom Licht der aufgehenden Sonne erhellt, das durch die regelmäßigen Durchbrüche in der Decke fiel. Neith sah ihren Vater, wie er Gefangene tötete, die Feinde Ägyptens, doch es war keine Zeit zum Schauen. Mit gerafftem Kleid hastete sie durch den Korridor, das Tappen der priesterlichen Sandalen stets im Ohr. Endlich lag der Totentempel vor ihr; Licht schimmerte durch den Eingang, und leise Stimmen waren zu hören. Doch sowie sie den Vorraum betreten hatte, hielt sie der Priester zurück.

»Dorthin«, sagte er leise und schob sie in eine kleine Seitenkammer, wo Teti auf dem Boden hockte, das Gesicht in den Knien vergraben. Zwei Muu-Tänzer standen neugierig über sie gebeugt. Der Priester rüttelte an ihrer Schulter, und Teti blickte auf. Tränen hatten ihre Augenschminke verwischt.

Neith trat zu ihr. »Was, um Res willen, ist mit dir?«

Teti schniefte so laut auf, dass Neith befürchtete, es müsse in der Säulenhalle zu hören sein. »Sieh doch«, jammerte Teti und hob ihr Kleid. Ein großer dunkler Fleck prangte auf dem weißen Stoff. »Ich habe meine Mondblutung bekommen. Zwei Tage zu früh! Jetzt wird der Ka des großen Horus im Wüstenwind zerschlagen, und ich ende in Schande.«

Unwillkürlich erschauderte Neith, und sie legte die Hände auf die Arme. Vielleicht, dachte sie, enden wir wegen der Aamu alle in Schande. »Es gibt weitaus Schlimmeres«, murmelte sie.

»Was sollte das wohl sein?«

»Zum Beispiel der Feind vor den Toren der Stadt.«

»Jetzt fängst du auch davon an.« Teti schnaufte verächtlich. »Getuschel von Bauern, weiter nichts. Ipui hat dich sicher mit diesem Unsinn angesteckt. Sag mir, was soll ich jetzt tun? Ich habe nichts bei mir, um mich zu reinigen, und Zeit haben wir auch nicht!«

Neith blickte den Priester fragend an, der sich nach einem riesigen Kopfschmuck bückte, den Teti offenbar achtlos auf den Boden gelegt hatte.

»Du musst die Göttin Hathor darstellen, die den Pharao mit Milch besprengt und in den Westen geleitet.« Er hielt ihr die wuchtige Perücke hin, auf der das Kuhgehörn und die Sonnenscheibe der Göttin befestigt waren. Im fahlen Morgenlicht glänzte die vergoldete Scheibe wie ein gefangener Sonnenstrahl. Neith wollte abwehren, aber sie begriff, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie blickte an sich hinunter und zupfte an ihrem Trägerkleid. Es schien sauber zu sein, nur an ihren Sandalen klebte ein wenig Nilschlamm. Neith streifte sie ab, während der Priester ihr die Perücke auf den kurzen Haarschopf setzte und mit Klammern befestigte. Vorsichtig bewegte Neith den Kopf, aber das schwere Gebilde über ihr geriet nicht ins Rutschen.

»Weißt du denn, was du tun musst?«, fragte Teti mit weinerlicher Stimme. Ihre Enttäuschung war deutlich herauszuhören. Die Göttin darzustellen, noch dazu in einem so wichtigen Ritual, war eine Ehre, die ihr vermutlich nie mehr widerfahren würde. Neith erinnerte sich an das Wenige, das Teti ihr erzählt hatte. Sie musste die Mumie mit Milch aus einem Krug besprengen, und was noch?

»Schlimme Zeiten wie diese erfordern die Kraft der Götter«, sagte der Priester. »Es ist der Wille Hathors, in Gestalt einer Frau zugegen zu sein; das haben die Re-Priester in Iunu im Stand der Sterne gelesen. Pharao war ein alter Mann, so alt, wie sonst kein Mensch wird, und er wollte nicht sterben. Und er hat für seine Pyramide einen schlechten Namen gewählt, denn sie bindet seinen Ka an die Erde. Hathor wird ihn mit deinen Händen lösen.« Er tippte an seine Schläfe. »Dein Kohelstrich ist nicht ganz sauber. Aber daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Komm.«

Er führte sie durch den Vorraum zum Säulenhof, wo sich die Familie und die Würdenträger an den Pfeilern drängten. Hier war es bereits heller; der Morgendunst lichtete sich, und die ersten Sonnenstrahlen brachen herein. Neben dem Eingang zur Kapelle stand der Sarkophag in seiner Barke, daneben die Schlitten mit den Kanopen und dem Tekenu-Priester, der unter seinem Stierfell kauerte. Und in der Mitte des Hofes stand die Bahre mit der Mumie. Ein Priester ordnete die Mundöffnungswerkzeuge am Kopfende der Bahre. Ein zweiter hielt ein Weihrauchpfännchen in den erhobenen Händen. Ein dritter rief nach den Muu, und die Tänzer huschten an Neith vorbei und begannen ihren Tanz. Ihre Kronen aus Papyrusstängeln knisterten in der Stille der Halle. Neith achtete weder auf den Tanz noch auf die anschließende Reinigung und Räucherung. Tausend Gedanken jagten durch ihr Herz: die sich nähernden Aamu; Ipui, der draußen auf sie wartete und nutzlos sein Leben wagte; ihre Furcht, als Hathor zu versagen. Als einer der Priester sie herbeiwinkte und ihr eine Tonkanne in die Hände drückte, atmete sie tief durch und schritt in die Halle.

Von den Zuschauern schien allein Neferkare-Tereru zu bemerken, wer sie war. Er lächelte verstohlen, beinahe frech, als ahnte er, wie unwohl sie sich fühlte. Die Königswitwe Ipwet umkrampfte die Hand ihres Sohnes, mit der anderen tupfte sie sich den Schweiß von den Lippen. Sie war nicht mehr jung, auch nicht mehr schlank, und das lange Stehen machte ihr zu schaffen. Neben ihr stand der feiste Wesir Biu und starrte gelangweilt zu Boden.

»Hathor, Herrin des Westens, nähre den Ka des Königs …«, sprach der Priester. Der Schmuck um seine Handgelenke klirrte, während er die Weihrauchpfanne hob. Als er, für Neith völlig unvermittelt, schwieg und auf die Mumie deutete, erschrak sie so sehr, dass das Gehörn auf ihrem Kopf wackelte. Langsam ging sie zur Bahre und hob die Milchkanne. Eine bunte hölzerne Maske lag auf dem Kopf der Mumie. Ihr Glied war gesondert gewickelt, sodass es steil nach oben zeigte. Neith entschied sich, einen Tropfen der Milch auf den Mund der Mumie zu gießen. Der Priester nickte unmerklich, griff nach einem der Instrumente, der vergoldeten Deichsel, und wandte sich zu Neferkare-Tereru um. Der Prinz trat vor. Mit zittriger Hand nahm er die Deichsel entgegen. Noch andere Dinge lagen hinter dem Kopf der Mumie: die Netjeri-Klinge, das Fischbeinmesser und der Unterschenkel eines Ochsen.

Neferkare-Tereru starrte auf die Deichsel in seiner Hand. Er musste jetzt die Ritualworte sprechen; seine Lippen bewegten sich vorsichtig, als müsse er sich mühsam auf die Worte besinnen. Da erklangen schwere Schritte und das Klirren von Waffen vom Aufweg her. Alle starrten zum Eingang, und plötzlich quollen zehn oder zwölf wild aussehende Männer in den Hof. Aufschreiend drängten sich die Tänzer und die königliche Familie hinter die Pfeiler, nur die Priester rührten sich nicht. Neith ließ den Krug fallen. Neferkare-Tereru stand wie erstarrt neben der Bahre.

»Aamu!«, schrie entsetzt ein Priester. Einer der Eindringlinge hob seine Lanze und schlug ihm den Schaft gegen die Stirn, sodass er die Hände auf das Gesicht presste und rückwärts stolperte. Die anderen Aamu verteilten sich mit erhobenen Lanzen; einer von ihnen stieß Teti in den Hof. Dabei warfen sie sich in ihrer Sprache Worte zu, die so seltsam barbarisch waren wie ihr Aussehen. Sie hatten die Haare zu mehreren ölglänzenden Zöpfen geflochten. Ihre Körper steckten in knielangen Lederhemden, und die bloßen Füße waren bis zu den Knöcheln hinauf verdreckt.

Ipui hatte recht, dachte Neith. Ob er noch am Leben war?

Aber sie war die Göttin Hathor, und sie war hier, um ihren Vater zu schützen. Sie raffte ihr Kleid und warf sich auf die Mumie; den Kopf hielt sie in den Nacken gepresst, damit das Kuhgehörn nicht hinunterfiel. Die trockenen, vom Harz gehärteten Binden des Gliedes drückten unangenehm gegen ihren Bauch. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Noch hatten diese Männer ihr keine Beachtung geschenkt. Zuletzt trat ein Mann ein, den sie für den von Ipui erwähnten Ägypter hielt. Er unterschied sich in nichts von seinen Leuten, besaß aber eindeutig ägyptische Züge.

Neith starrte ihn an. Er war schön. Sein Gesicht wirkte makellos, jung, obwohl in seinen Augen Härte lag. Es wollte nicht recht zu seinem wuchtigen Körper passen. Er besaß schmale Hüften und muskulöse Schultern, und seine Arme sahen aus, als könnten sie mühelos das Genick eines Menschen brechen. Wie alt mochte er sein? Fünfundzwanzig Jahre vielleicht.

Er blickte sich rasch um und trat zu der Bahre. Zuerst betrachtete er die Totenmaske, dann wanderte sein Blick zu Neith. Es war ihm unschwer anzusehen, dass ihn das, was er da sah, verwirrte. Unwillkürlich richtete sie den Oberkörper auf; ihre Brust hob und senkte sich heftig.

Einer der Aamu sagte etwas und deutete auf den Prinzen. Die Hand des Fremden schoss vor und umklammerte Neferkare-Tererus Jugendlocke.

»Ich bin Merenre, der zukünftige Herrscher Ägyptens«, erklärte er mit dunkler, heiserer Stimme. »Und wer bist du?«

Neferkare-Tereru blickte furchterfüllt zu ihm hoch. Tränen glitzerten in seinen Augenwinkeln. »Pharao Neferkare-Tereru.«

»Wie?« Der Fremde hob die Hand, sodass der Prinz nur noch auf den Zehen stehen konnte. Neferkare-Tereru begann zu weinen, und Neith sah, wie sein Stolz mit seiner Angst kämpfte. »Ich bin Pharao Neferkare-Tereru!«, stieß er aufschluchzend hervor.

Der Mann, der sich Merenre nannte, entwand ihm mit der freien Hand die Deichsel und stieß ihn zurück. Neferkare-Tereru machte einen Satz nach hinten und rieb sich den Haaransatz seines Jugendzopfes. Merenre wandte sich mit der Deichsel der Totenmaske zu, aber er schien nicht zu wissen, was er damit tun sollte. Schließlich nahm er die Maske herunter und legte sie auf die Brust des Toten. Einer der Priester machte einen entschlossenen Schritt vorwärts.

»Wer bist du?«, fragte er; seine Lippen bebten vor Furcht. »Wie kommst du dazu, das Ritual zu stören?«

Merenre drehte das Werkzeug zwischen den Fingern. »Weißt du es wirklich nicht? Ich bin ein Sohn von Osiris Neferkare-Pepi.«

»Selbst wenn … wenn das wahr ist, so bist du doch nicht der Thronfolger.«

Die Menschen hielten den Atem an, sogar die Aamu. Kein Laut war zu hören, nur das verhaltene Schluchzen Neferkare-Tererus. Der Priester deutete auf ihn. »Er ist der zukünftige Pharao.«

»Ja«, erwiderte Merenre sichtlich ungeduldig, »das hat er mir eben gesagt. Besaß Neferkare-Pepi keine erwachsenen Söhne, sodass er sein Reich einem Kind anvertrauen muss?«

Was war daran so befremdlich?, fragte sich Neith. Der Priester dachte wohl ähnlich, denn er erinnerte den Fremden mit zitternder Stimme daran, dass Osiris Neferkare bereits mit sechs Jahren die Doppelkrone getragen und bekanntermaßen sechsundneunzig Jahre geherrscht hatte.

Merenre warf den Kopf zurück, und seine schwarzen, nach Art der Aamu geflochtenen Zöpfe flogen. Seine dick mit Kohel umrahmten Augen funkelten gefährlich. Neith musste sich eingestehen, dass sie ihn auf eine seltsame Art anziehend fand.

»Ja, fast ein Jahrhundert!«, dröhnte er zur Antwort. »Er hatte Zeit genug, Ägypten zu Boden zu ringen, es von einer geschlossenen Allmacht, die in aller Welt gefürchtet und geachtet war, zu einem zerrissenen Land zu machen, in dem jeder winzige Gaufürst die Macht eines Herrschers anstrebt. Ägyptens Feinden läuft der Geifer aus dem Maul; sie zögern nur deshalb, es zu verschlingen, weil sie misstrauisch auf ihre Nachbarn schielen, die ihnen die fettesten Brocken wegschnappen könnten.«

»Aber die Aamu …«

»Die Aamu sind Ägyptens Freunde. Sie sind gekommen, um diesem elenden Zustand ein Ende zu bereiten. Ich bin gekommen.« Merenre legte die Deichsel beiseite und betrachtete die anderen Werkzeuge. Aber er schien tatsächlich nicht zu wissen, wie sie zu gebrauchen waren. Endlich griff er sich das Fischbeinmesser und setzte die Spitze auf die Binden, dort wo sich der Mund der Mumie befand. Und plötzlich, mit einer jähen Bewegung, stieß er zu. Die Kieferknochen knackten, und der Griff des Messers ragte in die Höhe wie eine überlange Zunge.

»Hier hast du dein zweites Leben, Vater.« Er trat einen Schritt zurück. »Dein Sohn, Pharao Merenre, der zurückgekehrt ist, hat es dir gegeben. Du weißt, nur ich bin fähig, Ägypten aus der Gosse zu holen. Und nicht irgendein Bengel oder sonst einer deiner Söhne, falls es noch welche geben sollte. Ich habe lange Jahre im Fremdland zugebracht, aber stets ein sorgenvolles Auge auf Ägypten geworfen. Merenre hat es nicht vergessen. Pharao Merenre.«

Er wandte sich dem Priester zu, dem wie allen anderen der Mund offenstand. »Nun, worauf wartet ihr? Bringt die Opfergaben und die Grabgegenstände, und geleitet den Sarg in sein steinernes Grab. Und du«, er wandte sich an Neith. »Mach, dass du da herunterkommst.«

Neith machte sich unwillkürlich steif, da sie befürchtete, er werde sie hinunterstoßen. Neferkare-Tereru wischte sich die Augen trocken und sah erst zu ihr, dann zu Merenre. Ihr entging nicht der trotzige Ärger in seinem Blick.

»Hörst du nicht? Du sollst herunterkommen!«

Neith bemerkte, wie Neferkare-Tereru die Hände sinken ließ und einen langsamen Schritt nach vorne machte. Ein Schreck durchfuhr sie, als sie sah, dass er den Blick auf das Messer geheftet hielt. Tu das nicht, dachte sie. Tu das nicht! Warnend versuchte sie den Kopf zu schütteln, und das Kuhgehörn auf ihrem Kopf folgte schwerfällig der Bewegung. Da sprang der Junge vor und packte mit beiden Händen den Griff des Messers. Er schob es hin und her, und mit einem wilden Aufschrei gelang es ihm, es zu lösen.

Merenre wirbelte zu ihm herum, aber er schien nicht beeindruckt. Seine mächtige Hand schoss vor und packte den Jungen an der Kehle, die andere entwand ihm das Messer. Er presste ihn an sich und drückte das Messer an seinen Hals. Neferkare-Tereru brüllte vor Entsetzen. Merenre bewegte die Klinge schnell. Dass er Neferkare-Tereru tötete, begriff Neith erst, als der Junge am Boden lag. Aus der Kehle schoss ein Blutstrahl; Neferkare-Tererus Füße zuckten wild, dann lag er still. Ipwets Augen drehten sich nach innen, und sie sank in sich zusammen.

Der Mörder streckte die Hand aus, jemand aus seinem Gefolge reichte ihm ein Tuch. Er säuberte das Messer und schob es zurück in den Mund der Mumie. Dann schickte er einen drohenden Blick in die Runde. Alle waren schreckensbleich geworden, nur nicht die wilden Aamu-Krieger. »Du«, sagte er wieder und deutete auf Neith, »warum sitzt du immer noch da oben?«

»Weil ich Hathor bin!«, rief Neith mit aufflackernder Verzweiflung. Sie gab dem Drang nicht nach, rasch von der Mumie herunterzugleiten und sich in Sicherheit zu bringen.

»Dummes Geschwätz. Wer bist du wirklich?«

Diese Frage empörte sie. »Du dringst hier ein und tötest den Prinzen und fragst mich, wer ich bin? Wer bist du?«

»Habe ich das nicht gesagt?« Grob umfasste er ihren Arm. Der Druck seiner Finger schmerzte. »Ich bin Neferkare-Pepis Sohn!«

»Und welche seiner Frauen ist deine Mutter? Und wer ist deine Königin?«

Merenre schnappte nach Luft. Er holte aus und klatschte mit dem Handrücken auf ihr Gesicht, sodass ihr für einen Augenblick schwarz vor Augen wurde. Dieser Mann besaß unbändige Kraft. Sie konnte kaum glauben, dass sie noch immer aufrecht saß. Gütige Hathor, dachte sie, es ist dein Wille, dass ich dies hier zu Ende bringe.

»Komm herunter!«, schrie er.

»Ich denke nicht daran!«

Er presste die Lippen aufeinander. Eine steile Zornesfalte erschien auf seiner Stirn. Würde er sie jetzt töten? Doch sein Blick wanderte nur langsam über ihren schweißglänzenden Körper. Wie konnte ein Mann dermaßen schamlos starren, und wie kam es, dass es ihr nicht unangenehm war? Er beobachtete ausgiebig, wie sich ihre Brust hob und senkte; so lange, bis das Gold ihres Halskragens auf der Haut zu glühen schien. Plötzlich drehte er sich um und stapfte zu den Mitgliedern der Familie.

»Welche Frau war für Neferkare-Tereru vorgesehen?« Er stieß Ipwet mit dem Fuß an, schob zwei weitere Frauen – Klagefrauen – beiseite. Ein Mann trat vor; seine blaue Kappe wies ihn als Hohenpriester des Ptah aus. Er antwortete mit ruhiger Stimme.

»Seine Schwester: Itriri, die Tochter Ipwets.«

Merenre ging zurück zur Bahre und stieg über Neferkare-Tererus leblosen Körper. »Wo ist sie? Ich sehe sie nicht.«

»Sie ist nicht hier«, erwiderte der Hohepriester ruhig. Merenre stieß ein höhnisches Lachen hervor.

»Vermutlich ist sie ein junges Gör, nicht älter als ihr Bruder. Wie auch immer, darum werde ich mich kümmern, wenn Zeit dazu ist.« Er wandte sich wieder Neith zu und starrte sie an. Aber er schien sich entschieden zu haben, zu warten. Schweiß lief ihm unter dem Lederzeug hervor, während er mit den Händen an den Seiten dastand. Ipwet lag keuchend in ihrer Ecke; niemand wagte es, sie zu beachten. Die Aamu-Krieger rührten keinen Muskel. Die Höflinge standen schweigend, und ihre Augen huschten zwischen dem selbsternannten Pharao und Neferkare-Tererus Leichnam hin und her. Endlich erhob sich Neith vorsichtig; das Kleid rutschte an ihren Beinen hinunter. Dann stand sie auf der Bahre, die Beine über der Mumie gespreizt, den Kopf mit den Kuhhörnern und der Sonnenscheibe hoch erhoben. Sie blickte auf Merenre hinab, und er zu ihr herauf. Sie ahnte, dass sie ein beeindruckendes Bild bot; dennoch dachte sie: Ich bin eine Tochter Pharaos. Gütige Hathor, geliebte Sachmet, ich bete darum, dass er es nicht weiß.

Herrin zweier Länder

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