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2.

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Die Priester hatten Neferkare-Tereru in ein Tuch gewickelt, noch immer lag er im Pfeilerhof des Totentempels. Die Rituale der Opferung und Grablegung waren in ungebührlicher Hast vollzogen worden. Neith hatte das Kuhgehörn mit der Sonnenscheibe auf den Boden gelegt und den Tempel verlassen, mit einem letzten Blick auf ihren toten Bruder.

»Gütige Sachmet«, murmelte Teti, während sie hinter der Trauergesellschaft den Aufweg hinuntereilten. Merenre und seine Aamu-Krieger waren bereits fort, unten am Fluss. »Ich hätte niemals gewagt, diesem Mann solche Worte an den Kopf zu werfen. Du hast ihn beeindruckt. Ist dir klar, dass er dein Bruder ist?«

»Ja. Und er hat Neferkare-Tereru getötet.« Die Worte schmeckten schal. Neith hatte ihren zehnjährigen Bruder gemocht, aber wirklich vertraut war er ihr nie gewesen. Neferkare-Tereru hatte sie wegen ihres Könnens im Bogenschießen bewundert, aber er war ein Kind des Palastes gewesen; und wenn er in den Tempel gekommen war, dann hatte sie mit ihm nur wenige Blicke gewechselt, nicht anders als heute.

»Ich weiß, ich sah es ja. Wie es scheint, hast du einen Bruder verloren und einen anderen gewonnen.«

Was er getan hat, dachte Neith, war abscheulich, und die Götter werden es nicht vergessen. Ihres Segens dürfte er sich nicht sicher sein.

Der Taltempel war bereits leer, der Weihrauchduft verflogen. Auf der Terrasse hielt sie nach Ipui Ausschau, aber er war nicht mehr da. Hatten die Aamu ihn getötet und in den Fluss geworfen? Vielleicht war er ja doch geflohen, obwohl sie das nicht glaubte. Unwillkürlich ärgerte sie sich über seine Anhänglichkeit. Aber sie mochte ihn, und der Gedanke, er könne jetzt ebenfalls tot sein, schmerzte sie zutiefst.

Soeben wurde die Königin Ipwet in ihrer Sänfte auf die königliche Barke getragen. Der feiste Wesir Biu stolperte hinter ihr über die Laufplanke und suchte sich mit noch immer bleichem Gesicht einen Platz. Neith war froh, dass sie mit der Barke gekommen war, die dem Hohenpriester des Ptah gehörte. Er schritt sehr viel würdiger über das Deck und verschwand in seiner kleinen Kajüte. Auf dem Schiff des fremden Eroberers saßen Ägypter an den Rudern. Also war Merenre zuvor, ohne dass sie alle es gemerkt hatten, in der Stadt gewesen und hatte den Palast im Handstreich genommen. Hatten diese Ruderer sich ihm und den Aamu vorbehaltlos unterworfen?

Dies war nicht mehr das Ägypten der alten ruhmreichen Pharaonen. Es war ein geschundenes Land, das glaubte, einem aus dem Nichts erschienenen Retter huldigen zu müssen.

Sie bestieg die Tempelbarke, Teti dicht hinter ihr. Während sie über die Laufplanke schritt, spürte sie Merenres Blick auf sich. Er stand an der Bordwand seines Schiffes, das gerade ablegte und sich den anderen drei, die in der Flussmitte gewartet hatten, anschloss. Er hatte die Hände auf den Handlauf gestützt; seine eingeölten Zöpfe bewegten sich im einsetzenden Fahrtwind. Einen Bart nach aamuritischer Art trug er nicht. Jetzt, da er entspannt dastand, wirkte sein hübsches, glattes Gesicht so unerfahren wie das eines Kindes, und es passte nicht zu seinen muskelbepackten Schultern.

Als ihre Augen sich trafen, lächelte er. Neith zuckte zurück und schlüpfte in die Kajüte. Das war ungehörig, denn die Kajüte gehörte allein dem Hohenpriester, aber sie konnte Merenres besitzergreifenden Blick nicht ertragen. Sabu-Tjeti, der auf einem Sessel ruhte, lächelte wissend.

»Bleib nur hier und setz dich zu mir, Herrin Neith«, sagte er. »Eigentlich sollten wir jetzt alle beisammensitzen, das Leichenmahl einnehmen und von den Taten des Verstorbenen erzählen. Aber jeder will nur so schnell wie möglich in sein Haus. Das alles ist demütigend, aber wir können nichts dagegen tun.«

»Wirklich nicht?« Sie warf einen verstohlenen Blick durch den Spalt des Vorhangs, aber sie sah nur Teti, die eher neugierig als ängstlich zu dem fremden Schiff hinüberstarrte. Neith setzte sich auf den Boden. Die ruhige Gegenwart des Priesters flößte ihr ein wenig Zuversicht ein. Er langte nach einem Weinkelch auf einem Tischchen und reichte ihn ihr. Sie trank hastig und stellte den leeren Kelch zurück. »Ob er die Wahrheit gesprochen hat?«, fragte sie schließlich. »In seinem aamuritischen Lederzeug sieht er aus wie ein Barbar. Und diese Zöpfe! Sie rochen ranzig.«

»Als eine Tochter des Pharaos hast du dich stets für die Geschehnisse der beiden Länder interessiert«, sagte er freundlich, obwohl sie ahnte, dass ein Tadel folgen würde. »Aber du hast wie jeder Ägypter verächtlich auf das herabgeblickt, was sich jenseits der Grenzen tat. Du hast nicht zugehört, wenn Reisende den Tempel besuchten und Nachrichten brachten.«

»Doch, ich habe Ipui zugehört.«

»Ipui? Ach ja, du meinst diesen Tempeldiener, der es liebt, dir hinterherzulaufen, und der es anscheinend niemals zu einem höheren Priesterrang bringen wird. Dabei scheint er mir gar nicht so dumm zu sein. Wahrscheinlich fehlt ihm nur der Ehrgeiz.«

Neith wollte einwenden, dass Ipui vermutlich tot war, aber sie schwieg und wartete. Sabu-Tjeti lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Armlehnen. Der Vorhang blähte sich im Fahrtwind und schickte einen erfrischenden Lufthauch. Sie erhaschte einen Blick auf Teti, die sich auf einer Matte ausgestreckt hatte und von den beiden Muu-Tänzern, die neben ihr knieten, bedienen ließ. Teti, die den üppigen und sinnlichen Körper einer Tempeltänzerin besaß, fand immer jemanden, der nur darauf lauerte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. In der Ferne war Merenres Barke zu sehen.

»Hm, Merenre …« Der Hohepriester stützte das Kinn auf die Faust. »Sein eigentlicher Name ist das nicht. Er heißt Nemtiemsaf. Merenre – der von Re Geliebte – ist vermutlich sein zukünftiger Thronname, in Anlehnung an Osiris Merenre, der vor hundert Jahren herrschte und ebenfalls Nemtiemsaf hieß. Würde Merenre seinen Geburtsnamen gebrauchen, könnten sich am Hof wohl einige an ihn erinnern. Sein Vater, der auch dein Vater war, schickte ihn vor vielen Jahren ins südliche Syrien, in das Land der Aamu, damit er bei einigen Grenzscharmützeln das Kriegshandwerk lernte. Damals war er fast noch ein Kind. Ich hörte früher davon, dass es ihm nicht gefiel, in der Sonne zu schwitzen, ledriges Fleisch zu essen und auf dem Boden zu schlafen. Aber er soll mit der Streitaxt und der Lanze einer der Besten sein.«

»Mir scheint, er ist im Innern das Kind geblieben, das über die harte Behandlung zornig war. Aber weshalb ist er in Syrien geblieben? Warum ist er bei den Sandbewohnern untergekrochen?«

»Sich mit den Aamu zu verbünden, schien ihm vermutlich der leichtere Weg. Aber er war und blieb Ägypter, und das wussten wohl auch die fleischfressenden Blutsauger, die sich an ihn klammerten, weil sie ahnten, dass er sich eines Tages an seine Bestimmung erinnern und zurückkehren würde, zurück hinter die weiße Mauer der Residenz. Ihnen geht es nur um Macht und Gold. Sie sind wie Jagdhunde, die ihrem Herrn das Wild anschleppen, um dann hechelnd unterm Tisch auf ein paar Brocken zu warten. Was gibt es denn schon in der syrischen Wüste, weswegen sie dort bleiben sollten? Ägypten leidet unter dieser furchtbaren Trockenheit, die schon seit Jahren anhält, aber im Vergleich zu jenem Landstrich ist es immer noch reich und schön.«

Jetzt sprach Sabu-Tjeti so verächtlich, wie es jeder Ägypter tun würde. Neith musste lächeln. »Und woher weißt du das alles?«

»Osiris Neferkare-Pepi sprach manchmal von ihm.« Er nahm seine blaue Kappe ab und strich sich den Schweiß von der Stirn. »Er sprach auch manchmal über dich.«

»Über mich?«, rief sie erstaunt. Sie war überzeugt davon, dass ihr Vater, der bei ihrer Geburt vor neunzehn Jahren bereits ein alter Mann gewesen war, ihr Leben im Tempel kaum wahrgenommen hatte.

»Ja. Er sagte, wärest du nicht eine Frau, so hätte er dich zum Thronfolger ernannt, nicht diesen unbedarften Jungen, den einzigen Überlebenden seiner in langen Jahren gezeugten Söhne.«

Neith war verwirrt. Osiris Neferkare-Pepi hatte während seiner langen Herrschaft nicht viele Kinder gezeugt, und die wenigen waren allesamt gestorben: an Krankheiten, in den immerwährenden Kämpfen an den Grenzen … oder aber mit einem zum Ritual der Mundöffnung bestimmten Fischbeinmesser. Mit der ständig wechselnden Rangfolge der Thronanwärter hatte sie nichts zu tun, nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch, weil ihre Mutter nur eine unbedeutende Nebenfrau gewesen war.

Sabu-Tjeti schloss aufseufzend die Augen. »Herrin Neith, bitte lass mich jetzt allein. Ich möchte ein wenig ruhen.«

Sie sprang auf, kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich.

»Du weißt, dass du als eine Tochter des Pharaos den Kopf nicht vor mir beugen musst.«

»Aber du bist der Erste Gottesdiener des Ptah, der Herr des Tempels, und du hast dich noch niemals darüber beklagt.«

Er lächelte. »Ja. Ich habe deine Huldigung stets genossen, aber ich will nicht mehr, dass du das tust, hörst du?«

Neith runzelte die Stirn. Jetzt erst fiel ihr auf, dass er sie Herrin genannt hatte. Warum besann er sich mit einem Mal auf ihre Herkunft? Sie war doch zuallererst eine Priesterin im Tempel des Ptah, die in der Kapelle der Löwengöttin Sachmet diente. Sie trat hinaus in die beginnende Hitze des Vormittags. Die Barke hielt sich in der Flussmitte, und der Lotse am Bug beobachtete das braune Wasser. Es versprach ein heißer Frühlingstag zu werden. Noch zwei Monate, dann würde der Sepdet-Stern erscheinen und die neue Überschwemmung ankündigen, die sicherlich so schwach ausfallen würde wie all die Jahre zuvor. Merenres Schiff war inzwischen weit voraus.

Sie sehnte sich nach der Kühle des Tempels. Dort lungerten sicher auch keine Aamu herum. Wie viele mochten es sein? Ipui hatte von fünftausend gesprochen. Die weißen Mauern der Residenz flimmerten in weiter Entfernung. Sie sah Männer in den Gärten und am Flussufer herumstreifen, aber sie waren zu weit entfernt, als dass sie hätte erkennen können, ob es Aamu waren. Mit unerträglicher Langsamkeit glitt die Barke am königlichen Hafen vorbei. Die Schiffe der Aamu hatten am Kai festgemacht, ebenso Merenres Schiff. Aber er war nicht mehr zu sehen.

»Was willst du jetzt tun?«, rief Teti ihr zu. »Dich im Tempel vor diesem Emporkömmling verstecken?«

Neith drehte sich zu ihr um. »Verstecken? Warum sollte ich das tun?«

Teti entblößte die weißen Zähne zu einem anzüglichen Grinsen. »Er hat ein Auge auf dich geworfen, das war nicht zu übersehen. Bereitet dir der Gedanke Furcht?«

Neith verschränkte empört die Arme. Die Barke näherte sich dem Kanal Re ist schön, der zum Tempel führte. Viele Jahre lag es zurück, dass die Barken diesen Weg zum Tempel benutzen konnten. Heute war der Kanal nur noch ein Rinnsal, und die Schiffe mussten an seiner Einmündung anlegen. Ein kleiner Kai war errichtet worden, zu dem ein hölzerner Steg führte. Neith und Teti schritten als erste über die Laufplanke.

»Ich habe keine Furcht«, sagte sie schließlich zu Teti, die missmutig den sandigen Weg musterte, der zum Tempel führte. »Er hat mich längst vergessen. Ein Eroberer und selbsternannter Herrscher muss sich doch jetzt um tausend andere Dinge kümmern als um eine Priesterin, von der er nicht einmal weiß, dass sie eine Tochter seines Vaters ist. Komm, lass uns den Weg hinter uns bringen.« Sie hob einen Schal über den Kopf, um die gröbste Hitze abzuhalten. Den Trägern mit ihren Sänften, die erschienen waren, um die ranghöchsten Priester abzuholen, warf sie einen sehnsüchtigen Blick zu. Ihrem königlichen Rang entsprechend hätte sie sich ebenfalls eine Sänfte herbestellen können, aber sie hatte es vergessen.

Eine der Sänften, von vier kräftigen Nubiern getragen, blieb vor ihr stehen. »Bist du die Hathor?«, fragte einer der Träger. »Jene Frau, die die Göttin darstellte? Unser Herr sagte, du musst eine Priesterin sein, also schickte er uns hierher.«

»Ja, ich bin Priesterin der Göttin Sachmet und eine Hofdame«, sagte Neith verwirrt. »Wer ist denn dein Herr?«

»Pharao Merenre. Er sagt, du hast es verdient, dich auf dem Rückweg auszuruhen.«

Teti kicherte. Neith warf ihr einen scharfen Blick zu. Sollte sie sich über dieses unverhoffte Geschenk nun freuen oder ärgern? Die Nubier setzten die Sänfte ab, damit sie einsteigen konnte.

Es war eine prunkvolle Sänfte, goldfarben bemalt und mit Kissen belegt. Ein Sonnendach spendete Schatten. Ihre eigene Sänfte, die irgendwo im Tempelhof herumstand, war nicht annähernd so prunkvoll. Kaum saß sie, wurde sie in die Höhe gehoben, und die Nubier marschierten los. »Wohin geht ihr denn?«, rief sie und blickte Teti nach, die lachend hinterherwinkte.

»Zum Pharao, in den Palast«, war die Antwort. Neith unterdrückte einen Aufschrei.

»Ich will aber nicht. Vom Rückweg in den Tempel war die Rede, also bringt mich dorthin.«

»Aber der Horusfalke …«, sagte der Kuschit verwirrt. Offenbar konnte er nicht glauben, dass jemand dem Ruf des Horus nicht folgen wollte.

»Er mag sich schon so nennen, aber noch ist er es nicht. Außerdem bin ich müde und hungrig. Und habe obendrein schmutzige Füße. Und überhaupt bin ich allein meiner Göttin Rechenschaft schuldig. Hast du verstanden?«

»Ja, Herrin.«

Das würde dem armen Kerl ein paar Stockhiebe einbringen. Aber weshalb soll ich eilen, nur weil irgendein Störenfried, an dem noch Aamu-Zöpfe hängen, mit den Fingern schnippt?, dachte sie erbost. Ich denke nicht daran!

Ein Gefühl bemächtigte sich ihrer, von dem sie nicht wusste, ob es freudige Erregung oder Angst war. Seufzend lehnte sie sich zurück.

Das Gewimmel um sie herum nahm sie nicht wahr, auch nicht die gleichförmigen Schritte ihrer Träger, die die Sänfte zielsicher in Richtung des Hut-Ka-Ptah, der großen Tempelanlage des Stadtgottes, lenkten. Sie mochte das Gewimmel der Stadt nicht – sie war laut und stank. Man nannte sie Men-nefer – ewig und schön war ein edler Name für den Ort, wo der Pharao residierte. Ihr eigentlicher Name war allmählich in Vergessenheit geraten, seitdem Osiris Neferkare-Pepi der Erste seine Pyramide ewig und schön ist Neferkare genannt hatte. Für ihre Bewohner war sie jedoch nur »die Stadt«, und angesichts ihres Ausmaßes verblasste jede andere Stadt zu einem bedeutungslosen Dorf. Neith war sie beinahe so fremd wie eine der Küstenstädte Syriens.

Erst als sie die Umfassungsmauer des Tempels erblickte, dahinter die wuchtige Pfeilerhalle mit den riesigen Statuen ihres Vaters und des Gottes Ptah vor dem Eingang, richtete sie sich auf. Die Träger setzten sie in der kleinen Säulenhalle hinter dem Eingang ab, und sie ging zunächst zum heiligen See nördlich des Tempels, um sich darin zu reinigen. Dann huldigte sie ihrer Göttin, indem sie sich vor dem verhüllten Standbild in der Kapelle zu Boden warf. Sachmet, die mächtige Löwengöttin, das Auge des Re, geliebt von Ptah, besaß nur diese Kapelle, einen kleinen Bau an der westlichen Umfassungsmauer des großen Ptah-Tempels. Auch von Hathor gab es eine solche Kapelle an der südlichen Mauer. Außer ihr und Teti diente hier nur noch eine weitere Sachmet-Priesterin: Merit-Sachmet, die Erste Gottesdienerin. Noch hatte Neith sie nicht gesehen; wahrscheinlich verschlief sie die Mittagshitze in ihrer Kammer. Neith tauschte ihr verschwitztes Kleid gegen ein frisches und beschloss, ihre aufgewühlten Gedanken mit ein wenig Bogenschießen zu beruhigen. Andererseits brannte sie auf das, was die anderen Priester über die Ereignisse in der Stadt und der Residenz zu berichten wussten. Der Hof war fast verlassen; viele waren jetzt sicher in der Stadt, um sich um ihre Angehörigen und Wohnungen zu kümmern. Einige wenige lebten hier im Tempel in eigens für Priester errichteten Häusern und hatten sich anscheinend darin verkrochen.

Sie schnallte sich einen ledernen Schutz um die Hände und holte einen der Ritualbogen aus den Lagerhäusern, dazu einen gefüllten Köcher, den sie um die Mitte gürtete. An die Hofmauer lehnte sie eine hölzerne Platte und schritt zurück, bis sie sechzig Ellen zählte. In guter Verfassung traf sie das Ziel über eine Entfernung von weit über hundert Ellen. Teti war die bessere Tänzerin, sie jedoch die bessere Bogenschützin; aber in ihrer jetzigen Aufgewühltheit gelangen ihr nur wenige gute Schüsse. Enttäuscht ließ sie den Bogen sinken.

»Neith?«

Sie sah auf. Merit-Sachmets nackte Füße knirschten im Sand. Die Hohepriesterin war eine alte Frau von über sechzig Jahren, klein, aber noch ungebeugt. Unter dem schlichten Tuch, das ihren Kopf vor der Sonne schützte, sah sie eher wie eine Tempeldienerin aus. »Du bist mit einer dieser teuren Sänften für Höflinge in den Tempel geschwebt, so berichtete man mir«, sagte sie leicht spöttisch. »So junge Beine und schon so müde.«

»Herrin, du vergisst, dass ich eine Hofdame bin«, entgegnete Neith lächelnd und verneigte sich. »Meine Herkunft hat mich dazu gemacht. Hätte ich das Geschenk des neuen Pharaos zurückweisen sollen?«

»Gütige Göttin!«, rief Merit-Sachmet und hob in gespielter Empörung die Hände. »Wurdest du auch so rasch davon angesteckt, vor diesem Mann zu kuschen und ihn Pharao zu nennen, kaum dass er seinen Namen genannt und den Anspruch auf die Doppelkrone ausgesprochen hat?«

»Aber ich kusche nicht vor ihm!«

Merit-Sachmet berührte beschwichtigend ihre Schulter. »Nein, das weiß ich doch. Sabu-Tjeti suchte mich auf und berichtete mir. Ich konnte ohnehin nicht schlafen, denn es herrscht Unruhe, und ständig rannte jemand vor meiner Kammer hin und her. Du hast klug gehandelt. Und wer weiß, vielleicht wollte die Göttin ja, dass du Tetis Platz einnahmst.«

Neith stützte sich auf den Bogen. Diese Möglichkeit hatte sie noch nicht bedacht. Aber einen Sinn vermochte sie dahinter nicht zu erkennen. Gäbe es im Tempel noch weitere weibliche Priester, wäre Teti erst gar nicht ausgewählt worden. All die anderen Tänzerinnen waren Frauen aus der Stadt, die nur zu den Festen erschienen, keine Priesterinnen. Da sah sie Teti quer über den Hof rennen, in Richtung der Pfeilerhalle. Drei, vier Aamu-Krieger stapften durch das Westtor, wobei sie die Priester und Tempeldiener mit flachen Klingen beiseite drängten. Sie sahen sich um; einer der Männer deutete auf Neith.

»Wäre es möglich, dass diese Männer deinetwegen kommen?«, fragte Merit-Sachmet ruhig.

»Ich fürchte, ja.« Neith unterdrückte den Wunsch, ebenfalls in die dunklen Flure des Tempels zu flüchten. Die Männer blieben vor Merit-Sachmet stehen, die ihnen entschlossen entgegentrat.

»Du«, sagte einer der Aamu mit seinem fremdartigen Akzent und deutete auf Neith. »Der König schickt uns nach dir. Du hast ihn beleidigt, da du seine Einladung nicht angenommen hast.«

»Sie ist deinem Herrn, der sich König nennt, nichts schuldig«, sagte Merit-Sachmet. »Geh und störe nicht das Haus des Gottes.«

Der Aamu warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Deine Götter kümmern mich nicht. Sieh zu, dass du mir aus dem Weg gehst.« Er legte die Hand auf die Schulter der alten Frau, um sie beiseite zu stoßen. Neith hob sofort den Bogen und spannte ihn. Ihre Hände bewegten sich fast ohne ihr Zutun, und sie konnte sich nicht erinnern, den Pfeil aus dem Köcher gezogen zu haben.

»Berühre sie nicht«, sagte sie mit fester Stimme. »Du bist es, der gehen wird, mitsamt deinen Leuten. Richte deinem Herrn aus, dass sich eine Sachmet-Priesterin keinem Mann aufzwingen lassen wird.«

Der Aamu lachte unsicher. »Ich hatte geglaubt, du würdest vor Ehrfurcht erstarren, da dich dein König, der sich Gott nennt, zu sich ruft. Bete zu deiner Göttin, dass sie dich vor seinem Zorn schützt.« Er machte mitsamt seinen Männern kehrt. Erleichtert stieß Neith den Atem aus.

»Geht es dir gut, Herrin?«

»Aber ja. Da sind ja wirklich einige sehr interessante Dinge vorgefallen, nicht wahr? Aber komm, begleite mich zurück in die Kühle meiner Kammer. Vielleicht finde ich jetzt etwas Schlaf.«

»O Merit-Sachmet, wie glaubst du, jetzt schlafen zu können?«

»Nun, es ist doch jetzt ruhig hier.«

Neith winkte einem Tempeldiener, der aus sicherer Entfernung zugesehen hatte, und gab ihm Köcher und Bogen. Sie trat an Merit-Sachmets Seite, um ihr den Arm zu bieten. Im Schatten der Mauer wanderten sie zum Haus der Priester. Merit-Sachmet besaß nur eine einfache Kammer am Ende des langgestreckten Gebäudes. An einem Anwesen in der Stadt, wie Sabu-Tjeti eines besaß, lag ihr nichts. Meine Göttin haust inmitten dieses Tempels in einer unscheinbaren Kapelle, pflegte sie zu sagen, weshalb sollte ich besser wohnen als sie? »Es ist schwach und krank geworden«, sagte die alte Priesterin unvermittelt, »schwach und krank, unser geliebtes Ägypten. Ich wollte es nicht wahrhaben.«

Wir alle wollten es nicht wahrhaben, dachte Neith.

»Doch wären es nicht die Aamu«, sprach Merit-Sachmet weiter, »so kämen andere, vielleicht aus den fruchtbaren Gegenden Syriens oder aus den Ländern jenseits des verkehrt fließenden Flusses im Osten. Schlimme Dinge geschehen. Die Bauern hungern, die Gaufürsten errichten sich prachtvolle Landhäuser und ahmen die Residenz des Herrschers nach. Sie streben nicht mehr nach Grabstätten in Sakkara, um dem Pharao nahe zu sein, sondern lassen in ihren Gauen Gräber in die Felsen schlagen. Sie drängen unter den Fittichen des Horus hervor, um ihm die Federn auszureißen.«

Sprach die Hohepriesterin von Osiris Neferkare-Pepi oder von Merenre? »Hast du all das im heiligen Auge der Göttin gesehen?«, fragte Neith beeindruckt, aber Merit-Sachmet antwortete nicht, denn sie hatten die Tür zu ihrer Kammer erreicht. Neith öffnete ihr und ging zum Fenster, um die Binsenmatte herunterzulassen, denn Merit-Sachmet mochte kein Sonnenlicht in ihrer Kammer. Hier gab es nur ein Bett, dazu einige verschlossene Truhen und ein kleiner Schrein der Sachmet. Er war sehr kostbar, mit Goldfolie beschlagen und von goldenen, löwenköpfigen Göttinnen flankiert. In einer Ecke lehnte Merit-Sachmets Götterstab mit dem Löwinnenkopf, in einer anderen ein Straußenfedernfächer. Neith half ihr, sich hinzulegen, nahm dann den Fächer und stellte sich neben dem Bett auf, um ihr Luft zuzufächeln. Sie hätte dafür einen Tempeldiener holen können, aber sie wollte noch nicht gehen.

Merit-Sachmet schien bereits einzuschlafen. Aber die Frage brannte unter Neiths Fingern.

»Herrin? Denkst du, ich sollte mich nicht mit Merenre einlassen? Wie es scheint, findet er Gefallen an mir.«

Merit-Sachmet blinzelte, als müsse sie erst den Sinn dieser Frage erkunden. Sie schob einen Arm unter ihren Kopf und sah Neith an. »Du machtest soeben nicht den Eindruck, als fändest du Gefallen an ihm. Willst du die Nebenfrau oder vielleicht auch nur die Geliebte eines Mannes werden …«

»Eines Gottes.«

»Schön, eines Gottes. Falls das so richtig ist. Die wenigsten Herrscher haben sich bereits vor ihrem Ableben als göttlich erwiesen. Aber ist das dein Ziel?«

»Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht …« Neith unterbrach sich, denn Merit-Sachmet ahnte sicherlich ihre Gedanken.

»Du bist eine königliche Tochter. Du denkst an den Goldreif der Königin, nicht wahr? Ich hatte nicht vergessen, wessen Tochter du bist, als ich dich damals zur Priesterin machte. Deine Liebe zur Göttin war als junges Mädchen schon stark, und es gab seinerzeit keinen Prinzen oder ausländischen Gesandten, dem du hättest zur Frau gegeben werden können.« Merit-Sachmet gähnte. »Dort in der Truhe an der Wand liegen Papyri. Bring mir das unterste Bündel.«

Neith öffnete die Truhe und brachte die gewünschten Rollen. Abwartend sah sie zu, wie Merit-Sachmet einen der Papyri entrollte, über ihren Kopf hielt und angestrengt las. Neith sah, dass es ein Traumbuch war, eine Liste von möglichen Deutungen für Träume oder andere, ungewöhnliche Begebenheiten. Nach einer Weile ließ die Hohepriesterin die Arme aufs Bett sinken. Der Papyrus rollte sich zusammen und fiel hinunter.

»Ich habe dich noch nie ins Auge der Göttin blicken lassen«, murmelte sie leise, »aber vielleicht … ist es … an der Zeit.«

Merit-Sachmet war eingeschlafen. Neith verließ leise das Zimmer und trat hinaus ins Freie. Ihre eigene Kammer war nicht weit entfernt. Einer der Tempelwächter stand wie stets neben der Tür; seine Anwesenheit war ein Zugeständnis an ihre königliche Herkunft. Während sie auf ihn zuging, erinnerte sie sich an Ipui, und plötzlich ärgerte sie sich maßlos. »Warum bist du hier und bewachst meine leere Kammer?«, fuhr sie den Priester an. »Weshalb bist du nicht im Palast und kämpfst gegen die aamuritischen Eindringlinge?« Er blickte erschrocken, sagte aber kein Wort. Neith riss die Tür auf und betrat ihr Gemach. Es war die größte der Priesterkammern; auch das hatte sie dem Umstand zu verdanken, dass sie eine Tochter des Pharaos war. Eine junge Frau, die in Kleidertruhen kramte, richtete sich überrascht auf.

»Herrin!«, rief sie, eilte auf sie zu und verneigte sich. »Ich bin so froh, dich zu sehen. Draußen hörte ich die schlimmsten Dinge, sodass ich schon glaubte, du seist verschleppt oder gar tot. Aber du scheinst wohlauf zu sein. Geht es deiner Freundin Teti auch gut?«

»Ja, danke, Taket.« Neith schritt durch das Zimmer und betrachtete die geöffneten Truhen, aus denen die Stoffe quollen. Der Tisch war mit Schmuck, Schminktiegelchen, einigen Perücken und anderem Kleinkram übersät. Taket war ein freundliches, stets hilfsbereites Mädchen, dem es Freude machte, ihrer Herrin zu dienen, aber ordentlich war es nicht. Neith ließ die Träger ihres Kleides über die Schultern gleiten, sodass es sich zu ihren Füßen zusammenbauschte. Augenblicklich löste die Dienerin die staubbedeckten Sandalen und brachte eine Waschschüssel und zwei Leintücher. Neith seufzte wohlig auf, als sie das Natron und die tropfnassen Tücher auf ihrer Haut spürte.

Sowie sie wieder getrocknet war, ließ sie sich auf dem Bett nieder. Taket kniete neben ihr, um ihr die Haare zu kämmen. Die dicken, schwarzen Strähnen reichten nur bis zum Kinn, die Spitzen drehten sich in Richtung Nase – da half alles Kämmen nichts. Neith mochte es, die Haare kurz zu tragen, denn sie fand, dass es zu ihrem kriegerischen Namen passte. Schließlich streckte sie sich auf dem Bett aus, und nun war es Taket, die nach einem Federnfächer griff, um ihr Kühlung zuzufächeln. Neith angelte nach einem Tonkrug mit Wasser und trank ihn aus. Dann drehte sie ihn nachdenklich in den Händen. Abrupt setzte sie sich auf, beugte sich zu einer Truhe am Kopfende des Bettes und wühlte darin herum. Wo war ihre Schreibpalette? Auf dem Boden lag ein Kohlestück. Sie hob es auf.

Ich lasse mich nicht von dir vereinnahmen, dachte sie in einem Anflug von Zorn und malte die Sonnenscheibe, den Grabstock, den Mund und die Wasserlinie auf den Tonkrug. Merit-Sachmet hatte ihr erzählt, dass dies eine einigermaßen erfolgversprechende Maßnahme war, einen bösen Umstand zu beseitigen: Man schrieb das Wort auf ein Gefäß und zerbrach es. Doch ob dies auch auf Menschen anwendbar war, wusste Neith nicht. Nun hatte sie Merenres Namenshieroglyphe auf den Tonkrug geschrieben. Aber war sie wirklich fähig, ihn zu zerbrechen?

»War jemand hier?«, fragte sie schließlich. »Irgendein Bote aus dem Palast?«

»Aus dem Palast?« Die Dienerin schüttelte den Kopf. »Nein. Ich sprach nur mit einem der Tempeldiener, der … O gütige Göttin!« Sie fiel auf die Knie. »Das habe ich in all der Aufregung ganz vergessen. Einer der Tempeldiener berichtete, was mit Ipui geschehen ist. Er soll im Palastgefängnis sitzen, gemeinsam mit einigen wenigen Palastwächtern, die es wagten, sich den Eindringlingen zu widersetzen.«

»Gütige Sachmet! Aber dann lebt er wenigstens.« Neith betrachtete das Gefäß in ihrer Hand. Warum war die Welt plötzlich so launenhaft und füllte sich mit Schwierigkeiten? Sie hob den Krug über den Kopf und betete zu Thot, dass der Zauber gelingen möge. Dann schleuderte sie ihn zu Boden, sodass er in tausend Stücke zersprang.

Es würde Abend werden, bis die Mauer des Innenhofes, an der die aufständischen Soldaten angekettet waren, Schatten warf. Sie hingen an Kupferringen, die Gesichter der heißen Ziegelwand zugewandt. Wer groß genug war, konnte auf den Zehenspitzen stehen, ansonsten galt es, zu hängen. Und diejenigen, deren Zehen nicht mehr den Sandboden berührten, waren bewusstlos. Neith zählte zehn Männer, die ihre unglückliche Lage offenbar der Tatsache zu verdanken hatten, nicht wie die anderen Palastsoldaten zu den fremdländischen Eroberern übergelaufen zu sein, kaum dass jene ihren Fuß in den Palastbezirk gesetzt hatten. Aamuritische Krieger machten in der Mitte des Hofes ihre Kampfübungen.

Wir Ägypter sind kein kriegerisches Volk, dachte Neith. Ägypter bearbeiteten ihren nilschlammbedeckten Boden und verehrten die Götter, genossen die Sonne und dachten über das Leben und den Tod nach.

Andernfalls hätten nicht fünftausend Aamu genügt, um das Land einzunehmen. Aber das Land, das war ja lediglich der Palast, so wie der Pharao Ägypten selbst war. Was kümmerte die Bauern auf dem Feld, wer die Doppelkrone trug? Sie hatten andere Sorgen. Und der neue Pharao würde seine fremdländischen Söldner bezahlen und sie in ihre Heimat zurückschicken. Neith schwang die Beine aus der Sänfte in die Sonnenglut und ging mit geschultertem Sonnenschirm an zwei aamuritischen Kämpfern vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Einer der Gefangenen drehte mühsam den Kopf nach ihr. Der Anblick von Ipuis geschundenem Leib entsetzte sie.

»Was suchst du hier, edle Dame?«, krächzte er. »Wenn du einen Diener erwerben willst, bist du hier falsch. Hier werden nur die königstreuen Ägypter gebacken, als Mahl für einen dämonischen aamuritischen Gott.«

»Ipui, du lebst, Re sei Dank.« Neith berührte seine schweißbedeckte Schulter. »Aber du bist kein Palastsoldat und wärest nicht in diese missliche Lage geraten, wenn du mich nicht hättest beeindrucken wollen.«

Er leckte seine aufgesprungenen Lippen. »Hast du mich also durchschaut. Na schön, und womit willst du jetzt vor mir Eindruck schinden? Mit deiner edelsteinverzierten Schönheit? Oder willst du dem Hauptmann der Aamu gefallen, damit er mich freilässt?«

»Genug jetzt!«, schrie jemand hinter ihr, und sie fuhr herum. Einer der beiden Aamu sprang zurück und senkte seine Streitaxt. Er schien es ebenso zu ihr wie zu seinem Kampfpartner gerufen zu haben. Mit der blitzenden Klinge in der Hand stapfte er auf sie zu. »Ah, die stolze Priesterin, die es wagte, dem neuen Horus nicht zu gehorchen und meine Leute zu bedrohen. Wo hast du denn deinen Bogen gelassen, schöne Frau? Deine Finger sind viel zu fein für eine Waffe.« Sein Ägyptisch war fließend, beinahe vollkommen. »Merenre erzählte von dir; er beschrieb dich recht anschaulich. Dass du einen Bauerntrottel zum Liebhaber hast, der mit einer Waffe kaum etwas anzufangen weiß, wusste er sicherlich nicht.«

»Und von dir, Barbarentölpel«, erwiderte Neith, »wusste ich nicht, dass Merenre sich überhaupt mit dir abgibt. Nenn deinen Namen, bevor du ein Mitglied der königlichen Familie ansprichst!«

Der Aamu lachte dröhnend, schob seine Axt in den Gürtel und verschränkte die muskelstrotzenden Arme vor der Brust. Er war groß und in seiner schwarzen Lederrüstung auf barbarische Art beeindruckend. Die geflochtenen Haare hingen ihm lang und schwarz über die Schultern, und ein kurzer Bart bedeckte seine untere Gesichtshälfte. »Haikta-Ummar. Ergebenster Diener des Horusfalken und Anführer der aamuritischen Streitmacht, dem es gelang, die größte Grenzfestung des Reiches wegzuwischen wie einen Brotkrümel, bevor er die Menschen in der Residenz das Zittern lehrte. Genügt dir das?«

Unwillkürlich fragte sie sich, ob Merenre von diesem Mann gelernt hatte, wehrlose Kinder abzuschlachten. Langsam und schamlos ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern und weckte das Begreifen in ihr, dass er eine Bedrohung für ihr Leben war. Nur mit Mühe hielt sie seinem Blick stand.

»Du da«, rief er seinem Übungspartner zu, der noch immer etwas abseits stand und Neith anstarrte. »Bring mir die Flusspferdpeitsche!«

Der Aamu setzte sich in Bewegung und kehrte mit einer geflochtenen Lederpeitsche zurück. Neiths Körper spannte sich an. Doch Haikta-Ummar ließ die Peitsche auf Ipui niedersausen, der vor Überraschung und Schmerz aufschrie. Zwei, drei Peitschenhiebe knallten, bevor sie ihre Verwirrung überwand.

»Ich nehme an, dass du mich beeindrucken willst«, stieß sie hervor. »Nun, das ist dir gelungen, du kannst also aufhören. Ich will diesen Mann mitnehmen.«

Haikta-Ummar ließ die Peitsche mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck sinken. »Was kümmert es mich, was du willst? Dieser Mann wird hier in der Sonne verrotten wie alle anderen. Aber was hast du da vorhin gesagt? Du gehörst zur königlichen Familie?«

»Allerdings. Ich bin eine Tochter von Osiris Neferkare-Pepi.«

Seine Augen blitzten erstaunt, und dann warf er die geflochtenen Zöpfe zurück und lachte lauthals. Er hatte große weiße Zähne. Alles an ihm war groß, üppig: die Nase, die Lippen. Jung war er nicht mehr; unterhalb seiner Augen verliefen Falten. Oder waren es Narben? Neith blinzelte, um sich dem Bann seines Blicks zu entziehen, als er plötzlich dicht vor ihr stand und ihr Kinn mit einer Hand packte.

Jetzt lachte er nicht mehr. »Eine Prinzessin, wer hätte das gedacht?« Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in ihre Wangen und bogen ihren Kopf zurück. Sie bemühte sich, nicht zu schlucken, und hoffte, dass er ihr heftig schlagendes Herz nicht spürte.

»Ich vermute, dein Rang ist dennoch von eher untergeordneter Bedeutung«, sagte er mit einer tiefen Stimme, die ihr einen Schauer über die Haut jagte. »Aber ich werde es dem neuen Horus sogleich zutragen, denn das ist es doch, was du willst, nicht wahr?« Sein Gesicht näherte sich. Sie war fest entschlossen, seine Lippen blutig zu beißen, sollte er sie tatsächlich küssen wollen. Aber dann ließ er sie los. »Höchst ehrenwerte Prinzessin, ich gebe dir Geleit bis zum Tor mit«, er winkte einigen aamuritischen Soldaten, die sogleich ihre Sänftenträger umringten. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich in den Tragsessel zu setzen. Eilig hoben die Träger sie in die Höhe, aber sie gebot ihnen mit einer Handbewegung, zu warten. Sie griff hinter sich zwischen die Sitzkissen und holte das kleine Kohlestück hervor, das in ihrem Zimmer auf dem Boden gelegen hatte. Aus einer Eingebung heraus hatte sie es mitgenommen, ebenso wie das winzige, dünnwandige Tongefäß, auf das sie jetzt eine Namenshieroglyphe schrieb. Sie hielt es hoch und zerbrach es, indem sie die Hände zusammenschlug. Die Splitter warf sie vor Haikta-Ummar zu Boden.

Er runzelte die Stirn und trat einen Schritt zurück. »Was soll das?«, knurrte er. »Zauberei?«

»Es ist ein Versprechen. Wessen Name auf dem Gefäß steht, das zerbrochen wird, ist verflucht.« Sie machte eine Geste, und sofort setzten sich die Träger in Bewegung. Sie sah noch, wie Haikta-Ummar die Splitter zu Staub trat, und hörte ihn zornige Worte in seiner eigenen Sprache ausstoßen. Hatte sie es wirklich geschafft, ihm Furcht einzujagen? Vermutlich wusste dieser Mann nicht einmal, was Furcht war.

Der Audienzsaal trug die Handschrift eines alten Mannes. Der Ka des verstorbenen Herrschers schien zwischen den Lotossäulen herumzustreifen, gemeinsam mit den blauschimmernden Libellen, die sich vom angrenzenden Garten in die Kühle und Dunkelheit der Halle wagten. Mondlicht flutete zwischen den Säulen über das Thronpodest, Hennaduft wehte herein, dazu die entfernten Klänge von Flöten und das Lachen der Hofdamen. Merenre stellte einen Fuß auf die unterste der fünf Stufen, die zum Thron hinaufführten. Sie lachen schon wieder, dachte er. Kaum bricht die Dunkelheit an, legen sie die Trauergewänder ab und feiern weiter. Das Palastleben scheint wie ein einziger, nie abbrechender Traum.

Die aamuritischen Zöpfe streichelten seinen Rücken, als er die Stufen hinaufstieg. Wie lange war es her, dass er diesen Raum zuletzt gesehen hatte? Fünfzehn Jahre? Damals war er kaum zehn gewesen, ein junger, unbedarfter Prinz, der nicht begriffen hatte, weshalb er den Palast verlassen musste. Er hatte die Jahre in den Festungen an der östlichen Grenze als Strafe empfunden. Als Strafe wofür? Für nichts! Merenre hatte seinen Vater seitdem gehasst, aber nun war Osiris Neferkare-Pepi nur noch ein Name, ein Gestirn am Himmel, ein Ka, der in der Sonnenbarke saß, nicht hier in dieser Halle.

Unschlüssig stand Merenre vor dem zierlichen und überreich mit Gold und Elfenbein verzierten Thronsessel. Er kniff mehrmals die Augen zusammen, um das Bild des darin sitzenden Vaters zu vertreiben, dann ließ er sich langsam darauf nieder.

Der Blick von diesen fünf Stufen in die Weite der Audienzhalle, so düster sie jetzt auch war, überwältigte ihn. In Gedanken sah er die Höflinge aufmarschieren. Frauen in durchschimmernden Gewändern, angekettete Affen hinter sich her ziehend und mit Katzen auf den Armen. Seine Berater, behängt mit Pektoralen, Ketten und verwirrenden Titeln, umringten das Podest, demütig die Köpfe gesenkt. Abgesandte der zahlreichen Gaue brachten ihm Tribute und Geschenke. Alles war eine Pracht, die das Auge blind machen konnte. Er trug die Doppelkrone und den Zeremonienbart und hielt Krummstab und Geißel über dem Schoß gekreuzt. Neben ihm saß seine Königin, eine Frau von überwältigender Schönheit und Klugheit. Sie war stolz und streng, und keiner der Gaufürsten wagte es, unter ihren Augen zu betrügen und seine Machenschaften auszuleben. Und er, der Pharao, lächelte milde und vornehm schweigend in die Runde.

Merenre machte eine Handbewegung, um die Träumerei zu vertreiben. Die Wirklichkeit sah anders aus, begonnen mit der Tatsache, dass er ein Kind zu seiner Hauptfrau machen musste. Wie hieß sie noch – Itriri? Und wie war das mit den Abgesandten der Gaue? Wenn sie nicht gekommen waren, um den Palast zu verteidigen, dann doch deshalb, weil es sie nicht interessierte, was in der Residenz vor sich ging. Und diese Priesterin? Sie hätte in einer Sänfte vor ihm erscheinen sollen; stattdessen war sie in den Tempel geflüchtet und hatte seine Männer mit einer Waffe bedroht und fortgejagt. Er schlug die Faust auf die Thronlehne. Das störrische Verhalten dieser Frau war einfach unglaublich.

Jemand lachte. Ein Mann näherte sich, ein großer Aamu mit Lederrüstung und Axtgurt. »Ahnte ich es doch, dass ich dich hier finde«, dröhnte seine Stimme durch die Halle. »Genießt du schon den Ausblick? Fühlst du bereits die Doppelkrone auf deinem göttlichen Haupt?«

Merenre streckte unwillkürlich den Rücken. »Haikta-Ummar. Warum bereitet mir dein Anblick immer noch Unbehagen?«

Der Aamu stemmte die Hände in die Hüften und blieb breitbeinig am Fuß des Thronpodests stehen. Sein Kopf war auf gleicher Höhe wie Merenres Brust, und doch schien es Merenre, als müsse er zu dem Fremdländer aufblicken. »Vermutlich, weil du an die Schuld denkst, die du mir gegenüber hast«, erwiderte Haikta-Ummar. »Gold, Frauen, Getreide. Aber hauptsächlich Gold.«

Ja, das hatte Merenre diesem Barbarenhäuptling versprochen, damals, als er die Grenzfestung verlassen hatte und geradewegs in Haikta-Ummars Arme gelaufen war. In seinem gekränkten prinzlichen Stolz war er zu jedem Preis bereit gewesen, den der Aamu-König verlangt hatte, damit der ihm seine Ehre zurückeroberte. Was bedeutete ihm schon Gold? Er, Merenre, wollte Genugtuung, Macht – das berauschende Gefühl, mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung eines jeden Menschen Leben, der vor ihm auf dem Boden kniete, beenden oder erhöhen zu können.

»Die Zeiten haben sich geändert, Haikta-Ummar. Es gibt kaum genug Getreide, um alles Volk zu ernähren. Nubien verhält sich aufrührerisch; von dort ist kein Gold zu holen. Und was die Frauen betrifft — Sklavinnen gibt es vielleicht auf den Märkten der syrischen Küstenstädte, wo man alles kaufen kann, aber nicht hier.«

»Dann schick nach den Töchtern der Gaufürsten, als Mahnung an die wiedererstarkte Macht des Horus.« Haikta-Ummar stellte einen Fuß auf die unterste Stufe. Es war eine unmissverständliche Geste. »Die Fleischtöpfe Ägyptens dampfen immer noch, und meine Männer werden sich daran laben, denn sie haben dich nicht umsonst auf den Thron gehoben. Nun, ich habe Zeit. Ägypten ist ein schöner Platz, um sich auszuruhen und der Dinge zu harren, im Gegensatz zu den steinigen Wüsten und trostlosen Landstrichen meiner Heimat. Ich schlage dir vor, noch heute die Berater des verknöcherten Neferkare-Pepi auszusondern und denen, die nichts taugen, die Köpfe abzuschlagen. Wahrscheinlich taugen sie alle nichts. Lass deine Krönung vorbereiten; da gibt es keine Zeit zu verlieren. Und sieh zu, dass du Pepis Tochter zur Frau nimmst.«

»Itriri, ja.« Merenre seufzte. »Ein Kind.«

»Warum nicht? Auch ein Kind taugt fürs Bett. Ich hatte allerdings an jene Frau gedacht, auf die dein Auge fiel. Und die von sich behauptet, eine Tochter Pepis zu sein. Oder ist sie nicht königlich genug?«

Merenre versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Diese widerspenstige Frau sollte seine Schwester sein? Haikta-Ummar lachte.

»Das hat dich überrascht, wie? Wenn ich es mir recht überlege, ist diese Itriri für dich vielleicht doch die passendere Gemahlin. Die andere würde dir nur auf dem Kopf herumtanzen, fürchte ich. Oder gib sie mir, damit ich sie in ein paar Nächten zähmen kann und sie dir danach eine gehorsame Frau ist.«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Merenre stirnrunzelnd. »Ich muss mich damit abfinden, dass meine Hauptfrau ein Kind sein wird und keine schöne Priesterin. Ich muss Itriri wählen, denn sie war für den Thronfolger vorgesehen.«

»Da du die Leute durch den Mord an ihm vor den Kopf gestoßen hast, solltest du das wohl tun.« Haikta-Ummar verneigte sich höhnisch. »Deine Götter seien mit dir, großer Horus, Beherrscher des Roten und Weißen Landes. Ich werde mir jetzt in diesem Palast eine schöne Unterkunft suchen. Mein Volk schlug abseits der Stadt mitten in der Wildnis ein Lager auf. Ich werde das nie verstehen! In meinem Herzen bin ich kein Aamu.«

Er machte auf der Ferse kehrt und stapfte mit weit ausholenden Schritten hinaus. Als hätte er einen Aamu-Häuptling in dessen Lehmhütte besucht! Merenre sprang auf, wütend über seine Unfähigkeit, ihn zurechtzuweisen, und trat durch die Säulenreihe hinaus in den Garten. Palmen rauschten im leichten Wind, betäubender Hennageruch hüllte ihn ein. Er musste einen Augenblick nachdenken, aber dann erinnerte er sich sehr schnell, wo die Gemächer der Königin waren. Abseits der papyrusumkränzten Teiche, wo die Frauen unermüdlich kicherten und zur Flötenmusik in die Hände klatschten, schritt er durch Meere von erblühten Frühlingsblumen. Bald hatte er den schmalen, gepflasterten Weg wiedergefunden, der sich durch die Beete schlängelte und zu einem kleinen Haus führte. Dunkel und schmucklos kauerte es in einer abgelegenen Ecke des Parks; nur ein schwaches Licht schimmerte durch die Vorhänge des Eingangs. Eine Katze rieb ihren Kopf am Türpfosten, bevor sie sich unter dem Vorhang hindurchschlich.

Die Wachen links und rechts der Tür zuckten zusammen, rührten sich jedoch nicht, als Merenre eintrat. Er sah sich im Licht der Binsenlampe um. Die Wandmalereien waren noch immer dieselben wie damals: Graugänse und Kraniche im Papyrusdickicht; Arbeiter schnitten den Papyrus. Auf einer Barke saß das königliche Paar, Neferkare-Pepi und Ipwet, zwei stolze Erscheinungen. Die Wirklichkeit sieht anders aus, dachte er, als er Ipwet entdeckte.

Die Königin kauerte auf ihrem Bett: eine müde Frau, noch nicht alt, aber ausgelaugt vom Leben in Prunk und Müßigkeit. Ihr Blick war leer, als sie den Kopf hob. Fast schien es ihm, als sähe sie ihn überhaupt nicht.

Er wusste nicht genau, was er mit ihr tun sollte. Sie konnte ihm nicht mehr gefährlich werden, zumal sie eine Frau war. Aber er hatte in ihrem Beisein ihren Sohn getötet. »Geh auf die Knie«, befahl er. Mit einem erstickten Laut rutschte sie über die Bettkante und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Eine Dienerin, die auf einer Binsenmatte geschlafen hatte, sprang erschrocken auf. Merenre wedelte mit der Hand, sodass sie hastig durch die rückwärtige Tür entschwand.

»Um wen trauerst du mehr?«, fragte er scharf. »Um den Sohn oder den uralten Mann, der dein eigener Großvater hätte sein können?« Ein ersticktes Schluchzen war die Antwort, und Merenre zuckte mit den Achseln. »Ich musste Neferkare-Tereru töten. Soll ich mich in Ruhe auf den Thron setzen, solange eine Natter im Palast herumkriecht, die mir irgendwann in den Fuß beißt? Das wirst du einsehen. Wie alt ist Itriri?«

»Zwölf Jahre«, wisperte Ipwet.

»Nun, immerhin. Wie viele Töchter hat Pepi denn noch gezeugt? Und hebe deinen Kopf, sonst verstehe ich dich nicht.«

Ipwet richtete sich auf. In ihrem bleichen Gesicht lag eine Spur von Hass. Vielleicht war es nicht klug, sie am Leben zu lassen. »Er war alt …« Sie hielt die Augen fest auf den Boden geheftet. »Es gibt nur eine Handvoll, und diese sind noch älter als ich.«

»Diese verknöcherten Frauen, die ich bereits im Totentempel sah? Was ist mit Neith?«

»Neith?«

»Ja, Neith! Denk endlich nach und reize mich nicht! Sie scheint eine Priesterin zu sein.« Als Ipwet nicht sofort antwortete, verlor er die Geduld. Wütend riss er sie hoch, stieß sie auf das Bett und beugte sich über sie. »Rede, wenn du nicht auf der Stelle sterben willst! Weshalb ist Neith so jung? Ist es meinem hochbetagten Vater wahrhaftig gelungen, noch Kinder zu zeugen? Oder hat man mich über ihre Herkunft nur belogen?«

»Nein, nein, sie ist wirklich eine Tochter von Osiris Neferkare«, wimmerte Ipwet und warf den Kopf hin und her. Merenre packte ihn, sodass sie ihn ansehen musste. Ihre Lippen zitterten, als müsse sie sich erst auf die Worte besinnen, und dann sprach sie schnell. »Ich weiß nicht mehr, wie ihre Mutter hieß. Sie war unbedeutend. Sie starb vor ein paar Jahren. Es starben so viele … Krankheiten … schlechtes Wasser … der Fluss steigt nicht mehr.«

»Das weiß ich. Die Götter haben ihre Augen von den beiden Ländern abgewendet.«

»Ja, das haben sie. Trotzdem hatte Osiris Neferkare im hohen Alter noch drei Kinder gezeugt, Neferkare-Tereru, Itriri und Neith. Er war so stolz auf meinen Sohn, dass er mich zur Königin machte und ihn zum Thronfolger. Es gab ohnehin keinen anderen. Aber Neith, das Kind der Nebenfrau, kümmerte ihn nicht.«

Merenre ließ sie los und richtete sich auf. Hart stieß er den Atem aus. »Wo ist Itriri? Lass sie holen.«

Ipwet warf sich auf die Seite und vergrub das Gesicht in den Decken. »Sie ist nicht hier. Sie ist … sie ist krank. Die Priester kümmern sich um sie … Bitte.«

»Was soll das?« Er packte sie an der Schulter. »Ich will sie sehen, und zwar jetzt.«

Ipwet hob abwehrend die Hand. »Es ist besser, wenn du noch wartest.«

»Warum? Ist sie so hässlich?«

Die Königin schwieg, und er verpasste ihr eine Ohrfeige. Sein zweiter Hieb war heftiger, und sie schrie auf. Doch er begriff, dass aus ihr nichts mehr herauszuholen war. Er stieß sie zurück und stapfte zur Tür. Warum musste ihm jeder alles so schwierig machen? Haikta-Ummar, diese plumpe Ipwet … und Neith, eine Priesterin. Aber dich mache ich schon noch etwas gefügiger, dachte er verärgert. Bei Hapis hängenden Brüsten! Bin ich denn nicht der Herr der Welt?

Merenre kehrte in den Garten zurück. Dieses dunkle Gebäude dort hinten, umrahmt von dichten Hennabüschen … Er erinnerte sich, es war das Frauenhaus. Schon damals hatten nur wenige Nebenfrauen die großzügigen Gemächer bevölkert. Allesamt waren sie alt gewesen, und hätte Neferkare-Pepi sich nicht im hohen Alter beweisen wollen, dass er noch Manneskraft besaß, gäbe es auch keine Neith. Merenre dachte flüchtig an seine eigene Mutter. Auch sie war längst tot, das wusste er.

Er rief Ipwets Dienerin zu sich. Sie wollte vor ihm knien, aber er hielt sie am Arm fest und deutete auf das Frauenhaus. »Geh hin und erkundige dich nach Neith und Itriri. Mag sein, dass Neith noch im Tempel ist, aber falls sie hier ist, soll sie sich im Garten einfinden. Beide sollen das, hörst du?«

Das Mädchen huschte den dunklen, gepflasterten Weg entlang. Er sah ihre fahl schimmernde Gestalt, wie sie kurz mit dem Hüter der Tür sprach und im Innern verschwand. Als sie wieder herauskam – allein –, musste er sich beherrschen, sie nicht anzuschreien.

»Man sagte mir, dass die Prinzessin Itriri krank sei«, flüsterte sie, den Kopf tief gesenkt. »Und die Herrin Neith ist gar nicht da. Sie halte sich nur selten im Frauenhaus auf, da sie auf dem Gelände des Tempels ein eigenes Gemach besitzt.«

»Ich ahnte es«, knirschte Merenre und wirbelte herum. Er stapfte zurück und schlug, ohne dass es ihm in seiner Wut bewusst war, den Weg zum Residenzhafen ein. Die nächtliche Kühle erfrischte seine Glieder, und der erdige Geruch des Wassers erinnerte ihn, wie so oft in den letzten Tagen, an lange zurückliegenden Zeiten. Ich bin jetzt Merenre, dachte er. Merenre, geliebt von Re, der Herr allen Lebens. Und ich werde mich von meiner Schwester nicht zum Narren halten lassen.

Die Steine des Kais unter seinen Sandalen strahlten noch Hitze aus. Nirgends brannte eine Fackel, dennoch erkannte er das schmale Band des Flusses, davor die dunklen Schatten der festgemachten Schiffe. Der Kai des Residenzhafens war klein; viele Barken mussten am unbefestigten Papyrusdickicht ankern. Merenre nahm sich ein kleines Binsenboot, löste das Tau und stieß sich ab.

Es ist unwürdig, dachte er, während er nordwärts ruderte. Sollte er nicht in einer königlichen Barke sitzen, über ihm das goldbeschlagene Dach einer Kajüte? Die karge Zeit bei den Aamu hatte seine Lebensweise geprägt, aber verachtet hatte er sie seit jeher. Niemals hatte er seine wahre Bestimmung vergessen.

Er wollte den Kanal entlangrudern, der zum Tempel führte. Er fand ihn schnell; er erinnerte sich sogar an den Namen des Kanals — Re ist schön —, aber das schmale Rinnsal darin machte es unmöglich, hineinzurudern. Schmutzig und trocken ragten die Seitenwände des Kanals zehn oder zwölf Ellen in die Höhe und dünsteten einen unangenehmen Geruch aus. An seiner Einmündung hatte man einen einfachen Anlegesteg errichtet. Dass Merenre nun den ganzen Weg zum Tempel zu Fuß zurücklegen musste, besserte seine Laune nicht. Er band den Nachen fest und lief am Kanal entlang, bis er auf die Umfassungsmauer stieß. Das Osttor war geschlossen. Am Westtor wollten ihn zwei Tempelwächter aufhalten. Am liebsten hätte er sie niedergeschlagen, statt mühselig zu erklären, wer er war. Schließlich wurde ein Diener geholt, dem er befahl, ihn zu Neith zu bringen.

Da er in seinem Ärger seinen Dolch gezückt hatte, waren die Schritte des Tempeldieners schnell. Zwischen den vier Lotosbündelsäulen der Sachmet-Kapelle brannten Lampen, sodass er die in Rot gehaltenen Malereien gut erkennen konnte. An diese Kapelle erinnerte er sich kaum, denn in der königlichen Familie hatten nur die wenigsten zu der strengen Löwengöttin gebetet. Doch das Amulett des Handwerkers Ptah, des Gottes der Weißen Mauer, trug Merenre noch immer; niemals hatte er sich den aamuritischen Gottheiten zugewendet.

Er öffnete die Zedernholztür. Ein junger Priester sprang zurück und kauerte sich in eine dunkle Ecke. Die Kapelle war klein; am anderen Ende stand die mit Vorhängen verhüllte Statue der Göttin, flankiert von kleinen goldenen Schreinen. Zwei Türen führten in dahinterliegende Kammern. Eine der Türen stand offen; Licht floss heraus. Merenre marschierte darauf zu. Und blieb auf der Schwelle abrupt stehen.

Er hatte nicht wirklich erwartet, Neith hier zu finden. Doch sie kauerte auf dem Boden. Eine alte Frau saß neben ihr, eine fast geleerte Schale auf dem Schoß. Mit glasigen Augen blickte Neith durch ihn hindurch. Die Alte runzelte die Stirn, als sie ihn bemerkte, erschrak aber nicht. Mit einer raschen Geste gebot sie ihm, sich nicht zu rühren, und unwillkürlich gehorchte er. Dann hielt sie die Schale an Neiths Lippen. Merenre hatte keine Ahnung, was es war, aber es musste sich um eine Droge handeln.

»Da du den Priester mit deiner Waffe verscheucht hast, mächtiger Horusfalke«, sagte die alte Frau plötzlich, »musst du mir helfen, sie aufzurichten.«

Merenre hörte leisen Spott heraus, dennoch schob er seinen Dolch zurück in die Gürtelscheide und hob Neith auf die Arme. Die Frau öffnete eine schmale Tür. Noch eine Kammer, so dicht an der Außenmauer? Sie war kaum drei Schritt lang und völlig leer, bis auf ein kupfernes Gefäß in der Ecke, aus dem Qualm drang. Die Luft roch nach Weihrauch und etwas anderem. Hier legte er Neith auf den Boden, und sofort drängte die Alte ihn, die Kammer zu verlassen.

»Was soll sie allein da drinnen?«, fragte er, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ihre Augen blitzten.

»Wie soll ich es dir erklären?«, gab die unverschämte Alte zurück. »Sie blickt in Sachmets Auge. Du hast keine Ahnung, was das bedeutet.«

»Weißt du überhaupt, wer ich bin?«, fuhr er sie an.

Sie lächelte. »O ja, du bist der Gott der beiden Länder, der Starke Stier, der Herr allen Lebens.«

»Dann weißt du sicherlich auch, dass ich als Pharao der Hohepriester aller Götter bin!«

Doch die Antwort war wieder nur ein überlegenes Lächeln. Er machte kehrt und verließ stapfenden Schrittes die Kapelle; die aamuritischen Zöpfe schlugen gegen seinen Rücken. Die Priester auf seinem Weg wichen erschrocken zurück. Außerhalb des Tempels stieß er einen mörderischen Schrei aus.

Es war Merenre gewesen, der sie in diese Kammer getragen hatte. Neith hatte ihn wahrgenommen, sein verblüfftes, kindliches Gesicht über der muskulösen Gestalt. Sie war bereits zu benommen gewesen, um sich über sein Erscheinen zu wundern; doch sie hatte es genossen, in seinen Armen zu liegen. Vergessen war Neferkare-Tererus Blut, das an seinen Händen klebte. Hätte ich doch nur etwas sagen können, dachte sie, während sie sich mühsam aufrichtete. Hätte ich ihm doch nur zeigen können, dass er mir nicht gleichgültig ist … Sie schüttelte den Kopf, was einen dumpfen Schmerz nach sich zog. Merit-Sachmet hatte ihr gesagt, was sich in der Schale befand, aber sie konnte sich nicht mehr darauf besinnen.

Sie fühlte sich wach. War dies die kleine Kammer, in der sonst all die Dinge lagerten, die für den Dienst an der Göttin gebraucht wurden? Die Kammer schien größer zu sein – nein, es war ein Korridor, der in jene Richtung führte, wo die Umfassungsmauer des Tempels sein musste. Neith machte schwankend einen Schritt, dann einen zweiten. Langsam ging sie vorwärts, einem schwachen Lichtschein am Ende des Korridors folgend.

Sie musste weit laufen. Konnte dieser Weg wirklich so lang sein? Oder lag sie in Wahrheit noch immer auf dem Boden und folgte einem Traum? Schemenhaft glitt etwas durch das Licht, groß und geschmeidig: eine Löwin, das heilige Tier der Sachmet. Als Neith den Ursprung des Lichts erreichte – Fackeln in ihren Wandhalterungen –, war die Löwin fort. Hier endete der Flur vor einer verschlossenen, mit Hieroglyphen bemalten Tür. Neith versuchte die Zeichen zu lesen; da schwang die Tür geräuschlos auf. Sollte sie hindurchtreten? Sie verspürte Angst. Doch sie war nicht hierhergekommen, um dann irgendwo haltzumachen. Entschlossen umklammerte sie den kleinen Löwinnenkopf, der an einer Lederschnur um ihren Hals hing, und betrat eine weihrauchduftende Kapelle. Es musste eine Kapelle sein, denn ein Vorhang verwehrte den Blick zur gegenüberliegenden Wand. Und plötzlich wusste sie, dass sich dahinter die Göttin verbarg.

Nur nach einer aufwendigen Reinigungszeremonie war es den Priestern gestattet, die Göttin anzublicken. Und nur die Erste Dienerin hätte es jetzt gewagt, Sachmet ins löwenköpfige Angesicht zu blicken. Merit-Sachmet, dachte Neith, weshalb hast du mich hierhergeschickt? Ich habe hier jetzt nichts verloren.

Nein, hast du nicht? Wer sagt das?

Ein Windstoß – woher konnte er kommen, hier in dieser fensterlosen Kammer? – bauschte den Vorhang und schob ihn zurück. Sie war so verwirrt, dass sie vergaß, sich auf den Boden zu werfen. Vor ihr erhob sich die löwenköpfige Göttin, ein Bildnis aus vergoldetem Zedernholz, das in den Händen das Ankh-Kreuz und das Was-Zepter hielt.

»Erhabene Sachmet«, murmelte Neith, »ich darf dich jetzt nicht ansehen.«

Das ist wahr, nur die Hohepriesterin darf mich jederzeit sehen. Aber ist der große Horus, der Bewahrer des Roten und Schwarzen Landes, nicht zugleich der Hohepriester aller Götter?

Das mag sein, dachte Neith, aber er ist ja gar nicht hier.

Wirklich nicht?

Nur ich bin hier.

Ein Lachen war die Antwort. Neith kehrte in den Korridor zurück. Doch er schien ein anderer zu sein, denn seine Wände waren mit Reliefs bedeckt. Uralte Kartuschen längst vergangener Horusfalken waren in den Stein gemeißelt. Neith ließ die Finger über die Hieroglyphen gleiten und betrachtete die dazwischen abgebildeten erhabenen Gestalten – die alten Götter der beiden Länder, die zahlreichen Osiris-Sterne vergangener Zeiten.

Horns Aha … Snofru … Khufu … Neferkare …

Unzählige waren versammelt. Ihr Vater stand in voller Größe vor ihr: ein Mann von dreißig Jahren, stark und schön, ein prächtiger Horusfalke. Und daneben Merenre. Ja, der massige Körper ähnelte ihm. Aber wer war die Frau an seiner Seite, mit der Weißen und Roten Krone auf dem Kopf? Sie war die letzte Gestalt in dieser Reihe.

Ein weiblicher Horusfalke?

Neith versuchte die verwitterten Kartuschen zu entziffern, aber es war unmöglich. Ihr wurde zunehmend übel, und die Zeichen und Bilder schienen im fahlen Licht zu tanzen. Dass sie zu Boden sank, wurde ihr erst bewusst, als sie einen scharfen Schmerz am Knie verspürte. Vorsichtig pflückte sie Tonscherben von der Haut. Die Scherben eines Gefäßes, mit einem Namen beschriftet. Neith erkannte es wieder; sie hatte es selbst zerbrochen. Doch mit welchem Namen hatte sie es beschriftet? Fahrig versuchte sie, die Scherben zusammenzufügen.

Lass es, dachte sie, es ist zu spät. Vorsichtig versuchte sie sich wieder aufzurichten; aber jetzt griffen ihre Hände in dicken Schlamm. Selbst ihre Beine versanken darin. Papyrusdickichte teilten sich vor ihr und gaben ein herrliches Bild frei, einen golden glänzenden Nil, bevölkert von Gänsen, Enten und Kranichen. Um sie herum bebauten Frauen das Land, säten Emmer und Gerste, tranken Bier und machten dabei fröhlichen Lärm. »Der Fluss steht in seiner Pracht, endlich wieder nach Jahren, dank sei dem Pharao!«, riefen sie und zeigten auf eine Prunkbarke, die auf dem Nil dahinschwebte.

Es war eine königliche Barke, festlich geschmückt wie zu einem der Götterfeste. Doch von der Besatzung war nichts zu sehen. Es schien, als sei die Frau unter dem Sonnensegel der einzige Mensch auf dem Schiff.

Sie saß auf einem zierlichen Stuhl, die Arme lässig auf die Lehnen gelegt, die Füße übereinandergeschlagen. Auf ihrem Kopf saß der Pschent, die in Rot und Weiß leuchtende Doppelkrone.

Die Bäuerinnen ließen sich auf die Knie nieder, als das Schiff an ihnen vorüberglitt. Neith wollte vor dem fremden weiblichen Horus ebenfalls knien, doch da wandte er ihr das Gesicht zu; Neith sah es, drehte sich jedoch weg. Sie wollte die Frau nicht ansehen. Sie wollte nicht wissen, wer sie war. Nicht jetzt.

Wo war der Tempel? Neith suchte, obschon sie wusste, dass sie sich in Wahrheit unmöglich am Nil befinden konnte, einen Weg, der zur Tempelanlage oder wenigstens zum Kanal Re ist schön führte. Angestrengt watete sie durch die aufgeweichte Erde, bis sie plötzlich auf festem Stein stand. Es war eine Rampe. Erleichtert rannte sie hinauf, doch es war ein Totentempel, der zu einer Pyramide gehörte. Neith fand sich in einer Menge von Trauernden wieder, die in den Tempel drängte. Totengesänge hallten von den düsteren Wänden wider. Priester umringten einen Sarkophag.

Es konnte sich nicht um den ihres Vaters handeln, denn diese überwältigende Trauer hatte sie bei dessen Tod nicht empfunden. Neith sank auf die Knie und weinte. »Ich habe dich geliebt«, hörte sie sich flüstern, ohne zu begreifen, wem der Sarkophag gehörte. Was war das für ein Wahnsinn? Eine Hand näherte sich ihrem Gesicht, und sie richtete sich auf. Es war Anubis, der schakalköpfige Beschützer der Mumien.

»Es ist jetzt nicht an der Zeit zu weinen«, sagte er sanft. Sie ergriff vertrauensvoll die dargebotene Hand. »Steh auf, Tochter des Re, und verlasse den Ort der Trauer. Siehst du nicht, dass alles ein einziges Durcheinander ist? Geschah der Beginn des Untergangs bereits vor Hunderten von Jahren? So wie die Jahre seit Hunderten von Jahren um eine Winzigkeit zu kurz sind, sodass das neue Jahr, wenn der Sepdet-Stern erscheint, nicht mehr im ersten Achet-Monat beginnt, sondern fünf Monate zu früh, am Ende des Peret? Alles ist aus den Fugen geraten. Gaufürsten, vom Pharao eingesetzt, sitzen sicherer in ihren Häusern als der Horus im Palast. Die Bauern müssen ihre Kinder verhungern lassen. Eine Priesterin tut so, als sei sie die Göttin Hathor und besteigt die Mumie des toten Horus.«

»Ja, das war ich«, erwiderte Neith verwirrt. Sie verstand kaum, was er da alles sagte. Mühselig stand sie auf, die Finger noch immer in seiner Hand.

»So, das warst du?« Er lächelte. In der Tat, die Schakalschnauze lächelte.

Neith nickte ergeben. »Willst du mir sagen, wie ich zurück in den Tempel des Ptah komme? Merit-Sachmet vermisst mich sicher längst.«

»Die Hohepriesterin Merit-Sachmet ist vor einigen Jahren gestorben. Am Tag deiner Krönung.«

Aufkeuchend entrang Neith ihm die Hand und hastete fort. Hinter sich hörte sie seine schwindende Stimme: »Die Göttin hat dir nicht alles gezeigt, dort in der Kammer, in der ihr Auge ist …« Sie wollte jedoch nichts mehr wissen. Sie rannte die Rampe hinunter, hinein in einen Garten. Blütenduft und heißes Sonnenlicht empfingen sie. Zwischen hohen Palmen breitete sie die Arme aus und begann zu tanzen. Sie tanzte Re zu Füßen, der mit sengenden Strahlen seine Tochter begrüßte. Und sie lachte. All die Gefühle, die sie zuvor verwirrt hatten, schmolzen unter den brennenden Strahlen ihres Vaters.

»Nur Horusfalken sind deine Söhne, Re!«, rief sie und lachte und weinte. »Hast du auch Töchter? Bin ich deine Tochter? Sieh her, ich tanze für dich!«

Herrin zweier Länder

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